Die Lüge (1)

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An einem lauen Abend im Altweibersommer lümmelte sich Hubert Sonnbichler in nachdenklicher Stimmung auf dem Sofa seiner Freundin Anuta Dumitrescu im siebten Stock eines Sozialbaus … Geschichte des abrupten Endes einer Beziehung.

An einem lauen Abend im Altweibersommer lümmelte sich Hubert Sonnbichler in nachdenklicher Stimmung auf dem Sofa seiner Freundin Anuta Dumitrescu im siebten Stock eines Sozialbaus. Es war Freitag Punkt zwanzig Uhr. Vor ihm ertönte im Fernsehen die Startmelodie der Tagesschau. Die blonde Sprecherin begrüßte die Zuschauer und lenkte den Blick zuerst auf die Dürrekatastrophe in der Sahelzone, wo diese Woche wieder zehntausend Kinder an Mangelernährung gestorben waren. Sonnbichler gähnte, schaltete den Ton ab, ging zum Kühlschrank und suchte dort nach den Resten des heutigen Mittagessens, denn er verspürte leichten Appetit. Hinter einer angebrochenen Milchflasche fand er, was er suchte, nämlich einen 300gr-Brocken Mămăligă. Darüber kippte er 20cl Ketchup und gab einige Tropfen grünen Tabasco hinzu. Er seufzte genießerisch, watschelte zurück ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft in die Kissen fallen. Mit der Fernbedienung startete er die Musikanlage, wählte Bolero in der Version der Wiener Philharmoniker von 1995 aus und schaufelte den kalten Maisbrei mit den Fingern in den Mund hinein.

Lob vom Chef

Der Monat war gut für ihn verlaufen. Sein Chef hatte ihn vor versammelter Abteilung ausdrücklich gelobt. Der Quartalserfolg von Rossleitner sel. Witwe & Co. sei zu fünfundzwanzig Prozent auf den effizienten und kaltschnäuzigen Sonnbichler zurückzuführen. Und so wie der Boss kaltschnäuzig betonte, verstand er es als dickes Lob. Sozusagen als Ritterschlag, mit dem Sonnbichler sich ab sofort von den naiven Kollegen unterschied. Am Montag würde die Firma ihm eine Sondergratifikation im hohen fünfstelligen Bereich überweisen; heute am dreißigsten hatte er zudem seinen Septemberscheck erhalten.

Mit Anuta war Sonnbichler seit über drei Jahren zusammen. Kennengelernt hatte er sie auf einem Sommerfest in der Nachbarschaft. Bei den Anzengrubers. Ganz reizende Leute. Sebastian Anzengruber arbeitete im selben Unternehmen wie er. Im Controlling. Es war immer gut, mit solchen Menschen befreundet zu sein. Anuta hatte entzückend ausgesehen: lange Beine, Schmollmund, dunkelgrüne Augen, ansehnliches Dekolleté, braune Haut, die in einem roten Kostüm steckte. Dem Sonnbichler war damals das Wasser im Mund zusammengelaufen. Er wusste zwei Stunden lang gar nicht, worauf er sich zuerst konzentrieren sollte: die Rostbratwürste auf dem Grill oder die Schönheit aus den Karpaten. Denn aus dem tiefen Südosten stammte Anuta. Aus einem Dorf irgendwo in der Walachei, zwischen Donaudelta und Dobrudscha gelegen. Sie hatte es ihm schon oft erklärt und auf der Landkarte gezeigt. Beim Sonnbichler ging das zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus. Er hatte sich nie sonderlich für die Feinheiten der Geografie interessiert; zudem hörte für ihn die zivilisierte Welt ohnehin hinter dem Grenzübergang in Deutschkreutz auf. Ab Ödenburg begann für ihn der Balkan, und alleine der zwielichtige Begriff löste in ihm ein tiefverwurzeltes Misstrauen aus. Seinetwegen könnte man noch in diesem Jahr einen neuen Grenzzaun hochziehen. In der Art, wie die Amerikaner ihn entlang des Rio Grande errichtet hatten. Einzig Budapest sollte man als Insellösung aussparen, denn dorthin war er mit den Kollegen schon zweimal gereist, um vergnügliche Abteilungspartys in teuren Stripclubs zu feiern.

Obwohl Sonnbichler sich heute Abend eigentlich in heiterer Laune befinden sollte, war da etwas, was ihn bedrückte. Sein Boss Hinterfalter hatte ihn am Nachmittag beiseite genommen, ihm den Arm um die Schulter gelegt und mit breitem Grinsen erklärt:

»Sonnbichler, aus Ihnen kann was werden. Sie haben den richtigen Killerinstinkt, den man in der freien Wirtschaft benötigt. Das habe ich immer schon geahnt.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Hinterfalter. Ich fühle mich durch Ihr Vertrauen geehrt.«
»Nenn‘ mich Schorsch. Das klingt unkomplizierter.«
»Okay, Schorsch. Finde ich auch besser.«
»Du weißt, Hubert, dass ich nächsten März aufhören werde. Dann werde ich dreiundsechzig. Höchste Zeit, um mich meinen Hobbies und den Enkeln zu widmen.« Hinterfalter öffnete eine Dose Bier und genehmigte sich einen großen Schluck.

»Ach geh, Schorsch. Du bist noch so vital und voller Elan. Da können wir Jungen uns eine Scheibe von abschneiden. Zwei, drei Jahre kannst du doch ohne weiteres dranhängen.«
»Du brauchst mir nicht zu schmeicheln, Hubert. Ich weiß, dass du ehrgeizig bist und dich für meinen Posten interessierst. Ist aber kein Problem für mich. So lange du mein Stuhlbein noch sechs Monate in Frieden lässt, werden wir weiterhin gute Freunde sein.«
»Wie schlecht du von den Menschen denkst, Schorsch. Ich käme nie auf die Idee, gegen den Chef zu intrigieren.« Sonnbichler setzte eine kindliche Unschuldsmiene auf.

»Spar dir den Atem, Hubert. Für mich geht das alles in Ordnung. Ich war früher auch hungrig und skrupellos. Ohne Ellenbogen und Hinterfotzigkeit kommst du in keiner Organisation voran.«
»Da bin ich aber froh, dass wir zwei alten Hasen einer Meinung sind.«
»Was ich dir aber noch raten möchte, Hubert: trenn dich von deiner Freundin. In der Chefetage werden Beziehungen mit Osteuropäerinnen nicht gerne gesehen. Schon gar nicht in wilder Ehe. Ich werde dich zwar als meinen Nachfolger empfehlen, aber der Vorstand hat das letzte Wort. Frauen wie Anuta findest du an jeder Ecke. Notfalls in einem russischen Versandkatalog.« Hinterfalter lächelte vielsagend, klopfte seinem Untergebenen erneut auf die Schulter, wendete sich ab, um mit der brünetten Sekretärin zu scherzen und ließ einen verdatterten Sonnbichler zurück.

Wie sage ich es meiner Geliebten?

Da saß er nun mit einem halbgefüllten Teller Maisbrei auf den Knien im Wohnzimmer seiner Freundin Anuta, verfügte aufgrund der September- Sonderzahlung über ein prallgefülltes Girokonto, würde in einem halben Jahr die Leitung der Exportabteilung übernehmen, und doch fühlte er sich an diesem Freitagabend nicht wohl in seiner Haut. Die Worte Hinterfalters vom Nachmittag lagen ihm im Magen. Nicht, dass er nicht schon selbst über eine Trennung von Anuta nachgedacht hätte. Es war mit ihr wie mit einem kurzweiligen Roman, den man mittlerweile von A bis Z durchgelesen hatte und ihn nun einzig aus Langeweile oder in Ermangelung anderer Möglichkeiten ein weiteres Mal aufschlug. Die Seiten waren entweder eingerissen oder mit Kaffeeflecken übersät. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es Zeit für etwas Neues wurde. Sie hindert mich geradezu daran, dass ich andere Frauen kennenlerne, überlegte er. Als ob ich mit ihr verheiratet wäre. Das könnte ihr so passen.

In diesem Moment wurde die Wohnungstür mit Schwung geöffnet, und die beiden Kinder der Freundin tollten lachend herein: der achtjährige Marian und seine kleine Schwester Ilariana.

»Hallo Hubert, bist du schon da«, begrüßten sie ihn freundlich.
»Wo ist eure Mutter?«, fragte er griesgrämig zurück.
»Die ist noch unten bei Frau Olschewski. Wird aber gleich hier sein.«
»Die Zuspätkommerei ist kein schöner Charakterzug. Hoffe, dass ihr den nicht geerbt habt.«
»Was isst du da, Onkel Hubert? Den Rest Mămăligă? Der war für mich und Marian.«
Ilariana guckte den gedrungenen Mann verärgert an, denn sie hatte Hunger.
»Du wirst schon satt werden, Fräulein. Unterernährt siehst du nicht aus.«
Er stellte den Rest Maisbrei neben sich auf den Couchtisch.

Sonnbichler war eingefleischter Junggeselle und schätzte die Anwesenheit von Kindern nicht sonderlich. Normalerweise brachte Anuta die beiden übers Wochenende entweder zu ihrer Mutter oder zu einer Freundin. Weshalb ausgerechnet heute nicht, wo er doch mit ihr über wichtige Dinge zu reden hatte. Das macht sie mit Absicht, um mich unter Druck zu setzen, ging es ihm durch den Kopf.

Die verdächtige Uhr

»Hubert, schau: das ist eine neue Uhr, die ich habe. Gefällt sie dir?«
Marian streifte den linken Ärmel hoch und zeigte Sonnbichler stolz eine schwarze Swatch Chrono Plastic.
»Die ist wirklich schön. Von wem hast du sie?«
»Von meinem Großvater geschenkt bekommen.«
Das hübsche Gesicht Marians wechselte kurz die Farbe, was Sonnbichler nicht verborgen blieb.
»Vom Opa, da schau her. Das nenne ich aber eine spendable Überraschung vom alten Mann, der von einer Armenrente lebt. Wie hat er das denn finanziert?«
»Ich, ich weiß es nicht …«, stotterte der Junge.
»So so, du weißt es also nicht. Und was, wenn ich behaupte, dass du lügst oder die Uhr sogar gestohlen hast?«
Sonnbichler setzte eine sorgenvolle Miene auf.
»Nein, habe ich nicht!« Marians Pupillen weiteten sich vor Entsetzen.
»Von wem ist sie dann? Bestimmt nicht von deinem Großvater. Da halte ich jede Wette dagegen.«

Der Junge schwieg einige Sekunden lang und überlegte. Dann sagte er: »Hubert, wenn du mir versprichst, dicht zu halten, verrate ich dir das Geheimnis.«

Hier geht’s morgen zu Teil 2.

Bild von Roland Schwerdhöfer auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ingrid Dorner

    Hubert Sonnbichler ist so ekelhaft, dass es fast unerträglich ist, und doch mag man befürchten, dass solche Leute an jeder Ecke lauern. Und dann kommen auch noch diese armen Kinder bei der Türe herein …

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