Tagebuch – 8. Nov. 20

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Ich bin nackt, bin spät dran mit meiner Dusche. Quetsche die letzten Reste aus einer Plastikflasche mit blauem Deckel raus, auf der „Männershampoo“ draufsteht, lasse die Flüssigkeit von den Haaren abwärts über Schultern und Bauch auf Knie und Füße tropfen, …

Neues Tagebuch
Tag 1, 8. Nov. 2020

Ich bin nackt, bin spät dran mit meiner Dusche. Quetsche die letzten Reste aus einer Plastikflasche mit blauem Deckel raus, auf der „Männershampoo“ draufsteht, lasse die Flüssigkeit von den Haaren abwärts über Schultern und Bauch auf Knie und Füße tropfen, verreibe alles sorgfältig. Vor dem Fenster zieht ein kleiner Motorflieger seine Kreise und flitzt wie ein Slalomläufer durch die Wolken. Es ist kalt heute Morgen, neblig. Ich sprühe mir Deo unter die Achseln, verteile Rasierwasser im Gesicht. Gehe, immer noch nackt, zum Schreibtisch, schaue auf den Computer: fünf WhatsApp-Nachrichten, drei PNs und zehn Mails, davon zwei Drittel Werbung, über Nacht. War auch schon mal mehr, denke ich. Auf der linken, von meinem Blickwinkel aus vorderen Ecke des Tischs stapeln sich 100 bekritzelte Zettel, z.T. bloß die halbe Seite oder noch weniger vollgeschrieben. Die werde ich heute überfliegen und sortieren. Vielleicht ist ja was Brauchbares für eine neue Kurzgeschichte darunter. Ein Diktafon wäre sinnvoll. Nach wie vor arbeite ich aber mit handschriftlichen Notizen, wenn mir was spontan einfällt, von dem ich glaube, dass es irgendwann mal zu Papier gebracht werden könnte. Ich verlasse den Schreibtisch, gehe ins Schlafzimmer, kleide mich an. Viel zu wenig Menschen achten auf Stil hat mir vor kurzem eine Facebook-Bekannte geschrieben. Habe ich selbst überhaupt einen Stil? Immer nur dunkle Pullover und abends Butterbrote ist vielleicht auch ein Stil. Wir haben Lockdown. Mal wieder. Ich werde den Sonntag mit Lesen und Schreiben verbringen. Vorher aber noch ein paar Telefonate mit den Kindern und einem Kölner Freund, mit dem ich schon lange nicht mehr telefoniert habe, führen. Ich könnte auch einen Plan für die Zukunft machen. Wenn ich mich mit Plänen bloß nicht so schwer tun würde. Früher habe ich gerne Pläne geschmiedet: kurze, mittel- und langfristige. Vor ein paar Jahren habe ich damit aufgehört. Wozu sollen Pläne gut sein? Vielleicht bin ich morgen schon tot. Hoffentlich sterbe ich angezogen am Schreibtisch und nicht nackt unter der Dusche. Obwohl es, wenn man tot ist, eigentlich auch egal ist, ob sie einen angezogen oder nackt finden. Ich gehe in die Küche, setze neuen Kaffee auf, draußen dreht der Motorflieger ab und kehrt zum kleinen Flugplatz auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses zurück. Es ist immer noch neblig. Ich setz mich vor den Computer und fange an zu tippen: Neues Tagebuch, Tag 1, 8. November 2020.

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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