Der Marquis in der Sardinenbüchse (1)

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Klack … klack … Grabesstille… Zwei lächelnde Totenköpfe kullerten über die Granitplatten des Mittelgangs vorbei an verriegelten Türen … Kleine Erzählung der letzten Stunden des Marquis de Sade in der Irrenanstalt von Charenton.

Klack … klack … Grabesstille…
Zwei lächelnde Totenköpfe kullerten über die Granitplatten des Mittelgangs vorbei an verriegelten Türen. Das Geräusch ihrer arrhythmischen Berührung mit dem kalten Untergrund hallte von den Decken und Wänden der Anstalt wider.
Klack … klack … Grabesstille …

Das Gitter an der Stirnseite des Flurs stand offen, und die Schädel rollten in die kleine Zelle hinein. Als sie in der Mitte der spartanisch eingerichteten Kammer gegen die Füße eines Greises prallten, verlor der aufgrund des unerwarteten Zusammenstoßes sein Gleichgewicht und stürzte der Länge nach zu Boden. Benommen krabbelte der Alte auf allen vieren zu seiner Pritsche und zog sich mühsam nach oben.

Drei hünenhafte Männer in hellblauen Anzügen schälten sich aus dem Dunkel des Korridors heraus, betraten grinsend den winzigen Raum und sprachen den Bewohner freundlich an:

De Sade gerät in Zorn

»Das sind die traurigen Überbleibsel von Justine und Juliette, die du bei deinen perversen Orgien zuerst geschändet und dann in Stücke gerissen hast. Die Skelette – oder das, was du von den Körpern der Frauen übriggelassen hast – hat man endlich in einem Geheimverlies deines Stadtpalais aufgespürt. Wenn du möchtest, bringen wir dir morgen neue Knochen zum Beschnuppern mit. Vielleicht erkennst du ja den ein oder anderen verformten Schädel wieder, den du mit glühenden Zangen traktierst hast.«
»Lasst mich in Ruhe, ihr stumpfsinnigen Bastarde! Was versteht ihr in eurer den Schöpfer beleidigenden Blödheit schon von der Kunst der raffinierten Liebe?« Der feingliedrige Greis trat zornig in eine Pfütze und bespritzte den ihm am nächsten stehenden Mann mit der nach Pisse stinkenden Brühe.
»Du solltest uns und Gott nicht zu oft in unserer Ehre kränken. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir dich schneller vor sein Angesicht befördern, als dir lieb ist.« Der beschmutzte Aufseher hob drohend die Faust, blieb aber ansonsten ruhig und gelassen.

Der Alte schleuderte ihnen als Antwort eine dermaßen ordinäre Zote entgegen, dass selbst die an
vielerlei Arten der Lästerung der heiligen Jungfrau gewöhnten Wärter zusammenzuckten und sich eilig bekreuzigten. Der spontane Wutausbruch ihres Schutzbefohlenen flaute jedoch genauso schnell ab, wie er aufgelodert war und verwandelte sich in ein tierisches Wimmern.

Die Wächter verschwanden und rissen draußen Witze über den sonderbaren Gefangenen, ließen die Tür der Kammer allerdings einen Spalt breit geöffnet. Der Greis blieb alleine zurück und vergrub das Gesicht stumm in seinen Händen. Einige Minuten rannen träge dahin, in denen er niedergeschlagen über die Geschehnisse der Vergangenheit nachdachte. Eine Vergangenheit, die sich für ihn – einen Spross aus altehrwürdigem Hause – zumeist angenehm und sorgenfrei dargestellt hatte.

Justine tritt ein

Plötzlich bohrte sich ein spitzer Finger von hinten in sein linkes Schulterblatt hinein. Aufgrund des zu dieser Stunde unerwarteten Besuchs schreckte der Graf jäh aus seinen Träumen auf und schnellte ruckartig herum. Wie vom Donner gerührt starrte er in das von Säure zerfressene Gesicht einer alten Frau.

»Erinnerst du dich an mich, François?«, nuschelte sie und zupfte gedankenverloren an ihrem Ohr, das sich bei der Berührung vom restlichen Kopf löste und in den Haufen zerknüllter Papiere neben dem Tisch segelte.
»Nein. Ich bin Ihnen noch nie begegnet, Madame«, stotterte der Greis, während die Farbe aus seinen eingefallenen Wangen wich.
»Du siehst so süß aus, wenn du lügst«, lächelte sie und entblößte ihren zahnlosen Mund. »Ich bin es, deine Justine. Um dir nahe zu sein, habe ich mich ebenfalls in Charenton einweisen lassen.«
»Das kann nicht sein. Du bist seit Jahren tot«, schrie der Inhaftierte empört.

»Woher willst du das so genau wissen?« Die Alte schaute ihn neugierig an.
»Weil ich dich, …«
»Weil du was? … Mich eigenhändig stranguliert hast?« Justine kicherte amüsiert. »Das hast du dir damals bloß eingebildet. Ich bin nach wie vor quicklebendig und sehne mich nach dir, François. Möchtest du mit mir schlafen? Die Wächter werden uns nicht stören. Denen habe ich ein fürstliches Trinkgeld versprochen, wenn sie uns für eine Stunde ungestört lassen.«
»Gehen Sie fort von hier, Madame. Ich ertrage Ihre Anwesenheit nicht länger.« Der Greis schluchzte,
sodass seine Worte undeutlich klangen und Justine ihn nur verstehen konnte, indem sie sich auf die Bewegungen seiner Lippen konzentrierte.
»Du wirst dich schon noch an mich gewöhnen, mein Liebster. Du sitzt hier lebenslang, und die Nächte sind einsam.« Die grauenhaft anzusehende Geliebte drehte sich um und verließ den Raum, woraufhin der Graf erneut in stumpfes Brüten verfiel.

Der Marquis fürchtet sich

Mit einem Mal hörte er die Wände atmen, die raureifüberzogene Decke des Raums schwebte empor und durch die Ritzen der auseinanderklaffenden Steinplatten schlüpften gallertartige Gestalten in die Zelle hinein, glitten langsam über Bett und Stuhl, grinsten fade und riefen ihn endlich mit lautlosen Stimmen an, ohne dabei ihre maskenhaften Mienen zu verziehen.

»François, der Tag der Abrechnung naht. Mach dich bereit, in die Hölle zu fahren und mit dem Teufel über deine Zukunft zu feilschen. Von allen Satansjüngern, die jemals auf dem Erdball ihr Unwesen trieben, bist du der Schlimmste.«

Der Schweiß brach dem Alten aus allen Poren, sein Puls raste. In der Kammer herrschte Dunkelheit; einzig ein schwacher Lichtstrahl des Mondes zwängte sich durch die winzige Fensteröffnung und erhellte spärlich die gespenstische Szene. Er hörte, wie die Schatten raunten und ihn verspotteten; schlotterte, als sich die leeren Höhlen in den Fratzen der Dämonen mit Feuerbällen füllten und ihm hasserfüllte Blicke entgegenschleuderten. Im Wimpernschlag einer Sekunde entkleideten sie sein Leben von der aristokratischen Fassade und stürzten ihn in den tiefsten Abgrund seiner schwarzen Seele.

Zwei Figuren lösten sich aus dem Schreckensnebel , nahmen Kontur an, und der Marquis bemerkte in ihnen seine einstigen Gespielinnen. Mit zitternden Fingern rieb er sich über die Augen; in der Hoffnung, dass der Spuk ein Ende nahm und die Geister sich in Luft auflösten.

»Erkennst du mich nun, mein Gebieter?« Die Grimasse der zahnlosen Alten verwandelte sich übergangslos in ein engelgleiches Gesicht.

In Teil 2 taucht auch noch Juliette auf, und der Marquis begreift, dass es höchste Zeit wird, die letzte Reise anzutreten.

Bild von Marc Pascual auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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