Dezembernachts am Rialto

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Ich kehre nach 30 Jahren nach Venedig zurück, um dort des Todestags meiner Verlobten Tiziana zu gedenken. Es sehr neblig, und mir laufen einige merkwürdige Gestalten über den Weg.

Die Dienstmänner auf dem Bahnhof Santa Lucia verfrachteten die letzten Pakete in den Gepäckwagen des auf Gleis 7 bereitstehenden Orientexpresses, die Baristi wischten gähnend die Kaffeeflecken von den kleinen Plastiktischen und der Kioskbesitzer ließ gerade mit Geschepper das metallene Rollo vor seiner Zeitungsauslage herunter, als ich mit einem der letzten Vorortzüge vom Festland kommend in Venedig eintraf. Auf dem Rückweg von Rom hatte ich ich kurz vor Verona den dringenden Wunsch verspürt, von der A22 auf die Serenissima abzubiegen und meiner alten Jugendliebe einen kurzen Besuch abzustatten. So als ob eine geheimnisvolle Stimme mich mahnte, nach vielen Jahren endlich das Grab meiner einstigen Verlobten Tiziana aufzusuchen. Bring ihr rote Nelken mit. Darüber wird sie sich am meisten freuen. Wie von einer rätselhaften Macht gesteuert hatte ich daraufhin vor zwei Stunden die Autobahnen gewechselt. Den Wagen parkte ich in Mestre und stieg dort in die S-Bahn, die im Zwanzigminutentakt in die Lagunenstadt hineinpendelte.

Mädchen mit der Stimme einer Greisin

Der Bahnhof wirkte bedrückend und leer, geradezu abweisend in seinem geborstenen Betoncharme der fünfziger Jahre. Ich schlug den Kragen meines Mantels höher, durchquerte mit raschen Schritten die verwaiste Halle und hastete nach draußen. Die Stadt empfing mich mit Nebel, der so dicht gepackt war, dass ich die einzelnen Stufen, die vom Bahnhof auf den Vorplatz herabführten, nur mit Mühe erkannte.

Ungefähr auf halber Treppe stieß ich mit einem in Rot gekleideten Kind zusammen. »Verdammt«, erschrak ich mich leise. Was hat die Kleine um diese Uhrzeit alleine auf der Straße zu suchen? »Mi scusa, Signore«, raunte sie mit der Stimme einer Greisin zurück. Bevor ich verwundert antworten konnte, verschwand das Wesen auch schon wieder in der Dunkelheit.

Der Nebel war von der Art, wie man ihn im Spätherbst in Norditalien häufig erlebte. Breiartig bis zäh, von einer geradezu klebrigen Konsistenz und überfallartig in die weite Poebene einbrechend. Der Dunst hatte an diesem Abend etwas Gespenstisches an sich. Er glich der verlorenen Seele eines toten Matrosen, die gestrandet am Lido über die Lagune waberte, sich auf Höhe der Bleikammern in tausend Krakenarme zerfaserte und jetzt mit ihren Tentakeln in jede einzelne Gasse Venedigs eindrang. Aufgrund der Witterungsverhältnisse fuhren die Vaporetti nicht, sodass ich mich notgedrungen auf den Fußmarsch in Richtung Piazza San Marco machen musste. Außer mir schien niemand unterwegs zu sein. In einem schmalen Durchgang rechts der Rialtobrücke hielt ich an und blickte auf die andere Seite hinüber in der Hoffnung, das mir bei früheren Aufenthalten in der Stadt liebgewordene Fondaco dei Tedeschi zu erspähen. Es gelang mir nicht. Für die Dauer eines Wimpernschlags meinte ich, das rote Mädchen inmitten des Kanals schweben zu sehen. Blödsinn.

Sie kann schließlich nicht übers Wasser laufen, beruhigte ich meine leicht überreizten Sinne. In einer kleinen Bar, die ich zu meiner Linken entdeckte, kehrte ich ein und bestellte einen Spritz Veneto. Ein Getränk auf Weißweinbasis vermischt mit Acqua Minerale und Campari. Neben mir lehnten zwei alte Männer an der Bar und fachsimpelten über Fußball. Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal und herein trat eine grell geschminkte Frau in einem roten Minirock, die einen Frizzante orderte. Wahrscheinlich eine der Hafenhuren aus Marghera auf dem Heimweg, überlegte ich. »Lei ha bisogno di una putana?«, erkundigte sich der Barkeeper bei mir und nickte mit dem Kopf in Richtung der Frau. »Lassen Sie es gut sein«, erwiderte ich. »Mir wäre im Augenblick mit einem Restaurant eher gedient.«

Gespenstischer Nebel

»Um diese Stunde nicht so einfach. Ganz in der Nähe kann ich Ihnen eine gemütliche Osteria vorschlagen. In der müssten Sie noch was Warmes bekommen«, erklärte mir der Bartender, während er seine rote Fliege zurechtrückte. »Seien Sie vorsichtig, mein Herr, bei einer Suppe wie heute weiß man nie«, gab mir einer der beiden Alten als Ratschlag mit auf den Weg und warf dabei vergnügt seine rote Mütze in die Luft.

Das empfohlene Restaurant befand sich nur einige hundert Meter entfernt im Sestiere Castello, einem Stadtviertel, das ich von früher her gut kannte. Hier war ich vor vielen Jahren mit meiner ehemaligen Freundin oft engumschlungen am Kanal entlang spaziert. Bevor sie sich eines Abends im November von der Brücke warf und vor meinen entsetzten Augen ertrank. Ich war damals minutenlang wie gelähmt und nicht in der Lage gewesen, ihr hinterherzuspringen und sie zu retten. Die Geschichte lag mittlerweile knapp dreißig Jahre zurück. Das Herz wurde mir schwer, wenn ich an das traurige Ereignis dachte.

Durch winzige Straßenzüge, die in Watte gepackt schienen, tastete ich mich langsam vorwärts, bis mich an einer Gabelung jäh eine Hand an der Schulter packte und mit kräftigem Griff in eine schummrige Taverne hineinzog.

Geheimnisvolles Herz zum Rotwein

»Buona sera. Wir haben schon auf Sie gewartet.« Der Wirt, ein untersetzter Mann jenseits der fünfzig mit fleckiger roter Schürze half mir aus dem Mantel und wies mir einen Platz im ansonsten menschenleeren Gasthaus zu.

»Che cosa beve? Ich empfehle ihnen einen Rosso von den Euganeischen Hügeln.«
»Hervorragend. Hunger habe ich auch. Deshalb geistere ich noch durch die Gegend.«
»Lo so. Viel kann ich Ihnen aber um kurz vor Mitternacht nicht mehr anbieten. Einzig eine lokale Spezialität: Cuore misterioso.«
»Was anderes haben Sie nicht im Angebot?«
»Mi dispiace. Dazu Polenta. Ist eine Spezialität des Hauses. Raffiniert gewürzt. Versuchen Sie es.
Wenn’s nicht zusagt, lassen Sie es einfach übrig. Nessun problema!«

Er verschwand in den hinteren Räumen, derweil ich am schweren Rotwein nippte. Was hatte mich überhaupt an diesen Ort getrieben? Wo sollte ich heute übernachten? Wieder zurück bis nach Mestre? Oder doch in Venedig? Auf den Lido würde ich bei diesem Wetter nicht hinübergelangen. Bliebe einzig die Möglichkeit einer kleinen Pension in der Altstadt. Der Vorhang zur Küche wehte für die Dauer eines Windstoßes zur Seite und durch den Spalt glaubte ich, den Bruchteil einer Sekunde lang erneut die kleine rote Gestalt auszumachen. Dieses Mal mit einem großen Löffel in der Hand, in einem Topf rührend.

»Buon appetito! Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«
»Ich mag Innereien wirklich nicht.«
»Non si preoccupa. Probieren Sie einen Bissen davon. Ansonsten beleidigen Sie mich.«

Mit äußerstem Widerwillen zwang ich ein kleines Stück des glibberigen Fleisches in mich hinein und spülte es umgehend mit einem großen Schluck Wein herunter. Ich pickte ein wenig in Maisbrei und Gemüse herum, bevor ich den Teller angeekelt von mir wegschob. Schlagartig spürte ich keinen Hunger mehr. Ich wollte einzig schlafen. Vom Gastgeber ließ ich mir ein preiswertes Albergo in Cannaregio empfehlen.

100 Jahre auf die Flying Dutchman

Der Nebel verstopfte mir Ohren, Mund und Nasenlöcher. Orientierungslos berührte ich mit den Fingern die Wände der Häuser, die in den schmalen Straßen kaum armbereit voneinander entfernt standen, und stolperte wie ein Blinder vorwärts, bis ich abrupt auf ein Hindernis stieß. Was zum Teufel mochte das sein? Vor mir gewahrte ich das Kapuzenkind, dieses Mal mir den Rücken zuwendend. »Musst du nicht irgendwann nach Hause, du Satansbraten?«, rief ich. Das Phantom drehte sich jetzt langsam zu mir um, und das Blut gefror mir vor Schreck in den Adern. Feuerrote Augen, eingebettet in eine medusenhafte Fratze, starrten mir böse entgegen.

»Miserabile! Seit heute Nachmittag warten wir auf deine verlorene Seele.«

Meine Füße klebten auf dem Asphalt fest. Die Beine versagten den Dienst. Unter dem Gewand blitzte ein Dolch, mit dessen rasiermesserscharfer Klinge mir der Dämon blitzschnell die Halsschlagader kappte. Während ich auf den nasskalten Boden sank, bemerkte ich noch, wie das Wesen mir in die Brust hineingriff, das Herz mit einem kräftigen Ruck herausriss und das pochende Organ dem feisten Wirt, der uns bis an diese dunkle Ecke gefolgt war, in dessen ausgestreckte Schürze warf.

»Das ist der Lohn für deinen heutigen Dienst. Im nächsten Dezember gehen wir wieder hier an Land und holen den Nächsten für unser Schiff. Zu mir gewandt zischte das Monster: »Willkommen an Bord! Die nächsten hundert Jahre gehörst du zu unserer Mannschaft.«
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Bild von Anja🤗#helpinghands #solidarity#stays healthy🙏 auf Pixabay

 

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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