Der Marquis in der Sardinenbüchse (2)

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In Teil 2 taucht auch noch Juliette auf, und der Marquis begreift, dass es höchste Zeit wird, die letzte Reise anzutreten.

»Justine. Das kann nicht sein.« Der Graf spürte, wie ein glühend heißer Lavastrom seine Wirbelsäule entlangkroch.
»Ja. Und neben mir meine Schwester Juliette.« Die junge Frau freute sich offensichtlich über das Wiedersehen mit dem Grafen und strahlte ihn liebenswürdig an. »So sahen wir aus an dem Tag, an dem du uns zuerst mit Schlafmohn gefügig gemacht und dann gemeinsam mit deinen lasterhaften Freunden vergewaltigt und verunstaltet hast. Wir waren damals beinahe noch Kinder, als du uns den Folterknechten zum Fraß anbotst.«

Vor des Marquis flackernden Pupillen verwandelte sich Justines rechter Arm in eine riesige Schere, mit der sie ihrer Schwester blitzartig den Busen abtrennte. Die blutenden Brüste legte sie in die Hände des Alten, derweil sie sanft auf ihn einredete: »Streichele und liebkose die zarten Knospen so, wie du es damals tatst.« Die verstümmelte Juliette blieb stumm und beobachtete interessiert jede Regung ihres früheren Peinigers.

»Nein, das werde ich nie und nimmer tun. Das ist nur ein böser Traum«, jammerte der Marquis und sank kraftlos in die Knie.

Verhöhnt von der früheren Geliebten

»Wahn oder Wirklichkeit: wer kann die zwei Seiten derselben Medaille jederzeit auseinanderhalten? Was ist nur aus dir geworden? Vor wenigen Jahren noch warst du ein experimentierfreudiger und tatendurstiger Mann, der nun als sabbernder Greis in Charenton vegetiert und auf den Tod wartet.«
»Ihr seid Gespenster aus meiner Vergangenheit, die ich längst vergessen habe. Bloße Trugbilder meiner überreizten Fantasie.«
»Du wirst uns niemals aus deinem Gedächtnis löschen können. Egal, an welchem Ort du dich versteckst und mit welchen Drogen du dich betäubst. Dafür war das Verbrechen, das du uns angetan hast, zu abscheulich.«
»Lasst mich alleine! Ich bitte euch inständig. Ich bin an diesem weltabgeschiedenen Platz, um endlich meinen Frieden zu finden.«
»Ausgeschlossen!«

Vor den Augen des Marquis wurde es schwarz und eine gnädige Ohnmacht befreite ihn von seinen Trugbildern.

»Wach auf, du liederlicher Greis!« Ein jugendlicher Wärter mit pockennarbigem Gesicht schüttete einen Eimer braunes Wasser über den bewusstlosen Mann. Der Marquis rappelte sich hoch und wankte zu seinem Schreibtisch. »Verschwinde, du idiotischer Sohn einer debilen Mutter«, zischte er leise. Der Junge lachte hell auf, und das Echo seiner Stimme gellte noch lange durch den dunklen Korridor.

Gefangen in einer Sardinenbüchse

Ich bin ein Gefangener meiner trübsinnigen Gedanken, der eingezwängt in einer Sardinenbüchse haust, notierte der Aristokrat in sein Tagebuch, zeigte sich unzufrieden mit der Formulierung, wollte deshalb gerade die Seite herausreißen und zu den anderen Papieren werfen, die sich neben dem Stuhl zu einem großen Haufen getürmt hatten, als ein Blutgefäß in seinem Hirn zerplatzte und er leblos zu Boden sank.

Einige Stunden später entdeckten ihn die Aufseher der Nachtschicht, die den Alten vorsichtshalber mehrmals in den Unterleib traten, um sicherzugehen, dass der Inhaftierte tatsächlich für immer von der Bühne des Welttheaters abgetreten war, bevor sie die Angelegenheit ihren Vorgesetzten meldeten. Sie ließen ihn so, wie sie ihn gefunden hatten, auf dem kalten Granit liegen, weil das strenge Regelwerk der Anstalt in einem solchen Fall die zwingende Hinzuziehung eines Arztes erforderlich machte. Zuerst musste der Graf gewissenhaft untersucht, seine Todesursache diagnostiziert und die Sterbedokumente aufgesetzt werden, bevor die Leiche bewegt werden durfte.

Am Morgen danach betraten drei Frauen – zwei davon in mittlerem Alter, adrett zurecht gemacht und hübsch anzusehen – die Zelle und betrachteten stumm den bereits leicht aufgedunsenen Körper des Greises, über den hungrige Ratten huschten. Ein dicker Kater, wie sie die Anstalt zur Eindämmung der Schädlingsplage hielt, verrichte soeben seine Notdurft auf die zerrissene Strumpfhose des Marquis. Der rechte Flügel der aristokratischen Nase fehlte und befand sich vermutlich im Verdauungstrakt entweder eines Nagetiers oder der gierigen Katze.

»Er ist nicht mehr der Jüngste«, unterbrach die Ältere das Schweigen.
»Auf jeden Fall nicht der charmante Verführer, als den wir ihn kennengelernt haben«, ergänzte die Jüngere.

»Was sollen wir jetzt mit dem Leichnam tun, meine Damen?« Die Direktorin der Irrenanstalt von Charenton-Saint-Maurice wandte sich fragend an die Schwestern Prospère.
»Ziehen Sie ihm die Haut vom Leib und verfüttern Sie die Innereien an die Hunde. Von ihm soll nichts übrigbleiben. Noch nicht einmal ein Holzkreuz darf an dieses Schwein erinnern.«
»Sei nicht so nachtragend, Juliette.«
»Hasst du ihn etwa nicht?«
»Ich habe ihm längst vergeben.«
»Weil du ihn geliebt hast?«
»Ja.«
»Du bist verrückt, Justine.«
»Mag sein. Ich weiß es nicht so genau.«

Knie nieder und bete neben dem unglücklichsten unter den Menschen

In den Abendstunden des zweiten Dezember 1814, als die Île-de-France im Schnee versank und die Pariser Bevölkerung die Wiederkehr Bonapartes herbeisehnte, wurde der Marquis Donatien Alphonse François de Sade still und heimlich zu Grabe getragen. Einzig der Überredungskunst der Direktorin und einer großzügigen Spende der jüngeren Schwester Prospère an das Couvent des Ursulines in Bobigny war es zu verdanken, dass sich ein Geistlicher dazu bereit erklärte, dem Verstorbenen die letzten Sakramente zu erteilen und eine kurze Messe zu lesen. Da die Familie, die in der Provence in hohem Ansehen stand, ihrem entarteten Spross die Beisetzung in der gräflichen Gruft verweigerte, verscharrte man den Leichnam in einer eilends unterhalb der östlichen Klinikmauer ausgehobenen Grube. Zwei Frauen mittleren Alters standen schweigend daneben. Die eine mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen, während der anderen Tränen über die Wangen liefen.

Der schlaue Polizeiminister Fouché, der vielen Herren treue Dienste leistete, ließ noch am selben Tag sämtliche Manuskripte des Marquis konfiszieren, um sie vorübergehend wegzuschließen, damit sich Napoleon nach seiner – in Kürze zu erwartenden – Rückkunft aus dem Exil nicht unnötig über die Schmutzliteratur des verkommenen Aristokraten echauffieren musste. Denn der Kaiser hasste den provençalischen Grafen aus tiefstem Herzen, weil der einige Jahre zuvor eine Satire auf ihn verfasst hatte, in der er den Korsen wegen dessen Kleinwüchsigkeit und der damit einhergehenden Großmannssucht schmähte.

Justine erwarb indessen auf eigene Kosten eine schwarze Grabplatte, in die sie einen Steinmetz folgende Worte eingravieren ließ: Der du vorübergehst, knie nieder und bete neben dem unglücklichsten unter den Menschen.

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Bild von Stefan Keller auf Pixabay 

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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