Nachtzug nach London

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Birgit trennt sich zum dritten Mal von mir. Ich reise nach Schottland und versuche dort, den Trennungsschmerz in Gallonen Whiskey zu ertränken. Im Zug lerne ich eine junge Engländerin kennen, die dasselbe Ziel hat.

Als sich der Nachtzug von Glasgow nach London pünktlich um 22.17 an Gleis 7 in Bewegung setzte, ging draußen gerade ein heftiger schottischer Regenguss herunter. Ich verstaute meinen Koffer unter dem schmalen Bett im Schlafwagen zweiter Klasse, strich mir mit den Fingern durch die klatschnassen Haare und betrachtete leicht schläfrig die flackernden Lichter der Metropole am Clyde. Während wir einen düsteren Vorort durchquerten und ich auf der Linken eine Industrieruine und rechts dicht an dicht gedrängte Reihenhäuser entdeckte, nahm der Caledonian Sleeper stetig Fahrt auf und raste jetzt mit großer Geschwindigkeit in die nordische Nacht hinein. Für einige Sekunden legte ich den Kopf in meine Handflächen und ließ die bisherige Reise vor meinem inneren Auge Revue passieren. Damit ich Birgit aus dem Gedächtnis tilgen konnte, hatte ich mich spontan für einen Last-Minute-Trip an die Speyside entschieden. Acht Whisky-Brennereien innerhalb von fünf Tagen. Das musste ausreichen, um meinen Trennungsschmerz im Alkohol zu ertränken. Mehr Zeit wollte ich nicht investieren.

Die dritte Trennung binnen Zwei-Jahres-Frist

Sie war mir nun zum dritten Mal weggelaufen. Immer mit derselben Begründung: »Du bist der, den ich seit Jahren ins Herz geschlossen habe. Taugst aber nicht zum Ehemann und Ernährer. Außer ein paar Liebesgedichten und Kurzgeschichten kriegst du nichts auf die Reihe. Dir fehlt jeglicher Ehrgeiz. Du musst verstehen, dass ich jemand Seriösen an meiner Seite haben will. Das begreifst du doch; oder?« Sie schaute mich streng an, und ich fühlte, wie die Temperatur des Blutes in meinen Adern rapide absank. Ich stand auf, stellte mich nackt ans Fenster, starrte auf den schönen Rosenstrauch in ihrem Garten und schwieg. »Warum sagst du nichts? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fauchte sie.

»Was gibt es da großartig zu diskutieren?«, antwortete ich. »Die Laberei ändert nichts. Du hast dich längst entschieden.« Sie warf mir einen wütenden Blick zu, verschwand wortlos im Badezimmer, und ich betrachtete wehmütig ihren sonnengebräunten Rücken, den ich vor wenigen Minuten noch eng angeschmiegt an meiner Brust gespürt hatte. Die Zeit, in der sie duschte, nutzte ich, um mich anzuziehen und ihr Haus zu verlassen. Lange und zu nichts führende Abschiedsgespräche waren mir seit früher Jugend ein Gräuel. Das iPhone auf dem Küchentisch klingelte und hüpfte. Wahrscheinlich der Neue, der sich nach einem freien Termin für heute Abend erkundigen will, grübelte ich und trat nach draußen in den um diese frühe Stunde bereits heißen Sommertag.

Eine Woche später ließ ich mich von Bussen und Regionalbahnen über den Malt Whisky Trail kutschieren. Ich wollte den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und so viel trinken, bis die körperlichen die seelischen Schmerzen überlagerten. Ähnlich wie ein Heilfasten, das man mittels Abführmittel beschleunigt. Ein qualvolles, aber häufig erprobtes Verfahren, um schnell Vergessen zu finden. Wenngleich diese Methode bisher immer funktioniert hatte, klappte es dieses Mal nicht. Bereits am zweiten Abend wurde es mir speiübel, der Schnaps ließ mich Dämonenfratzen sehen, und ich kotzte mir nachts im Hotel den kompletten Inhalt meines Magens aus dem Leib. Als ich am nächsten Morgen schweißnass und völlig verkatert erwachte, war mir klar, dass selbst der Alkohol mir keine Linderung mehr verschaffte. Du hast es übertrieben. Wie so oft«, schimpfte der innere Mahner mit mir. »Du musst andere Wege finden, um zu dir selbst zu finden. Obwohl ich selten auf mein Gewissen hörte, weil es mir zumeist sterbenslangweilige Ratschläge erteilte, reduzierte ich das Trinken jetzt auf eine Flasche Hochprozentiges am Abend. Eine Menge, mit der ich problemlos umgehen konnte. Am fünften Tag, als ich ziellos durch die Einkaufsstraßen von Glasgow schlenderte und der Westwind mir den Salzdunst des Atlantiks in die Nase wehte, bemerkte ich mit Erstaunen, dass der Blues stark nachgelassen hatte. So bekomme ich mittlerweile auch bei Trennungen eine gewisse Routine, überlegte ich und wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte.

Emotionales Telefonat im Speisewagen

Nun saß ich um kurz vor Mitternacht im Speisewagen, vor mir ein Glas Bier ohne Schaum und ein Schälchen mit alten Erdnüssen. Gegenüber eine Frau Anfang dreißig, deren Figur sich hart an der Grenze von schlank zu barock befand. Eine typische Engländerin mit weißer Haut, rotbraunem Haar und dicken, jedoch konturlosen Brüsten, die mühsam von einem schwarzen BH, der sich unter ihrer Bluse abzeichnete, nach oben gehalten wurden. Sie lächelte mich kurz an, als ich mich setzte und stocherte gedankenverloren in einem indischen Curry aus der Mikrowelle herum. Wie gebannt stierte sie in ihren kleinen Blackberry, der unentwegt summte und piepste. Ab und an schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn, schüttelte ungläubig den Kopf oder fluchte leise: »Fuck«, »Bloody idiot« und »Nasty son of a bitch.«

Nachdem ich ihr leicht seltsames Benehmen zwei Minuten lang stumm beobachtet hatte, angelte ich mir die Zeitung und schlug den Sportteil auf, um mich über die aktuellen Fußballergebnisse zu informieren. Plötzlich klingelte ihr Telefon. Wie elektrisiert presste sie das Gerät an ihr rechtes Ohr.
»Was willst du Schwachkopf von mir?«

»Hör bloß auf, mit deiner verlogenen Stimme Süßholz zu raspeln. Ich werde nicht mehr auf dich reinfallen.«

»Du hast einmal mein Herz gebrochen. Ich erlaube nicht, dass du es ein zweites Mal tust.«

»Du wirst dich nie ändern, du kleines egoistisches Arschloch.«

»Leg jetzt besser auf, bevor ich anfange, dich zu hassen.«

Ich jubelte ihr innerlich zu, denn sie sprach mir aus der Seele. In diesem Moment empfand ich tiefe Sympathie für die junge Engländerin mit den streng gekämmten Haaren, die hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Ich erblickte in ihr eine Heldin und meine niedergeschlagene Stimmung hellte sich augenblicklich auf. Genau so muss man es machen, dachte ich, als ihr Apparat erneut schrillte.

»Was willst du?«, fauchte sie.

»Morgen? Nein da geht es nicht. …. Mittwochabend vielleicht. Allerdings bei dir. Ich will dich nicht in meiner Wohnung haben.«
Aha, sie hat sich doch weichkochen lassen, ging es mir durch den Kopf. Schade. Aber sie hat es zumindest versucht.
Sie wandte sich mir zu, zuckte mit den Schultern und flüsterte: »Tut mir leid. Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr gestört. Aber es brodelte schon seit Stunden in mir.«
»Nein, ist vollkommen okay für mich. Ich kenne das Gefühl der emotionalen Ohnmacht sehr gut. Da will man manchmal den Mond anschreien, bloß um das Fieber endlich loszuwerden.«
»Wirklich?« Sie schaute mich erstaunt an, weil sie bei einem Mann in meiner Altersklasse solche Gefühle wahrscheinlich nicht vermutet hatte.

Noch sechs Stunden bis Kings Cross

Jetzt vibrierte mein uraltes Nokia. Eine SMS war eingegangen. Wer mochte das um diese Uhrzeit sein? Es war ohnehin die erste Nachricht, die ich seit meiner überstürzten Abreise empfing. »Wo bist du?«, entzifferte ich. »Der Neue war doch ein Idiot. Da habe ich ihn vor die Tür gesetzt. Wenn du magst, kannst du morgen zum Frühstück vorbeikommen. Ich nehme dir dein unhöfliches Verhalten nicht mehr übel. Liebe Grüße, Birgit.« Ich schaltete das Gerät komplett aus und steckte es seufzend in meine Jackentasche. Natürlich würde ich bei ihr Kaffee trinken und wieder in ihrem Bett landen. Zwar nicht morgen, jedoch in ein paar Tagen. War ich Birgit hörig? Bei dem Gedanken schüttelte es mich.

Ich gähnte und sagte leise: »Bin müde und werde versuchen ein bisschen zu schlafen, bevor wir London erreichen.«
»Mir geht es nicht anders«, erwiderte sie. »Wo liegt Ihr Abteil?«
»Nummer 217 im hinteren Teil des Zugs.«
»Das ist aber ein Zufall. Da will ich auch hin.« Sie lachte und ihre Augen blitzten auf einmal schelmisch.
»Ich heiße Elizabeth. Meine Freunde nennen mich Liz. Und du?«
»Henning. Einfach nur Henning.«

Noch sechs Stunden bis Kings Cross.

Bild von Rudy and Peter Skitterians auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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  1. Ingrid Dorner

    Der Schriftsteller Henning Hirsch beschreibt die Umgebung, sein Vorhaben, seinen Gefühlszustand und den der Protagonisten in seinen Geschichten unaufgeregt und klar, so dramatisch die Situation auch sein mag. Seine Sprache ist bildgewaltig und lässt trotzdem genug Raum für Phantasie. Man verliert sich herrlich in seiner Welt und ist meistens erleichtert, nicht dazuzugehören.

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