Apfelkuchen in Memphis

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Apfelkuchen, Memphis, Mississippi, Sentenza, Kopfgeldjäger

Ich falle von einer Brücke in den Mississippi, wache Stunden später zu Hause auf dem Sofa auf und stelle fest, dass sich meine Mutter mit meinem Retter schon sehr angefreundet hat. Der fragt mich, ob ich bei ihm das Handwerk der Kopfgeld-Jägerei erlernen möchte. Das sei ein solider und krisenfester Beruf.

Aus der Kindheit von Hank C.

»Kannst du schwimmen, Kleiner?« Der untersetzte Mann, der überraschend neben mir stehengeblieben war, sprach mich sanft an, und ich bemerkte, dass sein Atem nach Bourbon roch.
»Noch nicht so richtig, Mister«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Ungewollter Sprung in den Mississippi

Er blickte sich rasch nach links und rechts um. Daraufhin murmelte er: »Wird Zeit, dass du es lernst«, packte mich am Kragen, hievte mich über die Brüstung und warf mich von der De-Soto-Bridge hinunter in die um diese Jahreszeit braun- schlammigen Fluten des Mississippi. In den Sekunden, in denen ich endlos fiel, hörte ich ihn laut, »Hilfe, da ist gerade ein Junge ins Wasser gestürzt«, rufen, dann tauchte ich ein in schmutzigen Wellen des um diese Jahreszeit trägen Stroms. Während ich langsam nach unten auf den Grund des Flusses trudelte, beobachtete ich mit Interesse die um mich herumflitzenden Silberkarpfen, die mir wie einem alten Freund vertrauensvoll zuzwinkerten. Für einige Sekunden fühlte ich mich pudelwohl in der neuen Umgebung, bis ich erschrocken feststellte, dass ich Wasser anstatt Luft in meine Lungen pumpte. Das Lächeln der Flussbewohner verwandelte sich inzwischen in ein blödes Glotzen. Wie weit ziehen die Alligatoren im Sommer eigentlich nach Norden?, ging es mir panikartig durch den Kopf, derweil sich mein Augenlicht eintrübte. Bereits halb im Dämmerzustand zwischen Leben und Tod erspähte ich einen Schatten ähnlich einem Krokodil, der sich mit kräftigen Stößen schnell auf mich zubewegte, meinen Körper mit festem Griff umklammerte und an die Oberfläche bugsierte. Auf dem Rücken paddelnd, mit mir zwischen den Beinen, schleppte mich mein Retter ans Ufer, wo er sich über mich beugte und den Brustkorb mit rhythmischen Handbewegungen bearbeitete. Ich erbrach literweise dreckige Mississippibrühe und japste nach Luft.

»Du bist ein zäher Bursche. Das gefällt mir«, grinste der Mann mich mit schadhaften Zähnen an. »Wir sind aber noch nicht ganz fertig«, erklärte er und versetzte mir einen gezielten Kinnhaken, sodass mir erneut schwarz vor Augen wurde.

Der Fremde lobt Ma’s Apfelkuchen

Als ich aufwachte, lag ich auf der Couch im Wohnzimmer meines Elternhauses und hörte, wie sich Ma mit dem Fremden, der mich vorhin in den Fluss geworfen hatte, angeregt unterhielt.

»Das ist ein ganz ausgezeichneter Apfelkuchen, den Sie backen, Mrs. Chinaski. So einen guten habe ich seit Jahren nicht auf der Zunge gehabt.« Der Kerl leckte sich genießerisch die Fingerkuppen seiner rechten Hand ab.

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen für die Rettung von Hank bedanken soll. Das war wirklich heldenhaft von Ihnen, dass Sie ihm sofort hinterhergesprungen sind. Er ist manchmal so verträumt. Mir unbegreiflich, weshalb er auf dem Geländer stand und dort balancierte. Mit Ihnen hat er auf jeden Fall einen mutigen Schutzengel gefunden.«
»Das war doch selbstverständlich. Ich kann so einen sympathischen Jungen schließlich nicht direkt vor meiner Nase absaufen lassen.« Der Mann langte mit gesundem Appetit zu und hatte bereits das halbe Backblech verputzt.
»Ich schaue in der Küche nach, ob ich dort noch eine Kleinigkeit fürs Abendessen finde.« Ma stand vom Tisch auf und verließ auffällig mit den Hüften wackelnd den Raum.

Der Fremde saß unterdessen tief über seinen Teller gebeugt und flüsterte, während er mir weiterhin den Rücken zuwandte: »Bist du endlich wieder munter geworden. Befürchtete zwischendurch, dass dich mein harmloser Schlag eventuell zu stark beschädigt hätte. Du neugieriger Bengel hast sicher mitbekommen, wie vertraut deine reizende Mutter und ich miteinander geplaudert haben.«
»Was machen Sie hier? Sie hätten mich beinahe umgebracht. Ich werde das gleich meiner Ma erzählen.«
»Petzen leben gefährlich. Wenn du möchtest, dass du und sie diesen Abend übersteht, würde ich an deiner Stelle den Mund halten. Wäre jammerschade um euch beide. Glaubst du allen Ernstes, ich hechte dir hinterher in den stinkenden Mississippi, um mich im Nachhinein von dir kleinem Bastard verpfeifen zu lassen? Ein Ton von dir und ….« Er drehte sich nun lächelnd zu mir um und fuhr sich langsam mit dem rechten Zeigefinger über den Kehlkopf.

Obwohl noch leicht benommen von den Geschehnissen dieses turbulenten Tages begriff ich die tödliche Ernsthaftigkeit, die hinter den leise vorgebrachten Worten des Fremden lag und zog es vor zu schweigen, um die Situation nicht unnötig zu verschlimmern. »Bist ein kluger Junge. Das ist mir vorhin schon auf der Brücke aufgefallen«. Der Mann schmunzelte vergnügt und pickte beigefarbene Kuchenbrocken aus den Lücken zwischen seinen Zähnen.

Ma und der Fremde freunden sich schnell an

Meine Mutter kehrte freudestrahlend mit einer großen Platte Sandwiches und drei Dosen Budweiser zurück, schaltete das Radio ein und tänzelte wie ein Go-go- Girl um den Tisch. Auf GSB spielten sie gerade: Sittin on the dock oft he Bay von Otis Redding. Seitdem Dad vor zwei Jahren mit der nymphomanen Schlampe von nebenan durchgebrannt war, lebten wir sehr zurückgezogen. Mom‘s Alltag bestand aus Treppen wischen in der Nachbarschaft, dem Bügeln der Arbeitsklamotten einiger Matrosen und der Aushilfe im Trucker-Diner an der großen Kreuzung. Trotzdem reichte das Geld kaum für das Notwendigste. Die Rechnungen für Strom und Wasser konnten wir nicht jeden Monat zahlen, sodass ich manchmal bei den befreundeten Millers gegenüber duschen musste. Der rotgesichtige und im Sommer übel schwitzende Reverent Pelham von der Methodistengemeinde steckte uns hin und wieder ein Almosen zu, das er heimlich der sonntäglichen Kollekte entnahm, wobei er für jeden lumpigen Fünfdollarschein kräftig an Ma‘s Hintern grapschte. Sie erduldete es mit stoischer Fassung. Die Kleidung, die ich am Leib trug, bestand aus gebrauchten Jeans und Hemden, die im nach Mottenpulver stinkenden Laden der Heilsarmee verschenkt wurden. Jeweils am dritten Samstag im Monat traf sich Mom mit vier Freundinnen zum Bingo. Gemeinsam tranken sie eine Flasche billigen italienischen Perlwein, spielten um geringe Centbeträge und kicherten um zwanzig Uhr wie betrunkene Hühner. Obwohl erst Anfang dreißig sah sie bereits alt und verhärmt aus. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie früher einmal jung und hübsch gewesen war.

Ma hatte sich die Haare hochgesteckt, schnell das zitronengelbe Festtagskleid angezogen und ein billiges, blumiges Parfum aufgelegt.

»Hank, bist du aus deiner Ohnmacht erwacht. Schön! Das ist Mr. Sentenza, der dir vor zwei Stunden das Leben gerettet hat. Komm her und bedanke dich bei ihm.«

Ich zögerte einen Moment, erinnerte mich aber an die furchteinflößende Warnung und schüttelte widerwillig die schwielige Hand des grobschlächtigen Typen.

»Setz dich zu uns und hör zu, was der charmante Mister Sentenza für aufregende Geschichten aus dem Koreakrieg berichtet.«

Von Koreakrieg und der Kopfgeld-Jägerei

Mom schien es zu gefallen, endlich einen Mann im Haus zu haben. Bei unserer kläglichen Situation konnte sie nicht besonders wählerisch vorgehen. Dessen war ich mir bewusst. Ob es allerdings mein Beinahe-Mörder sein musste? Hoffentlich bleibt der Gauner nur für eine Nacht, grübelte ich, während ich mir stumm Bratkartoffeln auf den Teller schaufelte.

»Was genau war denn Ihr Job bei der Army?«, Ma betrachtete den Fremden mit einem erschreckend anhimmelnden Blick.
»Nicht so förmlich. Nennen Sie mich einfach Angel.«
»Aber gerne. Ich heiße Jeanett.«

Die beiden hatten ganz offensichtlich Gefallen aneinander gefunden. Mir schwante für die nächsten Wochen nichts Gutes. Meine Zeit als alleiniger Beschützer im Haus neigte sich abrupt dem Ende zu. Vermutlich bietet sie ihm gleich auch noch den Platz neben sich im Ehebett an, überlegte ich und quetschte den letzten Rest Ketchup auf einen Schinkentoast.

»Hör mal Hank: Deine Mutter und ich haben uns heute ein bisschen angefreundet. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich in Zukunft häufiger bei euch nach dem Rechten sehe und ab und an hier übernachte? Oder nimmst du mir die Nummer vorhin auf der Brücke noch krumm? Es soll dein Schaden nicht sein. Ich bringe dir dafür Angeln und Schießen bei.«
»Hört sich interessant an. Wo haben Sie gelernt, mit Waffen umzugehen? In Korea? Oder waren Sie bereits in Europa dabei?«
»Weder noch. Vom Krieg fürs Vaterland halte ich nicht allzu viel. Der ist was für patriotische Schwachköpfe. Ich verdiene meine Kohle als Bounty Hunter.«
»Sie sind ein Kopfgeldjäger???«

Bild von FoxTierDesigns auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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