Abstinent werden

Zehn Schritte, um vom Alkohol wegzukommen

Ein Erfahrungsratgeber für ein zufrieden abstinentes Leben
Entschließt sich ein Trinker, trocken zu werden und ab sofort abstinent zu leben, sind für diese Entscheidung erfahrungsgemäß einige vorgelagerte Schritte notwendig. Um dauerhaft und zufrieden trocken zu bleiben, müssen im Anschluss weitere Schritte eingeschlagen werden. Welche Schritte das konkret sind, hat Henning Hirsch in seinem im Februar 2022 im humboldt Verlag erschienenen Ratgeber Raus aus dem Rausch – Gebrauchsanweisung, um vom Alkohol wegzukommen in einem leicht verständlichen Zehn-Schritte-Programm dargestellt.

Raus aus dem Rausch
Februar 2022: Aktueller Erfahrungsratgeber mit 10-Schritte-Programm, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben.
abstinent werden

Es geht los mit grundlegenden Dingen:
Weshalb trinken wir?
Was ist ein Rausch?
Ab wann ist man Alkoholiker?

Dann folgen die zehn Schritte, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben:
Ich bin Alkoholiker – die Krankheitseinsicht
Entgiften, aber richtig
Alkohol-Therapie – ohne wird es schwieriger
Auf der Suche nach dem Urknall
Den Schalter im Kopf umlegen
Rückkehr in die raue Wirklichkeit
Unter Gleichgesinnten – Die Selbsthilfegruppe
Was triggert: wen, wann, wie, wo und warum?
Saufdruck noch nach Jahren?
Zufriedene Abstinenz

Weshalb trinken wir?

Gibt es ein Grundrecht, sich in den Orbit zu katapultieren?
Der Wunsch, sich zu berauschen, ist so alt wie die Menschheit und soll deshalb neben Essen, Trinken, Sex, eigenem Auto und Bausparvertrag als eines der elementaren Grundbedürfnisse unserer Spezies angesehen werden. Und keine Sorge – ich möchte Ihnen mit diesem Buch Ihren Rausch nicht vermiesen oder gar verbieten. 90 % der Primaten kommen mit ihren gelegentlichen Wochenend- und Weihnachtsfeierräuschen gut zurecht, müssen sich also ums Trockenwerden und abstinentes Leben keine ernsthaften Gedanken machen, und daran will auch niemand ernsthaft etwas ändern.

Gefährlich sind die Räusche jedoch für das Zehntel, das sich mit Feiertagsbenebelungen nicht zufriedengibt, sondern diesen Zustand immer wieder, und zwar in kurz getakteten Zeitabständen, erleben möchte. Die 10 % der Bevölkerung, welche die Bewusstseinsveränderung, die durch ihre bevorzugte Droge eintritt, als genauso normal ansehen wie die nüchterne Realität, werden eines Tages die ständige Flucht in ihre Fantasiewelt der mausgrauen Wirklichkeit vorziehen. Dieses Zehntel nennt man drogenaffin, man könnte es auch weniger wissenschaftlich als „gierig auf das Eintauchen in ihre rosarote Parallelwelt“ ausdrücken. Und für diese zehn Prozent wird es höchste Eisenbahn, sich mit Wegen, die in die Abstinenz führen, zu beschäftigen.

Was ist ein Rausch?

„Der Rausch bezeichnet einen emotionalen Zustand der Ekstase, der jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebt.“

Im vorliegenden Ratgeber konzentrieren wir uns auf Räusche, die aufgrund des Genusses psychotroper Substanzen, und hier nochmal eingegrenzt auf die Droge Alkohol, ausgelöst werden.

Die in psychotropen Substanzen enthaltenen Wirkstoffe verkürzen den Weg zum körpereigenen Belohnungssystem. Statt mühsam einen Marathon zu absolvieren, kann dieselbe Hochstimmung, die den Läufer nach Kilometer 42 durchflutet, ebenfalls mittels eines Viertelliters Cognac erzeugt werden. Die Droge, in diesem Fall der Alkohol, verkürzt nicht nur sporadisch den Weg, sondern führt des Weiteren zu Bequemlichkeit und zu dem Wunsch, sich diesen einfach herzustellenden Glücksmomenten öfter hinzugeben als von der Natur vorgesehen. Es fällt den Betroffenen nun immer schwerer, über einen längeren Zeitraum trocken zu bleiben.

Man unterscheidet grob in die drei Vernebelungsstufen: Schwips, leichter Rausch und Vollrausch.

Ab wann ist man Alkoholiker?

Nicht jeder, der täglich ein kleines Glas Weißwein zu seiner Pasta trinkt, ist gefährdet. Aber jeder, der die Droge dauerhaft funktional einsetzt, sollte sich Gedanken über seinen Konsum machen und weshalb es ihm so schwer fällt, ein paar Wochen lang trocken zu sein. Wobei ein paar Wochen trocken bleiben streng genommen bloß eine Trinkpause, und keine Abstinenz, bedeuten.

Als psychotrope Substanz verändert Alkohol unser Bewusstsein: sei es als Stimmungsaufheller, Enthemmer, Runterkommer, Vergessenschenker, Einschlafhilfe oder Aphrodisiakum. Solange wir ihn maßvoll und in zufällig getakteten Zeitabständen konsumieren, ist alles okay mit dem Stoff. Sobald wir allerdings damit beginnen, die Droge zu bestimmten Zwecken – und dann in der Konsequenz regelmäßig – einzusetzen, erreichen wir über kurz oder lang die kritische Schwelle vom Genuss- hin zum Gewohnheitstrinken und vorbei ist es mit längeren trockenen Zwischenperioden.

Der erste Wissenschaftler, der Alkoholismus zum Forschungsobjekt erhob, war in den 1930er-Jahren ein US-amerikanischer Physiologe: Elvin Morton Jellinek. Seine noch heute verbreitete Klassifikation unterscheidet Alkoholkranke in fünf Typen:

Der Alpha-Typ (Problemtrinker, Erleichterungstrinker) trinkt, um innere Spannungen und Konflikte (etwa Verzweiflung) zu beseitigen („Kummertrinker“). Die Menge hängt ab von der jeweiligen Stress-Situation. Hier besteht vor allem die Gefahr psychischer Abhängigkeit. Alphatrinker sind nicht alkoholkrank, aber gefährdet. Der Schritt hinüber zum Ständig-Trinker, für den trocken bleiben ein Fremdwort ist, ist dann unter Umständen nur noch ein kleiner.

Der Beta-Typ (Gelegenheitstrinker) trinkt bei sozialen Anlässen große Mengen, bleibt aber sozial und psychisch unauffällig. Betatrinker haben einen alkoholnahen Lebensstil. Negative gesundheitliche Folgen entstehen durch häufigen Alkoholkonsum. Sie sind weder körperlich noch psychisch abhängig, aber gefährdet und können – wie der Alpha-Typ – schnell in den Alkoholismus, fern jeder Trockenphase, abgleiten.

Der Gamma-Typ (Rauschtrinker, Alkoholiker) hat längere abstinente Phasen, die sich mit Phasen starker Berauschung abwechseln. Typisch ist der Kontrollverlust: Er kann nicht aufhören zu trinken, auch wenn er bereits das Gefühl hat, genug zu haben. Obwohl er sich wegen der Fähigkeit zu längeren Abstinenzphasen sicher fühlt, ist er alkoholkrank. Erfahrungsgemäß werden die Abstinenzphasen mit zunehmender Dauer des Missbrauchs kürzer, bis auch für diesen Typ ein trockenes Leben nur noch mit medizinisch-therapeutischer Unterstützung zu erreichen ist.

Der Delta-Typ (Pegeltrinker, Spiegeltrinker, Alkoholiker) ist bestrebt, seinen Alkoholkonsum im Tagesverlauf (auch nachts) möglichst gleichbleibend zu halten: daher auch der Begriff Spiegeltrinker (Blutalkoholkonzentration bzw. Blutalkoholspiegel sind konstant). Dabei kann es sich um vergleichbar geringe Konzentrationen handeln, diese steigen jedoch im Verlauf der fortschreitenden Krankheit
und der damit sich erhöhenden Alkoholtoleranz meist an. Der Abhängige bleibt lange sozial unauffällig („funktionierender Alkoholiker“), weil er selten erkennbar betrunken ist. Dennoch besteht starke körperliche Abhängigkeit. Er muss 24/7 Alkohol trinken, um Entzugssymptome zu vermeiden. Durch den ständigen Konsum entstehen körperliche Folgeschäden. Deltatrinker sind nicht abstinenzfähig und alkoholkrank. Es gibt keinerlei Trockenphasen mehr, abstinentes Leben ist für diesen Typ nicht vorstellbar.

Der Epsilon-Typ (Dipsomane, Quartalstrinker, Alkoholiker) erlebt in unregelmäßigen Intervallen Phasen exzessiven Alkoholkonsums mit Kontrollverlust, die Tage oder Wochen dauern können. Dazwischen kann er monatelang abstinent bleiben. Epsilon-Trinker sind alkoholkrank und müssen sich, um zu gesunden, professionelle Abstinent-werden-Hilfe suchen.

Gemäß der WHO ist Alkoholabhängigkeit als psychische Erkrankung vor allem durch folgende Phänomene charakterisiert: Suchtdruck, Vernachlässigung von allem, was nichts mit der Droge zu tun hat, Toleranzentwicklung/Dosissteigerung, Kontrollverlust sowie Entzugserscheinungen.

Kontrollverlust: Hiermit ist nicht der einmalige Verlust an Kontrolle gemeint. Die Wissenschaft beschreibt das traurige Phänomen so: Der Betroffene ist nicht mehr in der Lage, eigenständig über Trinkbeginn, Menge und Ende entscheiden. Vorher selbst gebastelte und mühsam aufrecht erhaltene Konsummuster (kein Bier vor vier, kein Schnaps in der Werkwoche) können plötzlich nicht mehr eingehalten werden. Der Süchtige tritt in das Stadium ein, in dem er seinen Konsum grundsätzlich nicht mehr steuern kann. Der Abhängige benötigt den Stoff nun rund um die Uhr. In der Extremvariante bedeutet Kontrollverlust Trinken bis zum Umfallen. Hardcoresäufer müssen deshalb häufig den Umweg über die Intensivstation nehmen, bevor sie von dort weiter in die Entzugsklinik verwiesen werden. Es gilt die harte Regel: einmal Kontrollverlust erlitten → Genusstrinken wird nie mehr möglich sein. Sobald ein Süchtiger diese Schwelle überschreitet, ist Alkoholismus irreversibel. Von nun an gibt es keinen Weg zurück zum normalen Konsum. Der Ausweg besteht nun einzig aus der dauerhaften Abstinenz. Wer in diesem Stadium bloß gewillt ist, kurze Trockenphasen einzulegen, wird scheitern, im Extremfall früh sterben.

Wer Alkoholiker ist und wer nicht, darüber streiten die Fachleute. Geht es um quantitative Mengen oder kontinuierlichen Konsum? Um nun nicht jeden, der fünfmal in der Woche mittags zu seinen Spaghetti aglio e olio ein zur Hälfte mit Wasser verdünntes Glas Frascati zu sich nimmt, in die Kategorie der hoffnungslosen Fälle einzusortieren, sei hier folgende Charakterisierung des Alkoholikers gewählt:
• Er/sie trinkt regelmäßig,
• und zwar Mengen, welche die WHO als gefährlich einstuft.
• Das praktiziert er über einen längeren Zeitraum.
• Er verspürt oft Suchtdruck.
• Er setzt die Droge gezielt ein.
• Unwohlsein und Zittern stellen sich ein, falls Alkohol nicht rechtzeitig bereitsteht.
• Denken und Tagesablauf werden von der Droge bestimmt.

Trocken werden und abstinent leben sind für diese Menschen erst mal nur ein Fernziel, zu dessen Erreichen viel Vorarbeit geleistet werden muss.

Raus aus dem Rausch
Februar 2022: Aktueller Erfahrungsratgeber mit 10-Schritte-Programm, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben.
Alkoholiker abstinent werden

Ich bin Alkoholiker – die Krankheitseinsicht

Hier geht es sofort mit etwas sehr Schwierigem los, nämlich sich einzugestehen, dass man seit vielen Jahren ein massives Problem mit seinem Alkoholkonsum hat, das ohne Hinzuziehung von fachlich geschultem Personal alleine nicht mehr lösbar ist. Auf sich alleine gestellt kann der Betroffene nicht abstinent werden.

Weshalb ist es so dermaßen schwierig, sich selbst einzugestehen, dass man ein massives Alkoholproblem hat? Die Gründe für die Abwehrhaltung sind mannigfaltig: falscher Stolz, diese Schwäche zuzugeben, Sorge, von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden, Angst vor finanziellem Abstieg, die irrige Annahme, man habe alles unter Kontrolle, keine Lust, sich dem Problem zu stellen (denn dass Therapie, trocken werden und Abstinenz kein Zuckerschlecken sind, ahnen die meisten), die Party so lange weiterfeiern wollen, wie es halt irgendwie möglich ist, Widerspenstigkeit: Warum muss ich mit etwas aufhören, was alle anderen um mich herum tun dürfen? Weshalb sagt denen denn keiner, dass sie zu viel trinken? Warum immer nur ich? Sehe ich überhaupt nicht ein.

Die Erkenntnis, dass man ein Süchtiger ist, ist nicht gleichbedeutend mit der Lösung des Problems. Wenn es so einfach wäre, läge die Rückfallquote nicht so hoch und gäbe es deutlich mehr dauerhaft trocken bleibende Alkoholiker. Allerdings sind sämtliche nachfolgenden Schritte von vornherein vergeblich, solange sich der Betroffene seine irreversible Abhängigkeit nicht eingesteht.

Begreifen, dass ohne Selbsterkenntnis keine Genesung i.S.v. zufriedener Abstinenz möglich ist.

Entgiften, aber richtig

Vor der schrittweisen Genesung wird bei vielen Alkoholikern erst mal ein qualifizierter Entzug notwendig: in einer Klinik das Gift aus Körper und Geist rausschwitzen, unter medizinischer Beobachtung ein paar Tage lang trocken gelegt werden, um endlich wieder halbwegs klar denken zu können.

An welchen Symptomen leidet der Alkoholiker, sobald der Spiegel unter seinen Wohlfühlpegel absinkt? Als Erstes wäre das Zittern der Hände zu nennen – im Fachjargon Tremor genannt –, das überhaupt nicht mehr aufhören will. Die Glieder sind bleischwer, der Körper ist matt und fühlt sich an, als sei man nachts unter eine Dampfwalze geraten. Unter der Schädeldecke rumort es, zehntausend Ideensplitter fliegen unsortiert hin und her. Der Herzschlag oszilliert munter zwischen 100 und 200, Schweiß bricht aus, Hemd und Hose kleben am Körper, beim Aufstehen hat man das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Jeder, der ein Alkoholproblem hat, kennt diesen miserablen Zustand. Als Heilmittel gegen die Folgen von zu viel Alkohol wird neuer Alkohol eingesetzt. Das Monster ernährt sich aus sich selbst heraus. Selbst minutenlanges Trockenbleiben ist jetzt nicht mehr möglich. Eine ständig exzessiver werdende Betäubungsorgie, an deren Ende Krankenhaus und Friedhof auf den Säufer warten.

Wer sich auf dieser Stufe der Alkoholleiter befindet, kommt selbstständig nicht mehr aus dem Dauerrauschzustand raus. Den Patienten bringen jetzt nur noch eine Pulle Schnaps oder die Einweisung in einen klinischen Entzug wieder auf die Beine.

In der Klinik – das kann die Innere Abteilung eines somatischen Krankenhauses oder die geschlossene Station einer Psychiatrie sein – wird der Trinker erst mal von 3,0 runter auf 1,0 oder 0,5 Promille gefahren, bevor die ersten Pillen verabreicht werden. Als Entzugsmedikamente werden von den Aufnahmeärzten zumeist verschrieben: Distraneurin/Clomethiazol (ein starkes Sedativum) oder Benzodiazepine (Rivotril, Diazepam). Da diese Pillen nicht nur schmerzfrei und glücklich, sondern ebenfalls schnell abhängig machen, müssen sie im Beisein der Pfleger eingeworfen werden. Zusätzlich zu den Beruhigungspillen werden dem entgiftenden Alkoholiker Elektrolytlösungen, Magnesium, Vitamin B und – falls der Herzschlag völlig aus dem Rhythmus geraten ist – Betablocker verschrieben.

Die Pillenzuteilung erfolgt retrograd degressiv, im Fachjargon: Sie wird runterdosiert. Gestartet wird mit einer hohen Tagesdosis, beispielsweise 20 Stück. Alle zwei Stunden gibt’s zwei Pillen, man wird dafür sogar mitten in der Nacht geweckt. Jeden Tag wird sie um zwei reduziert. Wer rechnen kann, kommt in unserem Beispiel auf zehn Tage, bis der sogenannte Nulltag erreicht ist, an dem der Patient entscheiden muss, ob er weitergehende Schritte auf dem Marsch in sein abstinentes Leben, einschlagen will.

Akzeptieren, dass ohne professionellen Entzug nichts mehr geht und ein zweiwöchiger Aufenthalt in einer Klinik vernünftiger ist, als sich zu Hause langsam zu Tode zu trinken.

Alkohol-Therapie – ohne wird es schwieriger

In der Reha wird dem ausstiegswilligen Trinker das Handwerkszeug gereicht, das er von nun an benötigt, um bis zum Lebensende erfolgreich an seinem Abstinenzentschluss feilen zu können. Wer in der Gruppentherapie gut zuhört, lernt hier eine Menge. Und sogar die Ergo kann manchmal Spaß machen.

„Ohne Therapie geht es nicht. Nur eine Entgiftung bringt überhaupt nichts.“ Diesen Satz werden Sie als (eventuell) ausstiegswilliger Trinker oft zu hören bekommen. Wie das mit solchen Weisheiten so ist: Zu 80 % stimmen sie, das restliche Fünftel ist Ansichtssache. Ich kenne Alkoholiker, denen der Ausstieg bzw. der Einstieg in ein trockenes Leben ohne Therapie gelungen ist, und ich kenne Säufer, die es trotz eines halben Dutzends Reha-Versuchen nicht geschafft haben. Und es gibt natürlich noch die dritte Gruppe, die den medizinisch-korrekten Weg Entgiftung – Therapie – Selbsthilfegruppe beschreitet und so in die (hoffentlich) glückliche Abstinenz findet.

Allerdings ist es schon sinnvoll – falls einem die Gnade der plötzlichen Spontanheilung nicht zuteil wird, sich noch aus dem stationären Entzug heraus um einen Platz in einer auf Suchtfragen spezialisierten Reha-Einrichtung zu bewerben. Von diesen Sanatorien gibt es in Deutschland ca. 180, die kreuz und quer über die Republik verteilt sind. Die Aufenthaltsdauer variiert von acht Wochen über drei bis hin zu vier Monaten, in Abhängigkeit von Krankheitsbild, Empfehlungsschreiben des einweisenden Arztes und Tageslaune des bewilligenden Sachbearbeiters. Das Ziel ist bei allen Kliniken, unabhängig davon, wie lange der Betroffene dort verweilt, dasselbe: Der Start in ein neues, abstinentes Leben.

Die Patienten verpflichten sich zu regelmäßiger Teilnahme an der Gruppentherapie (vereinnahmt täglich mehrere Stunden), Einzelsitzungen beim Psychologen (seltener, zumeist einmal pro Woche), Sport (von den einen geliebt, von den anderen gehasst), sowie Ergotherapie (malen, töpfern, Specksteine in die Venus von Milo verwandeln, mit Fingerfarben rumpanschen etc.).

Bei der Gruppentherapie versteht die Klinikleitung keinen Spaß. Die ist ein Muss. Und das ist auch nicht verkehrt, denn in den Gruppensitzungen wird dem Problem Ihres exzessiven Saufens penibel auf den Grund gegangen. Wer hier nicht aktiv mitmacht – dessen Chancen auf ein abstinentes Leben fallen erfahrungsgemäß geringer aus als bei den Patienten, die die Sache ernstnehmen.

Dadurch, dass die Therapieeinheiten täglich mehrere Stunden lang stattfinden, sind die Teilnehmer gezwungen, sich – wenn es gut läuft – so weit zu offenbaren, dass sie Stück für Stück die Auslöser ihres selbstmörderischen Verhaltens erkennen und begreifen lernen.

Der Besuch einer Reha-Maßnahme – gleich ob stationär oder ambulant – ist vernünftig, jedoch nicht zwingend notwendig, um vom Alkohol wegzukommen. Je länger man allerdings bereits an der Flasche hing, desto sinnvoller ist es, für drei, vier Monate in einem geschützten Raum Abstand zur Droge zu finden. Von der Entgiftung direkt zurück ins pralle (und in Zukunft abstinente) Leben klappt nur bei einigen wenigen. Für die meisten Abhängigen gilt: Werde dir in der Therapie klar darüber, weshalb du in den vergangenen Jahren wie ein Loch gesoffen hast. Lerne die individuellen Auslöser für dein selbstzerstörerisches Handeln kennen und entwickle im Gespräch mit anderen Teilnehmern und Psychologen kluge und praktikable Abwehrmechanismen, um im Anschluss gut gewappnet in ein neues abstinentes Leben aufbrechen zu können.

Sorgfältig abwägen, ob eine Therapie in Frage kommt. Im Zweifelsfall lieber in die Reha, als es auf eigene Faust probieren: Die Wahrscheinlichkeit des längeren Trockenbleibens steigt durch die Langzeit-Maßnahme von 20 auf 50 % an.

Auf der Suche nach dem Urknall

Hier wird aufgezeigt, was Gründe und was Auslöser sind und weshalb es vor allem wichtig ist, die Zweitgenannten zu kennen.

Wir gelangen nun an einen essenziellen Punkt auf Ihrem steinigen Marsch in die Abstinenz: die ungeschminkte Selbstanalyse. Ohne die ist alles andere zwecklos. Wer nicht willens ist, sich selbst ehrlich zu analysieren, der wird auf dem Marsch ins trockene Leben scheitern.

Hatten wir am Anfang Probleme und haben deshalb gesoffen, oder haben wir zuerst getrunken und wurden Jahre später mit plötzlich unlösbar erscheinenden Schwierigkeiten konfrontiert? Klingt ähnlich wie die Frage nach der Henne und dem Ei, ist jedoch im Unterschied zur Genese des Federviehs beantwortbar: In der überwiegenden Mehrzahl der Alkoholikerschicksale stand die Flasche am Beginn der Säuferkarriere.

Die drei Hauptgründe fürs Saufen heißen: Gene, Sozialisation und schlechte Angewohnheit. Alles andere, was man in den Gruppentherapiestunden zu hören bekommt, sind großenteils Nebelkerzen, die den Ausstieg eher erschweren als erleichtern. Niemand wird trocken, weil er ständig neue Gründe und Entschuldigungen für sein Trinkverhalten erfindet.

Nachdem wir das mit den Gründen abgehakt haben, kommen wir nun zu den Auslösern. Auslöser sind etwas anderes als Gründe? Jetzt betreiben Sie aber begriffliche Haarspalterei, Herr Autor. Nein, es ist keine Haarspalterei, sondern überlebenswichtig für den ausstiegswilligen Säufer, die ganz konkreten Auslöser seines exzessiven Trinkverhaltens zu lokalisieren.

Risikotrinker – die bilden die Vorhut beim Marsch in den irreversiblen Alkoholismus – verfolgen Zwecke, wenn sie sich in den abendlichen Rauschzustand versetzen. Das mag anfangs ganz banal der ruhige Schlaf sein. Der Stoff wird des Weiteren eingesetzt, um sich nach – später ebenfalls: vor – kritischen Situationen zu beruhigen. Er dient als Stimmungsaufheller, Vergessenfinder, Enthemmer, Libidoverstärker, um cooler zu wirken, als man es als durchschnittliche mitteleuropäische Kartoffel nüchtern normalerweise ist. Ich habe das Zeug lange Zeit verwendet wie Viagra, ohne im Entferntesten zu ahnen, dass Viagra jemals erfunden werden würde. Bis zwei Promille sind Bier und Wodka vor und beim Sex auch ganz hilfreich.

In der obigen Aufzählung – die natürlich nicht vollständig ist – sollen Sie Ihre individuellen Auslöser identifizieren, um zu verstehen, in welcher Situation Sie hauptsächlich zur Flasche greifen. Falls Sie sich, ohne vorher zwei Wassergläser Rum-Cola auf ex runterzukippen, nicht unter Leute trauen – voilà: Da wäre schon mal ein Auslöser. Versagensängste im Bett? Triebfeder Nummer zwei gefunden. Am Ende sind es doch eh alle oben genannten Auslöser, wenden Sie ein? Das stimmt. Am Ende greift man ebenfalls zur Flasche, wenn das Wetter am Nachmittag nicht so ist, wie man es sich morgens gewünscht hat. Am Ende säuft man aber sowieso rund um die Uhr. Am Anfang jedoch gab’s einen (Ur-)Auslöser, vielleicht zwei. Und den/die müssen Sie lokalisieren.

So lange Ihnen das nicht gelingt, werden Sie nach absolvierter Reha mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem Moment, in dem Sie mit dieser Situation erneut konfrontiert werden, ihr schutz- und machtlos ausgeliefert sein. Aufgrund grob fahrlässiger Unkenntnis eines Hochrisikogebiets, die wiederum zum Rückfall und zum Verlassen des Pfads des Trocken-werdens führen kann. Der Urgrund des Suffs ist der Alkohol selber. Mobbing, Liebeskummer, Konkurs, Hartz IV sind hingegen Auslöser, die den bereits riskanten Konsum plötzlich in ein 24/7-Dauerverlangen nach der Droge steigern mit der Konsequenz, dass die Stufe des Kontrollverlusts erreicht und die Grenzlinie zur krankhaften Abhängigkeit endgültig überschritten werden.

Sie müssen also Ihre Auslöser kennen und offen drüber sprechen. Das ist ehrliche Ursachenforschung und ein im Anschluss vernünftiger Umgang mit dem auslösenden Moment. Menschen, die es schaffen, eine Aufgabe, zu deren Bewältigung sie jahrzehntelang Alkohol einsetzten, nun zufriedenstellend ohne Zuhilfenahme einer Droge zu meistern, durchleben mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zufriedene Abstinenz.

Sie haben jetzt verstanden, wie man es anstellt, die konkreten Auslöser des eigenen Trinkverhaltens zu lokalisieren. Sie entwickeln im Anschluss einen Überlebensplan, mit dessen Hilfe Sie gefährliche Situationen frühzeitig erkennen und zu umgehen lernen.

Raus aus dem Rausch
Februar 2022: Aktueller Erfahrungsratgeber mit 10-Schritte-Programm, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben.
Abstinenz

Den Schalter im Kopf umlegen

Über den Zweck therapeutischer Vorarbeit und die Bedeutung, den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg zu erkennen und zu ergreifen.

Alles, was der Erkrankte bisher getan hat, geschah unter Zuhilfenahme des Stoffs: Er schläft unter Alkoholeinfluss, beruhigt sich mit Whisky, bringt sich mit Jägermeister in Schwung, kippt vor dem Sex vier Cola-Rum, fühlt sich in Gesellschaft bloß noch über zwei Promille wohl, trinkt abends zur RTL2-Reality-Show einen halben Kasten Bitburger. Die letzte Bastion bildet das Büro. Sobald auch dort der Flachmann immer griffbereit unterm Schreibtisch bereitsteht, bestimmen der Alk und dessen Beschaffung den Tagesrhythmus, aus dem er nun nicht mehr wegzudenken ist. Jede Aktivität ist davon durchdrungen. Das Leben unter Dauerstrom wird als Normalzustand angesehen. Trocken bleiben ist nicht mehr möglich. Das heißt im Umkehrschluss: Der Einstieg in die Abstinenz bedeutet die Entkopplung all dieser Aktivitäten vom Alkohol.

Dem Ausstiegsentschluss voran geht eine Kosten-Nutzen-Analyse. Der Nutzen liegt im Abgleiten in ein rosarotes Paralleluniversum; die Kosten hingegen bestehen einerseits im körperlichen Raubbau und andererseits im stetigen sozialen Abstieg.

Das Erkennen des Ausstiegsfensters scheint vordergründig Glückssache zu sein. Der berühmte Aha-Moment, die noch berühmtere Sekunde, in der der Schalter endlich umgelegt wird. Manche spüren – und nutzen! – ihn, andere bemerken ihn zwar, nutzen die Möglichkeit jedoch nicht, und die Dritten spüren nie was. Man könnte die Sache also in die Rubrik „Glück“ oder „göttliche Fügung“ einsortieren. Das lapidare Schulterzucken würde der Angelegenheit allerdings nicht gerecht werden. Denn in 95 % der Fälle arbeitet der Süchtige im Vorfeld viele Monate bis hin zu Jahren auf diesen einen Moment des Absprungs in das abstinente Leben hin. Es kommt nur äußerst selten vor, dass jemand ohne vorherige Therapie den Ausstieg schafft. Je länger die Saufstrecke dauert, desto unwahrscheinlicher ist es, sich ohne fremde Hilfe und psychologisches Handwerkszeug aus dem Alkoholsumpf zu befreien.

Den Schalter umlegen mag vielen wie reines Glück oder Gottes einsame Entscheidung erscheinen. Die Wahrheit ist aber, dass es sich in den meisten Fällen um eine langwierig mühsam erarbeitete Chance handelt, die man natürlich, sobald sie sich einem bietet, auch beherzt nutzen muss. Viel mehr verbirgt sich eigentlich nicht hinter dem geheimnisvollen Schalter, wenngleich der Weg dorthin oft ein sehr dornenreicher ist.

Wir haben nun gelernt – der geheimnisvolle Schalter besteht aus drei Bauteilen:
1. Kosten-Nutzen-Analyse
2. den Moment, in dem sich die Ausgangstür öffnet, erkennen und beherzt durchschreiten
3. willens sein, den Alkohol aus sämtlichen Lebensbereichen (am Ende war das 24/7) zu entfernen, in denen wir ihn bisher eingesetzt haben.

Sobald der richtige Moment naht, muss er konsequent genutzt werden. Andernfalls wird es nicht klappen mit dem Einstieg in die Abstinenz.

Rückkehr in die raue Wirklichkeit

Auf die frischgebackenen Abstinenzler warten entweder der harte Büroalltag beim bisherigen Arbeitgeber oder das mühsame Zurückkämpfen ins Berufsleben. Auf jeden Fall müssen die Zähne zusammengebissen und dem misstrauischen Umfeld bewiesen werden, dass man wieder einsatzbereit und belastbar ist.

Ein Grund, weshalb viele Trinker nicht wieder in die Erfolgsspur finden, besteht darin, dass ihnen der Weg zurück entweder komplett verbaut ist oder als zu mühsam erscheint. Wer sich jahrelang aus dem bürgerlichen Leben ausgeklinkt hatte, der wird von Familie, Freunden und ehemaligen Kollegen nicht mit offenen Armen empfangen. Die Rückkehr in Beruf und Normalität muss erarbeitet werden. Das Umfeld will sehen, wie ernst die Abstinenz gemeint ist und über welches Belastbarkeitslevel der Kandidat verfügt.

Am Anfang warten oft einfache Tätigkeiten in Callcentern, in der Markt- und Meinungsforschung, als Kurierfahrer (falls der Führerschein noch vorhanden ist) oder als Ein-Euro-Jobber in karitativen Einrichtungen.

Wer sich beispielsweise auf Marktforschung am Telefon einlässt, muss bereit sein, sich als Pseudo-Selbstständiger bei einem Institut zu verdingen, das einen lausigen Stundenlohn zuzüglich variabler Erfolgsprämie pro durchgeführtem Interview bezahlt. Monatliche Rechnung, der Mikro-Freiberufler darf für sämtliche Sozialleistungen zu 100 % selbst aufkommen.

Was halten Sie von freiberuflichem Vertrieb, körperlicher Beschäftigung (die ist bei den meisten Trinkern in den vergangenen Jahren eh sträflich vernachlässigt worden) im Baugewerbe oder Meinungsumfragen mit Telefon- und Straßeninterviews? Nutzen Sie private Netzwerke. Vielleicht kennt irgendein Bekannter irgendjemanden, der temporär dringend eine Urlaubsvertretung für Sortiertätigkeiten im Zentrallager sucht.

Es hilft nichts: Wer erfolgreich – im Sinne von zufrieden – abstinent leben will, kommt um diesen Schritt nicht herum. Bei mir hat es nach zwei Jahren lausiger Entlohnung in einem Callcenter geklappt, und ich fand eine besser bezahlte Stelle mit Perspektive. Weshalb also sollte es ausgerechnet bei Ihnen nicht funktionieren?

Trocken bleiben hat viel mit Struktur und Beschäftigung zu tun.

Unter Gleichgesinnten – Die Selbsthilfegruppe

Selbsthilfegruppen sind – vor allem zu Beginn der Abstinenz – der Garant dafür, die ersten superschwierigen Monate trocken zu bleiben. Welche Sie besuchen, ist egal. Hauptsache, Sie besuchen eine.

Wer dauerhaft trocken bleiben möchte, kommt um den Besuch einer SHG nicht herum.

Speziell am Beginn der Abstinenz ist es wichtig, sich beständig mit Gleichgesinnten auszutauschen, sich in der Gruppe mitzuteilen, zu öffnen, zu berichten, weshalb der Alkoholkonsum derart aus dem Ruder gelaufen ist, ehrlich zu sein und sich an Kritik zu gewöhnen. Man kann den anderen Teilnehmern nahezu alles beichten, sie hören geduldig zu, geben Tipps, wie man die zwischendurch immer wieder auftretenden Phasen des Saufdrucks überstehen kann, vertrauen dir ihre Telefonnummern an, damit du sie anrufst und redest, anstatt deprimiert zur Flasche zu greifen.

Der Grundgedanke lautet: Hilfe zur Selbsthilfe. Die Mitglieder schildern ihren Alltag, erzählen von ihren Sorgen und Erfolgen. Sie ermuntern sich gegenseitig, in dem Bemühen um Abstinenz nicht nachzulassen. Jeder spricht nur über sich, Zuhören ist wichtig, Vertraulichkeit wird garantiert. In vielen Gruppen gibt es Paten, die sich um die Neuankömmlinge kümmern. Die kann man, wenn man Saufdruck verspürt, auch mitten in der Nacht anrufen und so lange mit ihnen quatschen, bis man sich wieder beruhigt hat. Ohne Scheu und Hemmungen, denn die Paten haben das alles selbst erlebt. Hier unterstützen Praktiker den Praktiker beim dauerhaften Trockenbleiben.

Selbsthilfe für Suchtkranke wird von mehreren Organisationen angeboten. Die bekanntesten heißen: Kreuzbund, Blaues Kreuz, Guttempler, Diakonie, Freundeskreise und Anonyme Alkoholiker (AA). Einen Sonderfall stellt die therapeutische Gruppe (TG) dar, die von einem Psychologen geleitet wird. Insgesamt gibt es rund 7000 Gruppen mit geschätzt zwischen 80000 und 100000 regelmäßigen Besuchern in Deutschland. Die Treffen dauern zumeist 90 bis 120 Minuten, maximal drei Stunden.

Jeder Neuling sollte ein paar SHGs testen, bevor er sich für die für ihn am besten geeignete entscheidet.

Selbsthilfegruppen sind – vor allem zu Beginn der Abstinenz – DER Garant dafür, die ersten superschwierigen Monate trocken zu bleiben. Welche Sie besuchen, ist egal. Hauptsache, Sie besuchen eine.

Was triggert: wen, wann, wie, wo und warum?

Vorsicht ist eine Tugend. Speziell für trockene Alkoholiker. Allerdings triggert nicht jede potenzielle Gefahr bei jedem Ex-Trinker gleichmäßig stark. Was geht, und vor allem, was geht nicht?

„Trigger“ bedeutet übersetzt „Auslöser“. Also der Schlüsselreiz, der einen Menschen dazu animiert, zur Flasche zu greifen. Der Auslöser schnappt im mentalen Bereich zu. Soll heißen: Ein Rückfall geschieht in den meisten Fällen deshalb, weil der (vorher eine Zeit lang enthaltsame) Alkoholiker etwas sieht, riecht, erlebt, das ihn zwanghaft dazu treibt, beim Italiener, wo er gerade eine Pizza Funghi zuzüglich Mineralwasser medium gassata verzehrt, plötzlich wie von einem bösen Geist ferngesteuert ein Glas Valpolicella Classico zu bestellen und in zwei Zügen zu leeren.

Weil der Trigger der Vater aller Rückfälle ist, entbrennen in den Alkohol-Foren häufig Glaubenskriege darüber, was geht und was nicht geht. Hierbei sind vereinfacht betrachtet drei Lager zu unterscheiden:
A. Die Strengen
Kein Tropfen und kein Nanogramm Alkohol darf dem abstinenten Körper zugeführt werden. Weder in flüssiger noch in fester Form (beispielsweise in Torten oder Pralinen). Auch Speisen, in denen mit Alkoholaromen hantiert wird, sind unbedingt zu meiden. Mundwasser, in dem vereinzelte Spritzer Alkohol enthalten sind, ist Teufelswerk. Dabei ist völlig gleichgültig, ob sich der (trockene) Alkoholiker
die Minimaldosis mit voller Absicht oder versehentlich zugeführt hat. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung führen täglich einen Kampf ums Trockenbleiben.
B. Die Verharmloser
Alkohol ist Teil unserer Trinkkultur, bekommt man hier zu hören. Nur, weil ich ein Problem damit habe, kann ich ja schlecht allen anderen, die mit dem Stoff gut zurechtkommen, die Freude daran verderben. Zudem ist mein Problem mit Alkohol gar nicht so groß. Ich kann mir durchaus hin und wieder ein Gläschen genehmigen, ohne dass bei mir die Gefahr besteht, die Angelegenheit liefe aus
dem Ruder. Auf runden Geburtstagen und auf Betriebsfeiern lasse ich mir deshalb ein Glas Sekt schmecken. Ich will schließlich nicht als Spaßbremse dastehen. Für diese Gruppe besteht natürlich ständig die Gefahr, dass sie das Gelübde der Abstinenz brechen und einen Rückfall erleiden.
C. Diejenigen, die zwischen A. und B. oszillieren
Das ist das meiner Beobachtung nach größte der drei Lager. Alkoholiker, die nicht bei jedem Bissen in ein Stück Torte oder beim Lecken an einer Kugel Amaretto-Eis einen Nervenzusammenbruch bekommen, die nicht jede Packungsbeilage eines Fertiggerichts akribisch nach Nanogrammspuren Ethanol absuchen, die auch mal ein Mundwasser mit Alkohol benutzen und im Supermarkt durch die Spirituosenabteilung spazieren können, ohne direkt im Anschluss an die böse Tat den Rückfall vor Augen zu sehen. Ein nicht so verbissener Umgang mit der Abstinenz wie bei A. bei trotzdem gleichzeitig deutlich mehr Vorsicht beim Trockenbleiben als bei B.

Jeder trockene Alkoholiker muss für sich selbst entscheiden, was geht und was zu stark triggert. Wobei diese Dinge nicht starr sind. Was ich zu Anfang meiner Abstinenz nicht ertragen konnte (z. B. Schnapsregale im Supermarkt, Betriebsfeiern nach Mitternacht), kann ich heute ohne mit der Wimper zu zucken meistern.

Man muss jedoch verinnerlichen, dass man als trockener Alkoholiker zeitlebens gefährdet bleibt und deshalb ständige Achtsamkeit als überlebenswichtige Tugend akzeptieren. Sich deshalb Alkohol niemals bewusst genehmigen. Alles unterhalb dieser Schwelle ist individuelle Kopf- und Glaubenssache. Hauptsache, man schafft es, dauerhaft und möglichst unverkrampft abstinent zu leben.

Raus aus dem Rausch
Februar 2022: Aktueller Erfahrungsratgeber mit 10-Schritte-Programm, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben.
Alkoholiker trocken werden

Saufdruck noch nach Jahren?

Rückfall: Dieser Begriff gellt in den Ohren trockener Alkoholiker ähnlich schrill wie „Weihwasser“ für Vampire und „Abstieg“ für Fußballfans.

Der Rückfall einer Bekannten, die zehn Jahre lang trocken gelebt hatte, machte mir im Nachgang Folgendes klar:
• Man kann sich selbst nach zehn Jahren niemals ganz sicher fühlen.
• Trinker bleiben bis zum Lebensende tickende Zeitbomben.
• Auch nach Jahren der Abstinenz genügt ein Glas Sekt oder Bier oder Wein oder was einem sonst noch so alles auf einer Betriebsfeier angeboten wird, um vier Wochen später wieder komatös in
die Klinik eingeliefert zu werden. Das Suchtgedächtnis vergisst nichts.
• Man darf deshalb bei der eigenen Achtsamkeit nie schludern.
• Vorsicht ist eine Tugend.

Leichtsinn kommt vor dem Rückfall
Für dieses irrationale Verhalten (ich teste mein Kontrollvermögen mit einem Glas Sekt) kommen zwei Beweggründe in Frage:
a) Leichtsinn. Der Gedanke, man sei nach zehn Jahren derart gefestigt, dass einem ein Gläschen ganz bestimmt nichts anhaben kann. Dass man jetzt, nach so langer Abstinenz, alles im Griff hat und nun wieder kontrolliert trinken kann. So wie früher in der wunderschönen Zeit, als man noch nicht zum Alkoholiker mutiert war.
b) Das Wiedererleben von Auslösern, die man entweder verdrängt und/oder nicht richtig aufgearbeitet hatte. So führen oft kriselnde Partnerschaften zu einem Rückfall in alte, schlechte Angewohnheiten. Beim anderen kann es eine Hiobsbotschaft vom Internisten sein, die ihn zurück zur Flasche katapultiert. Der Dritte ärgert sich grün und blau über eine Steuernachzahlung und spült den Ärger mit zwei Bier runter. Resultat in allen drei Fällen dasselbe: Der Alkohol dämpft ein paar Tage lang das negative Gefühl ab. Um diesen angenehm betäubten Zustand zu erreichen, muss jedoch die Dosis täglich erhöht werden. Nach vier Wochen endet es im Komasuff. Und das auslösende Problem wurde derweil völlig aus den Augen verloren und natürlich nullkommanull in Angriff genommen.

Das klingt gar nicht gut, meinen Sie? Selbst nach zehn Jahren kann ich nicht sicher sein, ob ich dauerhaft abstinent bin? Wozu soll ich mich dann überhaupt dieser Tortur aussetzen, wenn es mich auch noch nach so langer Zeit täglich erwischen kann?

Das ist eine durchaus berechtigte Frage, auf die es aber eine durchaus beruhigende Antwort gibt. Nach zehn Jahren Abstinenz ereilt niemanden der unbezähmbare Saufdruck überraschend und unausweichlich wie eine Naturkatastrophe à la Tsunami, bei der kaum Zeit für Vorwarnung und Evakuierung bleibt. Beim Alkohol gibt es hingegen eine allmähliche Anflutungsphase. Die besteht darin, dass Hindernisse, deren Überwindung man sich aus irgendwelchen Gründen nüchtern nicht mehr zutraut, fiktional unter Zuhilfenahme von Bier, Wein, Schnaps „gelöst“ werden sollen. Dieser fatale Drang wird täglich stärker. Im Selbsthilfegruppenjargon bezeichnet man das mit „zu viele nasse Gedanken“.

Man merkt selbst, ob das eigene Denken negativer wird, man nicht mehr an seine eigenen Kräfte glaubt, sich einen Rausch herbeisehnt, um abschalten und vergessen zu können, auf einmal der Alkohol als vermeintlich einziger Problembewältiger wieder groß und fett vor einem steht, der einem zuflüstert: Nimm einen Schluck und du wirst dich wie neugeboren fühlen. Du brauchst bloß heute zu trinken, morgen wirst du wieder abstinent weiterleben. Nur heute; was ist schon dabei? Wer will bis ans Lebensende trocken bleiben?

Wer in den Strudel dieser fatalen Gedankenkette gerät, muss sich an seinen Notfallkoffer erinnern. Geh am nächsten Abend in deine Gruppe, leg die Karten offen auf den Tisch, schildere dein aktuelles Problem und weshalb es dir ohne Alkohol nicht erträglich erscheint. Wir sind Gleichgesinnte. Jeder von uns kennt das Gefühl der zeitweiligen Machtlosigkeit und Verzweiflung. Und auch wir sind hin und wieder froh, wenn wir jemanden haben, dem wir unser Herz ausschütten können. Lieber drei
Stunden quatschen als ein Glas Wodka auf ex.

Vorzeichen für einen drohenden Rückfall rechtzeitig spüren, ernst nehmen und (am besten in der Selbsthilfegruppe) offen darüber reden. So kann auch in Krisensituationen die Abstinenz beibehalten werden.

Zufriedene Abstinenz

Abstinenz reicht nicht, zufrieden muss sie auch noch sein? Wie soll das denn funktionieren? Von der Wichtigkeit, eine Beschäftigung zu entdecken, die einem dasselbe Glücksgefühl wie früher der Alkohol vermittelt. Begreifen, dass die Wesensveränderung, die der Trinker beim Eintritt in die Abstinenz durchläuft, zahlreiche positive Aspekte haben kann.

Um sich nach erfolgreich abgeschlossener Therapie sinnvoll zu beschäftigen, zu entgehen, bieten sich drei Lösungswege an:
A. Da sei als Erstes der Beruf genannt. Falls es einem möglich ist, in den zurückzukehren, kann man statt früher 40 nun 60 oder mehrStunden im Büro verbringen. Sich mit Zahlen, Schriftsätzen, Formularen ablenken, um bloß nicht ans Saufen zu denken. Vom Schreibtisch aus dann auf direktem Weg in die Selbsthilfegruppe, um die High-Risk-Time zwischen 20 und 22 Uhr zu überbrücken. Gegen halb zwölf todmüde ins Bett, weil der Wecker am nächsten Morgen schon wieder um sechs Uhr klingelt. Kann funktionieren, ist aber die mühsamste Variante, um trocken zu bleiben.
B. Sport als Ventil. Den Schweiß im Fitnessstudio oder beim Fahrradfahren, Joggen und Inlinern vergießen und so die dummen Gedanken an Grappa und Calvados im Keim ersticken. Nicht so einfach, wenn man vorher zwanzig oder mehr Jahre inaktiv auf dem Sofa gesessen und gesoffen hat. Ich kenne zwar trockene Alkoholiker, die täglich vier Stunden Gewichte stemmen oder für den Marathon trainieren. Aber die waren auch schon vorher sportlich unterwegs und knüpfen jetzt dort wieder an, wo sie einige Monate vorher aufgrund ihrer Trinkexzesse gestoppt hatten. Als Süchtige tendieren sie dazu, ihr Training ebenfalls suchtartig zu betreiben. Solange dabei keine Knochen brechen oder Gelenke irreparabel verschleißen, ist das völlig in Ordnung. Trocken bleiben mittels Ironman ist durchaus eine Option.
C. Ein neues Hobby entdecken oder ein altes wiederbeleben. Die Psychologen haben für diesen Zweck die sogenannte Ergotherapie ersonnen. Hier wird gemalt, getöpfert oder eine Figur aus einem Speckstein modelliert. Obwohl sicher gut geeignet für Menschen, die gerne mit den Händen arbeiten, hat mir persönlich diese Form des Zeitvertreibs nie allzu große Befriedigung bereitet, weshalb ich stets darum bemüht war, meine Wochendosis an Wasserfarben und Lehm so gering wie möglich zu halten. Ganz anders hätte das aber ausgesehen, böten die Kliniken einen Kurs in der Disziplin kreatives Schreiben an: selbst verfasste Gedichte und Kurzgeschichten als Eigentherapie. Musikaffine Patienten würden wahrscheinlich lieber in einem Reha-Orchester mitspielen als Denksportaufgaben in der Ergo zu lösen.

Die Grundidee, Süchtige an ein Hobby heranzuführen, ist die richtige; bloß wird sie leider zu sehr auf das Handwerklich-Manuelle eingegrenzt. Schreiben, Musizieren, Theaterspielen stehen nicht auf dem Programm, sodass das Ziel der Ergotherapie – eine Zufriedenheit stiftende Aktivität für die nun anbrechende Phase der Abstinenz mit auf den Heimweg zu geben – bei 90 % der Teilnehmer nicht erreicht wird. Hier besteht Nachbesserungsbedarf in den aufs Trockenwerden spezialisierten Einrichtungen.

Die Wochen nach der Reha sind die schwersten Sobald die Reha vorüber ist, muss der – bisher im geschützten Raum trockene – Patient sofort auf eigenen Beinen stehen. Wichtig ist es deshalb, Struktur in den Alltag zu bringen. Das, was die meisten Menschen selbstverständlich anmutet – z. B. von Montag bis Freitag um halb sieben aufzustehen und dreimal am Tag eine Mahlzeit einzunehmen –, ist es für den Alkoholiker überhaupt nicht. Der ist aufgrund langjährigen Konsums aus allen gesellschaftlichen Rastern ausgebrochen, schläft bis 10 Uhr, nimmt Nahrung nicht vor der Tagesschau zu sich und wird erst munter, wenn der Normalbürger sich schon wieder ins Bett legt.

Empfehlenswert ist deshalb ein Mix aus den oben genannten drei Vorgehensweisen: sich in einen Job vermitteln lassen (Teilzeit ist besser als gar keiner), Sport treiben (es reichen 45 Minuten am Tag, denn nicht jeder ist für den Ironman tauglich), sich für ein Hobby entscheiden, das man mit Freude ausübt, und abends eine SHG besuchen. Wer gerne malt, musiziert oder schreibt, ist klar im Vorteil. Auch hier wird der Süchtige häufig suchtartig agieren: zehn Bilder pro Woche, ein halbes Dutzend Gedichte am Tag, ein neuer Song in der Stunde. Suchtverlagerung von der Droge in einen neuen Bereich. Komplett egal, solange die Aktivität das bewirkt, wozu sie gedacht ist: Befriedigung verschaffen und die neu gewonnene Zeit sinnvoll nutzen. Im Lauf der Monate und Jahre wird der Massenoutput der anfänglichen Sturm-und-Drang-Periode ohnehin reduziert und der Qualitätsgedanke rückt in den Vordergrund. Das Trockenbleiben ist anfangs ein Tagesgeschäft; bis der Zustand der zufriedenen Abstinenz erreicht wird, dauert es ein paar Monate (manchmal sogar Jahre).

Ich habe in der Reha das Schreiben entdeckt. Die Freude daran habe ich beibehalten. Meine Abstinenz währt mittlerweile zehn Jahre. Als Beispiel geeignet für die Trinker, die den Ausbruch aus dem Teufelskreis mittels kreativer Hobbys versuchen wollen. Lassen Sie sich vom Totschlagargument „Du betreibst ja bloß Suchtverlagerung“ auf keinen Fall in Ihrem Tun beeinträchtigen. Lieber suchtartig für den Kölner Halbmarathon trainieren, Gewichte in die Luft stemmen und Kurzgeschichten tippen als sich suchtartig zu Tode saufen. Wem es gelingt, durch den Beruf, im Sport oder mittels Schreibens, Malens und Musizierens ein der Droge ähnliches Zufriedenheitsgefühl zu erzeugen, der kann sich glücklich schätzen.

Sie müssen Ihren individuellen Weg zu Ihrer Zufriedenheit finden. Ich habe meinen bereits entdeckt. Und auch auf die Gefahr hin, dass mich viele für einen Eigenbrötler und manche gar für einen Langweiler halten – ich sitze gerne am Schreibtisch und tippe. Und fühle mich gut dabei, sobald sich die anfangs leeren Seiten langsam mit Wörtern und Sätzen füllen. Mitunter empfinde ich beim Schreiben sogar eine Ahnung von Glück.

Wer es schafft, seinem Leben jenseits des Alkohols einen neuen Sinn zu geben, erfährt eine zufriedene Abstinenz.

Raus aus dem Rausch
Februar 2022: Aktueller Erfahrungsratgeber mit 10-Schritte-Programm, um trocken zu werden und zufrieden abstinent zu leben.
abstinent werden

Im Erfahrungsratgeber Raus aus dem Rausch wird Ihnen erklärt:
• Sind Sie überhaupt ein Alkoholiker? Anhand welcher Kriterien erkennt man die eigene Gefährdung?
• Gibt es eindeutige Symptome?
• Welche medizinischen Maßnahmen müssen eingeleitet werden?
• Welche Schritte sind im Anschluss an die körperliche Entgiftung einzuschlagen?
• Wie lange dauert es, trocken zu werden?
• Ist es überhaupt möglich, dauerhaft abstinent zu leben?
• Was bedeutet „zufriedene Abstinenz“?

Beginnen Sie am besten heute noch mit Ihrem Einstieg in Ihr neues, trockenes und alsbald zufrieden abstinentes Leben.