Die Karawane der scharlachroten Ameisen

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Als mein Kumpel Dude tot vor mir lag, geriet ich ins Grübeln … kleine Geschichte einer Aussteiger-Ameise.

Als mein Kumpel Dude tot vor mir lag, geriet ich ins Grübeln.

Im Stammesverband der scharlachroten Ameisen war ich immer ein geachtetes Mitglied gewesen. Keiner von denen, die die Speerspitze der Organisation bildeten; allerdings auch nicht am Ende der Kolonne marschierend. Halt irgendwo im oberen Mittelfeld wie bereits mein Vater, Großvater und die Ahnen vor ihnen. Alle überaus stolz auf ihre Tätigkeiten und den Rang, den sie bekleideten. Insgeheim bezeichneten sie sich als Kaste des Gehobenen Zweiten Drittels und achteten mit Argusaugen darauf, nicht ins letzte Drittel abzurutschen.

Viele Jahre war ich mitgetrottet in der endlosen Karawane. Fragen nach dem Warum und Wohin hatte ich nie gestellt. Wozu auch? Zum einen kümmerten sich die alte, dicke Königin und ihre Ratgeber um unser Volk und die Organisation. Zum anderen führte die Lösung eines Problems zwangsläufig zu neuen Schwierigkeiten, weshalb ich vor langer Zeit aufgehört hatte, mir den Kopf über unnötige Dinge zu zerbrechen. Ich lief mit, ließ mich treiben, nannte meinen immer wiederkehrenden Rhythmus Struktur und fühlte mich als ehrenwertes Mitglied einer vom Ameisengott ausgewählten Gesellschaft.

Dude stirbt

Eines Tages rastete ich neben dem Treck und erholte mich von den Strapazen des Vormittags. Meine wichtige Aufgabe bestand darin, Viertelstundenzahlen zu notieren. Diese Teilmengen wurden von Buchhaltungsreferenten zu Zwischenergebnissen aufaddiert, die wiederum von den Staatssekretärsameisen in Tagesstatistiken zusammengefasst wurden. Jeden Abend penibel um viertel vor zehn trat der Oberste Rat vor die immerzu fressende Königin und informierte sie über die Fortschritte bei der täglichen Wertschöpfung. Bei 17 war alles in Ordnung, 15 führte zu einem verärgerten Rülpsen und spätestens ab 13 war der Teufel los.

Oder umgekehrt. Auf jeden Fall waren diese Zahlen von außerordentlicher Bedeutsamkeit für das Wohl unseres Staates. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten die respektlosen Arbeiter, dass sich die Königin bei 18 fröhlich grunzend auf den Rücken drehte, dabei ihre rosa Schenkel weit spreizte und es dem Premierminister gestattete, sie zu begatten.

Es war ein heißer Nachmittag, Staub flirrte in der Luft, über uns kreisten Schmeißfliegen. Der alte Dude saß stillvergnügt neben mir, löffelte einen Vogelbeeren- Joghurt und leckte mit seiner violetten Zunge genießerisch den Deckel ab. Er grinste mich aus halbgeschlossenen Augen an, begann zu husten, lief im Gesicht blau an, röchelte ein letztes Mal und sackte mausetot in sich zusammen. So schnell kann es gehen, überlegte ich. Vor einigen Minuten hatte er noch gemeinsam mit mir die Zahlen der Morgenschicht kalkuliert, die gar nicht so schlecht aussahen; jetzt lag er alle viere von sich gestreckt auf der Bastmatte, und der Joghurtlöffel klebte an der linken Wange.

Ich klettere auf einen Maulbeerbaum

Aus einer spontanen Gefühlregung heraus entschloss ich mich, auf den hinter mir stehenden Maulbeerbaum heraufzukrabbeln und mir die Szene von oben anzuschauen. Mein Dasein ergab mit einem Mal keinen rechten Sinn mehr. Ich benötigte dringend eine Auszeit. Die Karawane zog weiter wie bisher, niemand beachtete den leblosen Dude außer einigen Raubkäfern, die sich bereits gierig um die leckersten Stücke aus seinem Kadaver balgten. Nach einer Stunde erschien die Putzkolonne der Epsilongruppe. Die muskulösen Frauen hoben Dude beziehungsweise den Rest, den die Schakale übriggelassen hatten, auf und warfen ihn in eine mobile Mischmaschine zu den anderen Arbeitern und Beamten der unteren Ränge, die heute ihr Leben ausgehaucht hatten. Die Beseitigung der Leichen war hervorragend organisiert und bis ins kleinste Detail geregelt. Die höherstehenden Chargen wurden eingeäschert und würdevoll bestattet, während man die operativ Tätigen in einer Mühle zu Pulver zerrieb. Das so gewonnene Mehl diente in den kargen Wintermonaten als willkommene Nahrungsergänzungsbeilage.

Nun saß ich also auf einem Ast in der ersten Etage eines Maulbeerbaums und stellte fest, dass es mir dort gefiel. Die Welt sah von oben betrachtet anders aus, als wenn man sich mittendrin im Gewimmel befand. Meine scharlachroten Kollegen marschierten ohne Unterbrechung in stupider Routine zehn Meter nach Nordosten, erreichten dort eine halbverweste Katze, die sie fachgerecht zerlegten, schulterten exakt zwölf Gramm und kehrten dieselben zehn Meter – allerdings auf der gegenüberliegenden Fahrbahn – ins Basislager zurück. Sämtliche Bewegungen einstudiert, jeder Handgriff minutiös vorgeschrieben. Es existierten Statistiken über Maximalalter und Durchschnittsverbrauchsmengen für die Arbeitsameisen. Für mich und Dude war das Leben immer ein einziges Zahlenspiel gewesen.

Niemand schien mich zu vermissen; dachte ich zumindest, bis mich am vierten Tag eine Beamtin des Ordnungsamtes ansprach.
»He du, was treibst du da oben?«
»Nichts Besonderes. Ich sitze hier und starre in die Gegend.«
»Wozu soll das nütze sein?«
»Keine Ahnung. Mir gefällt es.«
»Komm sofort runter und nimm deine Arbeit wieder auf!«
»Vielleicht morgen. Heute habe ich keine Lust dazu.«
»Du wirst schon sehen, was du von deiner Aufsässigkeit hast. Ich werde die Behörden informieren.«

Niemand bekommt mich hier so schnell wieder runter

Mein Fall war wohl derart ungewöhnlich, dass niemand so recht zu wissen schien, wie man damit umzugehen hatte. Folgerichtig dauerte es eine Weile, bis zwei Uniformierte unter meinem Baum auftauchten.

»Schluss jetzt mit dem Unsinn!«
»Wie meinen Sie das?«
»Es kann Ihnen doch keine Freude bereiten, tagelang auf einem morschen Zweig zu kauern.«
»Doch, ich fühle mich hier außerordentlich wohl.«
»Sie fallen der Allgemeinheit zur Last.«
»Warum? Ich bettele niemanden an.«
»Wir werden Sie auf keinen Fall mit Lebensmitteln versorgen.«
»Kein Problem, ich bin nicht hungrig. Notfalls melke ich mir eine Laus.«
Der Ältere blickte den jungen Helmträger an, zuckte mit den Schultern und meinte schließlich:
»Lassen wir den alten Spinner eben da oben hocken. Er macht einen friedlichen Eindruck auf mich.«

Der Sommer ging vorüber, und der Herbst zog ins Land. Ich saß immer noch auf dem Baum, hatte allerdings den Ast gewechselt und war ein Stockwerk weiter nach oben gezogen. Links und rechts konnte ich fremde Fabrikhallen erkennen, vor denen grün-blau-gestreifte und schwarze Ameisen hektisch wuselten. Sieht ähnlich aus wie bei uns, ging es mir durch den Kopf.

»Möchtest du dich neben mich legen und mir Gesellschaft leisten?«
Eine brünette Liebesameise hatte sich unten in Positur gestellt und entblößte ihre prallen Brüste.
»Krabbele zu mir nach oben, und wir können uns hier aneinander erfreuen.«
»Warum kletterst du nicht runter zu mir? Auf der Wiese ist es bequemer.«
»Weil ich diesen Baum so schnell nicht verlassen werde.«
»Du bist dir sicher?«
»Tausend Prozent.«
»Da kann man nichts ausrichten. Der Alte scheint verrückt zu sein. Gehört in die Irrenanstalt. Wer bezahlt mich jetzt?«, wisperte sie in ihr pinkfarbenes Walky Talky und verschwand.

Auch zum Spion tauge ich nicht

Die Nächte wurden allmählich länger und frostig. Es gab nun Momente, in denen ich meinen Entschluss, auf einem Ast zu sitzen, bereute. Ein atemberaubendes Panorama, das sich mir jeden Morgen bei Sonnenaufgang bot, entschädigte mich jedoch für alle Entbehrungen. Das Essen hatte ich mir großenteils abgewöhnt. Der in den Blättern aufgefangene Tau reichte mir vollkommen. Es mangelte mir an nichts. Ich begann, mich eins mit dem Universum zu fühlen.

»Verfertigen Sie Notizen von dem, was Sie von da oben sehen?«
»Nein, sollte ich?«
»Den Ministerrat würde schon interessieren, was in den Nachbarvölkern passiert.«
»Aufs Schreiben verspüre ich wenig Lust.«
»Sie sind ein schlechtes Vorbild.«
»Weshalb?«
»Wenn alle es nun so machen würden wie Sie?«
»Es tut aber niemand außer mir.«

Als im März die ersten Vorboten des Frühlings nahten, fühlte ich meine Kräfte schwinden. Noch hielt ich mich mit Mühe auf meinem Ast. Im April war es aber um mich geschehen , und ich plumpste wie eine reife Frucht auf den morgens noch leicht gefrorenen Boden. Fünf Arbeiterinnen der Omikrongruppe entdeckten mich, warfen meinen zitternden Leib auf eine Trage und transportieren mich ins Zentralkrankenhaus. Drei Krankenschwestern schnitten mir dort den Bart und wuschen meinen vor Schmutz starrenden Körper. Daraufhin wurde ich in einen Rollstuhl verfrachtet und in den Thronsaal geschoben, wo sich die dicke Königin gerade von zwei Lustpagen den nackten Bauch massieren ließ.

Die Königin ist nicht amüsiert

»Hat er gesehen, dass wir nicht alleine auf der Welt sind?«
»Vermutlich schon.«
»Seine Beobachtungen hat er weitererzählt oder gar aufgeschrieben?«
»Nicht, dass wir davon gehört hätten.«
»Das ist erfreulich. Denn es wäre nicht gut für die Wertschöpfung, wenn das Volk auf dumme Gedanken käme. Zumal die undankbaren Arbeiter ohnehin schon murren.«
»Wollt Ihr ihn fressen?«
»Nein, er ist zu alt und knochig. Zudem riecht er stark nach Desinfektionsmitteln. Werft den unnützen Kerl in die Mühle und zerhäckselt ihn zu Notproviant für den nächsten Winter. Und sägt den Ast ab, auf dem er gesessen hat. Bloß keine Wallfahrten meines scharlachroten Volkes zum Maulbeerbaum!«

Bild von Prawny auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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