Die Schabe mit der pinken Krawatte (2)

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Ich flüchte aus dem Büro, überlege fieberhaft, wann die Verwandlung stattgefunden hat und lerne eine vergnügte Alien-Kakerlake kennen.

Da sie die Tür einen Spalt weit geöffnet ließ, konnte ich hören, wie sie das Telefon in die Hand nahm, eine kurze, hausinterne Nummer wählte und flüsterte: »Ihr müsst schnell machen! Irgendwas stimmt nicht mit meinem Boss. Er ähnelt mehr einer Kakerlake als einem Menschen. So als ob zwei Wesen in seinem Körper stecken.« Sie spazierte aufgeregt in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. »Nein, ich habe keine Halluzinationen. Beeilt euch und bringt direkt eine Zwangsjacke mit, damit ihr ihn problemlos ins nächste Krankenhaus transportieren könnt. Minimum vier kräftige Männer; andernfalls kriegt ihr ihn nicht gepackt.«

Flucht aus dem Büro

Auf eine klinische Untersuchung, die höchstwahrscheinlich mit meiner Eliminierung enden würde, hatte ich keine Lust. Ich war noch zu jung, um zu sterben. Auf jeden Fall nicht zerschnippelt auf einem Operationstisch, während sich gleichzeitig Scheinwerfer und Kameras auf mich richteten und Seziermesser in meinem Bauch steckten. Kurz entschlossen packte ich den schweren Bürostuhl und zertrümmerte die dicke Panoramascheibe. Augenblicklich ergriff ein starker Sog das Zimmer und ließ Briefe und Faxpapier nach draußen wehen, wo sie in der Luft tanzten, bevor sie auf den Bürgersteig fielen. Ich beugte mich nach vorne, tastete mit den vorderen zwei Beinen vorsichtig über den glatten Beton, fasste mir ein Herz und krabbelte ins Freie. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass meine Füße über Saugnäpfe verfügten, sodass ich die hundertfünfzig Meter, die mich vom sicheren Erdboden trennten, gefahrlos überwinden konnte.

Auf der heißen Asphaltdecke angelangt, vertraute ich auf die Kraft meiner sechs Beine und verschwand mit hoher Geschwindigkeit um die nächste Ecke, dabei den Schuhsohlen von Passanten ausweichend, die mich ansonsten achtlos zertreten hätten. Neben Müllcontainern, die hinter einem Chinesengrill standen, hielt ich an und nahm Witterung auf. Ein betörender Geruch von verfaultem Fleisch und Fischinnereien waberte in der flirrenden Mittagshitze. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte und mich überkam ein geradezu schmerzartiges Hungergefühl. Ich verschlang maßlos die Reste von Katzenfutter und aufgeweichten Glasnudeln, bis ich nahezu platzte. Mit straff gespanntem Bauch verließ ich den düsteren Hof und schleppte mich bis zu einer schattigen Rosskastanie, die in einem kleinen Park in der Nähe des Flussufers stand. Dort legte ich eine Pause ein und grübelte, wie ich mit der aktuellen Situation, die gänzlich ungewohnt für mich war, umgehen sollte.

Lässt sich die Verwandlung rückgängig machen?

Meine Transformation in ein Insekt musste heute Morgen zwischen sechs und sieben Uhr stattgefunden haben. Beim Rasieren hatte ich noch ausgesehen wie am Abend zuvor. Oder war ich schlichtweg zu verpennt gewesen, um die Veränderung zu bemerken? Spätestens beim missratenen Versuch, das Frühstücksei aufzuklopfen, hatte sich die Verformung von Händen in Scheren abschließend vollzogen. Wenn eine Möglichkeit bestanden hatte, mich in eine Schabe zu verwandeln, musste es konsequenterweise einen Weg geben, das Experiment rückgängig zu machen. Davon war ich felsenfest überzeugt. Die Metamorphose hatte sich in meiner Wohnung ereignet, also würde sie dort auch wieder aufgehoben werden.

Ich lief die gesamte Strecke von zwölf U- Bahnstationen zu Fuß, was auf sechs Beinen mühelos funktionierte. Im Foyer huschte ich am rot livrierten Portier vorbei, der zornig einen dicken Kaufhauskatalog nach mir warf. »Scheißkakerlaken«, schrie er. »Werden immer mehr. Als ob ein Raumschiff voll mit ihnen heute Nacht auf unserem Dach gelandet ist.«
Im Treppenhaus begegnete ich einer brünetten Frau, deren rasierten Schritt ich aus der Ameisenperspektive musterte, woraufhin sie mich mit ihrer Handtasche zerquetschen wollte.

In aller Eile schlüpfte ich unter der Tür durch und trippelte in die Küche, um im Kühlschrank nach Getränken zu suchen, denn vom langen Marsch war ich durstig geworden. Mir stand der Sinn weder nach Cola Zero noch Zitronenlimonade oder Bier. Selbst der Wodka im Eisfach reizte mich nicht. Unter der Heizung entdeckte ich einen Rest gegorener Milch, die ich am Vortag für die Katze der hübschen Nachbarin dort deponiert hatte. Gierig schlürfte ich die Schüssel leer und leckte die letzten Tropfen vom Porzellan ab. Leise rülpsend bemerkte ich, dass die pinke Krawatte immer noch an meinem Hals baumelte. Hastig streifte ich den Schlips ab, reinigte mit ihm die verklebten Lippen, schlüpfte mit den zwei mittleren Füßen in meine Pantoffel und fläzte mich auf dem Sofa. Ich genoss die Ruhe, wurde schläfrig und beschloss, die Angelegenheit der Rücktransformation auf morgen zu verschieben. So schlecht schien mir das Leben als Hexapode nicht zu sein.

Die Alien-Kakerlake in meinem rechten Ohr

Während ich allmählich eindämmerte, begann mein rechtes Ohr zu jucken. Anfangs nur ein bisschen, kaum wahrnehmbar, nach einigen Minuten jedoch immer heftiger, bis es zum Schluss schier nicht zum Aushalten war. Ich sprang von der Couch, landete auf allen sechs Beinen und bewegte meinen Kopf rhythmisch von links nach rechts. Die leichte Schwingung ging über in ein wütendes Schütteln. Mit den Scheren stieß ich versehentlich Lampen und Vasen um. Scherben bedeckten das frisch gebohnerte Parket. Nach einer kleinen Ewigkeit spürte ich ein sanftes Krabbeln ganz hinten in der Ohrtrompete. An der Kreuzung, wo sie mit dem Rachen verzweigt. Flinke Beine näherten sich dem Ausgang, eine dunkle Nase schnüffelte misstrauisch, ob die Luft rein war. Dann plumpste eine schwarz-rote Kreatur neben mich auf den persischen Teppich. Sie sah aus wie ich. Um das Hundertfache geschrumpft.

»Wer bist du?«, fragte ich.
Die kleine Schabe blickte mich vergnügt an und kicherte: »Ihr Menschen seid dümmer, als wir es uns erhofft hatten. Und was für hässliche Sekretärinnen ihr in euren Glastürmen beschäftigt.«

Bevor ich reagieren konnte, flitzte die Kakerlake zum Spülbecken und verschwand kopfüber im Abfluss. Mit dem Kinn vornüber gebeugt kauerte ich auf dem Küchenboden. Noch etwas benommen hievte ich mich an einem Stuhl nach oben und schlurfte ins Bad. Im Spiegel schaute ich in dasselbe Gesicht wie um sechs Uhr morgens beim Rasieren.

»Dann ist ja alles gut ausgegangen«, murmelte ich. Ob die Schaben demnächst die Weltherrschaft anstrebten, interessierte mich in diesem Moment nicht sonderlich. Mir war es wichtiger, den Parasiten, der für zwölf Stunden in meinem Körper genistet hatte, losgeworden zu sein. Während ich über die Vorteilhaftigkeit der Sechsfüßigkeit nachdachte und dabei eine Flasche Heineken entkorkte, die ich zur Feier meiner Erlösung in einem Zug austrinken wollte, stellte ich fest, dass ich nicht einen Tropfen über die Lippen bekam. Mich ekelte weiterhin vor Cola, Limonade und Bier. Ich sank in die Knie und krabbelte auf allen vieren in die Ecke, in der ich vorhin die quarkartige Milch ausfindig gemacht hatte.

»Hast du Mistkäfer doch Spuren in meiner DNA hinterlassen«, fluchte ich und verschlang mit Heißhunger ein Stück verschimmelten Harzer, der mir unter einer angelaufenen Käseglocke entgegenschimmelte.

Mit herzlichen Grüßen an Franz Kafka

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Bild von Desapega Desapega auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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