Veras Entscheidung

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Vera kann die Zimmermiete im Eroscenter nicht mehr bezahlen, soll deshalb dort ihren Koffer packen und beschließt spontan, mich aus dem Bett zu klingeln, damit ich ihr entweder die Piepen leihe oder sie übergangsweise bei mir einziehen lasse. 

Innenstadtbereich. 03.28.
»Na Vera, machst du heute zeitig Feierabend?«
»Wir haben halb vier, so früh ist das nun auch wieder nicht.«
»Wie man’s nimmt. Letzten Monat bist du nicht vor fünf hier raus.«
»Dann ist der nächste Tag komplett im Eimer. Wenn ich gegen vier im Bett liege, bin ich um zwölf wieder auf den Beinen und kann die Nachmittagssonne genießen.«
»Ganz wie du das möchtest, Vera. Du bist Freiberuflerin. Hast du die Miete dabei?«
»Hier sind fürs Erste dreihundert Euro.«

Zu alt für die Spätschicht

»Soll das ein Scherz sein? Du schuldest uns noch über tausend.«
»Wo soll ich die hernehmen, Manni? Ich sitze hier schon seit acht Uhr. Dann müsst ihr eben mit der Miete runtergehen.«
»Erzähl keinen Scheiß, Vera. Du bedienst zu wenig Kunden. Da liegt der Hund begraben. Der Boss ist schon sauer auf mich, weil ich dir den Raum weiter zur Verfügung stelle. Er meint, draußen stehen für jedes Zimmer Minimum fünf junge Mädchen Schlange. Aus seiner Sicht blockierst du ein Bett. Und da hat er recht. Du bist einfach nicht mehr attraktiv genug für unseren Laden.«

»Das hat euch aber die letzten zehn Jahre nicht sonderlich gestört, als ich noch pünktlich meine Miete gezahlt habe.«
»Du hast es erfasst. Die Betonung liegt in pünktlich. Hör zu, ich gebe dir noch eine Woche Aufschub. Bis dahin hast du entweder deine Außenstände bei uns beglichen, oder du suchst dir einen neuen Arbeitsplatz.«
»Ihr seid herzlose Blutsauger.«
»Wir sind Kaufleute. Unserem Geschäft und den Investoren verpflichtet. Ohne anständige Rendite drehen die uns den Geldhahn zu, und wir können alle unsere Koffer packen. Du bist schlichtweg zu alt für unser Haus. Du könntest glatt die Mutter der meisten Girls hier sein.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun, du Obergauner? In Striplokalen die Toiletten beaufsichtigen oder mich in Zukunft auf die besonders perversen Jobs konzentrieren? Sex mit Sterbenden oder mich für Gangbangorgien zur Verfügung stellen?«
»Weiß ich nicht. Ist auch nicht mein Bier. Ich kann dir aber anbieten, dich übermorgen mit einem Kumpel von mir bekannt zu machen. Der hat einige ältere Mädels im alten Gewerbegebiet oben im Norden der Stadt laufen. Vernünftige Arbeitszeiten. Kannst du schon mittags die Frühschicht übernehmen.«
»Und mich auf der Straße an LKW-Fahrer verkaufen?«
»Vera, ist doch scheißegal, ob die Kunden einen Lastwagen steuern, Leichen waschen oder Rechtsanwälte sind. Hauptsache sie zahlen und stehen auf alte Ladies wie dich. Auch ein Fußballprofi kann mit Vierzig nicht mehr in der ersten Liga spielen. Das müsste dir doch einleuchten.«

»Du kannst mich mal!«
»Schlaf ein, zwei Nächte drüber und gib mir dann Bescheid, ob dich der neue Job interessiert. Hier bei uns ist spätestens in sieben Tagen Ende Gelände für dich. Wenn du nicht freiwillig die Bude räumst, schmeiße ich notfalls deine Klamotten aus dem Fenster. Brauchst nicht so erstaunt zu schauen. So funktioniert unser Business eben. Hast ja jahrelang gut bei uns verdient. Bevor ich es vergesse – vorhin war ein Typ hier, hat sich nach dir erkundigt. Wollte aber nicht zu dir ins Zimmer. Hat allerdings seine Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben. Hier … «
»Wahrscheinlich ein perverser Schwachkopf, der mich für eine Teufelsmesse mieten möchte.«
»Keine Ahnung. Sieht man den Kerlen ja nicht an der Nasenspitze an, wo deren Interessen liegen. Gesagt hat er nicht viel. Schien mir eher so ein Schweiger zu sein.«

Trübe Jobperspektive

Veras ohnehin schon dürftige Stimmung hatte sich im Verlauf der Unterhaltung mit Chefrausschmeißer Manni noch weiter eingetrübt. Ihr blieb nun also die Wahl zwischen Putzen und dem Straßenstrich am Nordrand der Stadt. Mithin die Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Obwohl sie geahnt hatte, dass diese Situation über kurz oder lang eintreten musste, war sie von Mannis klarer Ansprache heute überrumpelt worden. Sie hatte zwar in den vergangenen Jahren einiges gespart und in festverzinslichen Wertpapieren anlegen können; allerdings war das kleine Reiheneckhaus im Nussbaumviertel noch längst nicht abbezahlt.

Seitdem ihr Mann Horst soff wie ein Loch, war er für keine Arbeit mehr zu gebrauchen und hatte sich zu einem dauernörgelnden Frührentner entwickelt. Wenigstens brauchte sie nach dem Job nicht mehr mit ihm in die Kiste zu steigen. Denn der Sex mit ihm war seit Jahren öder als ein Blowjob für einen Achtzigjährigen. Der Alkohol blockierte Horsts Libido. Hatte die elende Trinkerei wenigstens ein Gutes.

Wer hat mir da seine Telefonnummer hinterlassen, überlegte sie, während der Taxifahrer sie schweigend durch die noch dunklen Straßen der Stadt kutschierte. 0171, entzifferte sie. Sie kannte doch noch jemanden, der diese uralte Vorwahl benutzte. War das etwa? Sie durchwühlte ihre knallrote Lederhandtasche und fingerte schließlich ein silberfarbenes, speckiges Adressbuch heraus.

»Du kleiner Drecksack. Warst im Puff und hast mich nicht besucht«, zischte sie leise vor sich hin. Sie kramte ihr neues iPhone 4S hervor und tippte rasch die Nummer ein. Am anderen Ende klingelte es eine schiere Ewigkeit. Niemand ging an den Apparat. Komm schon, du Mistkerl. Wer nachts rumhurt, kann auch telefonieren.

Telefonat weit nach Mitternacht

»Hi, ich bin’s.«

»Wie, ob ich weiß, wie spät es ist? Klar, weiß ich das.«

»Weshalb ich dich nicht morgen früh anrufe? Weil ich dann schlafe, du Nichtsnutz. Im Gegensatz zu dir arbeite ich.«

»Nein, ich will mich gar nicht mit dir streiten. Ich wollte nur deine Stimme hören.«

»Was ich von dir will, fragst du mich? Ausgerechnet du? Der du nachts in ein Bordell gehst, dort ein Vermögen mit jungen Mädchen verplemperst, die deine Töchter sein könnten; aber es nicht für nötig hältst, deine alte Schulfreundin zu besuchen.«

»Wie, du hast in unserem Laden gar nichts gemacht? Warum warst du dann dort? Bist du etwa ein perverser Spanner, der sich heimlich auf die Frauen einen runterholt, nur um Geld zu sparen? Bah, was bist du nur für ein übler Voyeur.«

»Wie, ich soll mich beruhigen? Warum denn? Ich unterhalte mich ganz normal mit dir.«

»Du warst dort, um mich auf einen Kaffee einzuladen? Mehr wolltest du nicht. Und das soll ich dir abkaufen?«

»Nein, ich rufe jetzt niemand anderen an, um den zu beschimpfen. Ich rede mit dir. Weshalb hast du mir nicht vorher Bescheid gesagt? Dann wäre ich dir unten im Kontakthof entgegengekommen.«

»Weil ich dir angeblich zehnmal auf die Mailbox gequatscht habe? Du hast sie doch nicht mehr alle. Träumst und fantasierst schon. Geh schleunigst zum Arzt!«

»Leg jetzt bloß nicht auf! Das wär’s noch. Um Mitternacht kneifst du, und nun willst du schon wieder den Schwanz einziehen. Setz schon mal Kaffee auf. Ich bin in fünf Minuten bei dir. Ciao, freue mich auf dich.«

»Und du da vorne glotz nicht so blöde in deinen Rückspiegel! Du bringst mich gleich noch drei Straßen weiter zu einer anderen Adresse. Und fahr langsam! Ich muss mich noch zurecht machen. Sonst denkt er, ich hätte die Nacht durchgefeiert.«

»Woher weißt du, was ein Kontakthof ist?«

In einem Vorort. 04.33.
»Papa, wer war das gerade am Telefon?«
»Da hatte sich jemand in der Nummer geirrt. Geh wieder ins Bett, kleine Tochter.«
»Du telefonierst zehn Minuten lang mit einer Frau, die sich verwählt hat???«
»Du hast aber gute Ohren.«
»Die war so laut, dass man sie in der gesamten Wohnung bei uns hören konnte.«
»Sie ist manchmal ein bisschen impulsiv. War schon in der Schule so.«
»Ist das die Freundin, die du vor einiger Zeit im Café zufällig wiedergetroffen hast?«
»Genau die.«
»Die arbeitet im Eroscenter; oder?«
»Woher weißt du das???«
»Im Kontakthof trifft man die, oder?«
»Woher kennst du das Wort ‚Kontakthof‘??«
»Das Wort kennt doch jeder, Papa. Was stellst du dich jetzt so spießig an?«

Deng, deng, kleng … es klingelt.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ingrid Dorner

    Man möchte jetzt wirklich nicht in seiner Haut stecken. Stress pur!

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