Grace de Dieus Himmelfahrt (1)

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Am Tag vor Himmelfahrt hänge ich mit meinem Nachbarn Grace de Dieu im Hinterhof ab, der will mit mir über seine Eheprobleme quatschen, worauf ich wenig Bock habe. Da kommt Johannes um die Ecke, nennt Graces Frau ne Bitch und schon ist der Teufel los.

»Möchtest du mal ziehen, Bruder?«
»Nein. Bekomme Durchfall von dem Zeug.«
»Vermutlich besser, wenn du es lässt. Nicht eine Sucht mit einer anderen vertauschen.«
»Danke, für den Hinweis, Gretz. Wäre ich von selbst nicht drauf gekommen.«

Abhängen im Hinterhof

Ich hing mit meinem Nachbarn Grace de Dieu an einem schönen Maimittwochabend auf einer Betonmauer, die den frei zugänglichen Garten unseres Sozialwohnhauses einfriedete, ab und genoss die Frühlingsstimmung. Die Bäume standen in vollem Grün, einige Pflanzen dufteten wie frisches Sperma. Mein Nachbar blies Cannabiskringel in die Luft, während er sich mit der Hand über den glattpolierten Schädel strich.

»Wie heißt der Feiertag morgen?«
»Keine Ahnung.«
»Na, der Tag an dem Christus gen Himmel geht.«
»Christi Himmelfahrt. Ist doch einfach. … Das haben wir morgen? Gut zu wissen. Kann ich eine Stunde länger pennen.«
»Und ich werde den Gottesdienst der afrikanischen Pfingstgemeinde besuchen.«

Grace de Dieu, der in unserem Haus entweder Grace in der amerikanischen Betonung oder Gretz genannt wurde, stammte aus Ruanda. Hatte die jahrelangen Kriegswirren zwischen Tutsi und Hutu überlebt und war via Tripolis irgendwann in Lampedusa gestrandet. Versuchte sich eine Zeit lang als ambulanter Verkäufer von Uhren und Trockengebäck am Strand von Riccione, wo er im heißen August 2006 Beatrix aus Köln kennenlernte. Die kaufte täglich billigen Blechschmuck und bunte Lederarmbänder von ihm, nahm am Ende des dreiwöchigen Urlaubs all ihren Mut zusammen und fragte den schönen, hünenhaften Mann aus dem Herzen Afrikas, ob er Lust hätte, sie nach Deutschland zu begleiten und mit ihr zusammenzuleben. Er folgte ihr bereitwillig, denn außer seiner schimmligen 4-Quatratmeter-Unterkunft in einem schäbigen Plattenrohbau hatte er in Italien nichts zu verlieren.

Bei der Einreise wurde er hops genommen, landete drei Monate in einem Aufnahmelager irgendwo in Bayern, aus dem Beatrix ihn mittels Rechtsanwalt herausholte, der für seine Dienstleistung ein halbes Vermögen abrechnete. Gretz zog nun endlich zu seiner Verlobten, die zufälligerweise ein Stockwerk über mir wohnte. Das war mittlerweile sechs Jahre her. Grace de Dieu besaß jetzt eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, die im Abstand von zwölf Monaten erneuert werden musste. Kurze Zeit später kam Susanne auf die Welt. Ein niedliches, aufgewecktes Mädchen mit stets neugierig blickenden Augen und Rastazöpfen. Getauft auf den Namen von Beatrix‘ Mutter. Ich lernte Gretz im Treppenhaus kennen, denn genau wie ich lief er lieber die Stufen rauf uns runter, als in den engen und häufig vollgepinkelten Aufzug zu steigen.

Gespräch über Beziehungsprobleme: nicht so meins

»Ich beneide dich, Henning.«
»Wofür: dass ich chronisch pleite bin?«
»Du hast doch immer genug Kohle in der Tasche.«
»Jap. Mehr aber auch nicht.«
»Und bist ausgeglichen und glücklich.«
»Der Anschein trügt. Bin genauso angefressen wie alle Mitmenschen um mich herum.«
»Zumindest gelingt es dir, deine schlechte Laune gut zu verbergen.«
»Bloß Mimikry. Lernst du in der Psychiatrie.«

»Mag schon so sein. … Sag mal, was hältst du von meiner Situation?«
»Welcher?«
»Stell dich nicht blöde. Du weißt genau, worauf ich hinauswill.«
»Deine Beziehung zu Beatrix?«
»Exakt.«
»Muss ich dazu was sagen?«
»Keinen Bock drauf?«
»Glaube nicht, dass du gerne hören wirst, was ich zu der Fetten für eine Meinung habe.«
»Spuck’s aus und lass dich nicht dreimal bitten. Wir sind Freunde.«

Das mit den Freunden sah ich zwar leicht anders als mein Nachbar, wollte ihn jedoch nicht vor den Kopf stoßen. Gretz war schätzungsweise zehn Jahre jünger als ich. So ganz genau wusste das niemand, da das Datum seiner exakten Geburt nirgendwo offiziell eingetragen worden war. Aufgrund seiner medizinischen Werte taxierten ihn die Ärzte auf 40. Er selber erklärte mir oft, dass er Minimum fünf Jahre älter sein müsste, weil er sich gut an die WM 74 erinnern könnte, bei der die deutsche Elf Weltmeister geworden war. Er rasselte dann sämtliche Namen beginnend bei Beckenbauer runter und vergaß noch nicht einmal Bonhof, um mich von seiner Glaubwürdigkeit zu überzeugen. Ich pflichtete ihm bei, vermutete jedoch insgeheim, dass er das alles erfand, um sich älter darzustellen, als er es tatsächlich war. Letztlich mir völlig schnurz.

Johannes verärgert Gretz

»Ey, ihr alten Säcke. Wollt ihr mal gute Mucke hören?«

Johannes, unser Vorzeige-Body-Builder, der im fünften Stock lebte und den ich aus der zweiten Reha kannte, hatte sich zu uns gesellt und einen Ghettobluster mitgebracht.

»Was ist das für ein Geplärre?«, fragte ich. »Klingt wie eine Mischung aus Musikantenstadel und Hip Hop.«
»Henning hat wie immer null Plan«, erwiderte mein athletischer Bekannter , der heute einen schneeweißen Trainingsanzug, grellbunte Nike-Air und eine dicke Goldkette trug.
»Soll ich den Country-Kanal für euch zwei Greise einschalten?«
»Ist alles okay, mein Dicker«, sagte ich. »Setz dich zu uns und lausche den Weisheiten alter Männer.«

Johannes, Mitte 30, Drogenkarriere wie aus dem Bilderbuch. Gab nichts, was er nicht geraucht, gesoffen, geschluckt oder injiziert hätte. Und war – nachdem seine alleinerziehende Mutter für ihn bereits eine Grabstelle ausgesucht hatte – von heute auf morgen clean geworden. Seit fünf Jahren gar nichts mehr. Nervte ein bisschen mit seinem neuentdeckten Gesundheits- und Fitnesswahn. Allemal besser, als abends mit einer verdreckten Spritze in der Armbeuge tot auf der Bahnhofstoilette aufgefunden zu werden.

»Schwierige Gespräche, Jungs?«
»Geht so.«
»Henning will mir nicht bei meinen Problemen helfen.«
»Die Bitch?«
»Wie redest du von meiner Frau, du Junkie?« Gretz schnellte nach oben, um Johannes an der Kehle zu packen. Ich hielt ihn zurück.
—–

Hier geht’s morgen zu Teil 2.

Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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