Der Tag als der Himmel nach Lakritz roch

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Warum Schriftsteller bettelarm sind und gerne saufen, wenn sie nicht hektoliterweise Kaffee trinken, um sich auf einen neuen Text konzentrieren zu können.

Während ich mir Notizen mache, verwandelt sich der neblige Nachmittag in ein dunkles, frühabendliches Grau und die Deckenleuchten in meiner Lieblingsbar springen leise summend an. Ich sitze auf einem Hocker am langen Tresen, vor mir ein kalter Cappuccino, und betrachte die Menschen, die um diese Uhrzeit ohne Unterlass hinein- und herausströmen. Junge Prokuristen in dunkelblauen Anzügen, in Miniröcke gezwängte und auf Pumps balancierende Sekretärinnen, mit Kaufhaustüten bewaffnete Mütter, die ihre Kinder hinter sich her ziehen und Huren, die einen schnellen Espresso nehmen, bevor sie ihre Arbeit in den nahegelegenen Bordellen antreten. Der stiernackige Kerl neben mir mit pinker Krawatte glotzt der Frau gegenüber unverhohlen ins Dekolleté und vergewaltigt sie in Gedanken. Sie bemerkt den obszönen Blick, errötet und senkt ihre Augen. Er grinst und tätschelt seiner Begleiterin, einer in die Jahre gekommenen Braunhaarigen, den Hintern. Dann bestellt er laut zwei Caipirinha, denn die Happy Hour mit den halbierten Preisen bricht an.

Ich wende den Kopf und sehe einen dicken Mann, vor ihm ein Gebirge Spaghetti. Er isst gierig und konzentriert sich einzig auf den großen Teller, der sich rasch leert. In kurzen Abständen kippt er pulverisierten Käse auf die Nudeln. Danach steht er auf und kehrt mit zwei Desserts an seinen Platz zurück. Die löffelt er bis auf den Grund des Glases aus. Mit dem Zeigefinger wischt er die letzten Reste Pudding vom Rand und leckt genüsslich Kuppe und Nagel ab. Er legt exakt abgezähltes Geld auf den Tisch und verlässt das Lokal.

An der Bar sind alle Menschen gleich

Zwei Nutten tuscheln und taxieren die Gäste in der Absicht, einen 18-Uhr-Freier zu entdecken und in ihr Etablissement zu lotsen. Je schneller sie ihr Tagespensum erreichen, desto früher können sie Feierabend machen. Um diese Uhrzeit bringt es nichts, sich mit ihnen zu unterhalten, denn sie sind bloß am Geschäft interessiert. Um drei Uhr nachts, wenn ihre Portemonnaies und Mösen prall gefüllt sind, werden sie gesprächiger und erzählen spannende Geschichten von exotischen Sexpraktiken, perversen Familienvätern und Abteilungsleitern, die fürs Vögeln zahlen, aber stattdessen ihre Lebensbeichte ablegen. Als Kind des Viertels, das zwei Parallelstraßen entfernt groß geworden ist, kenne ich die sich stets wiederholenden Stories der Mädchen seit meiner Jugend. In den Morgenstunden, wenn Sekt und Weißwein ihre volle Wirkung entfalten, werden einige von ihnen weinerlich und schluchzen, dass sie den Job baldmöglichst an den Nagel hängen werden. Falls ich nicht Minimum zehn Mal versichere, dass ich ihnen glaube, werden sie wütend und beschimpfen mich. Am Nachmittag, wenn sie verkatert den ersten Piccolo öffnen, ist der Blues vergessen und sie legen Make-up für den nächsten Kunden auf.

Das gleißende Licht der Bar steht in auffälligem Kontrast zum Grau des Himmels und dem düsteren Charme der Umgebung. An diesem auf der Grenze zweier grundverschiedener Stadtviertel gelegenen Ort kreuzen sich am frühen Abend die Wege der Büromenschen, Mütter, die ihre Einkäufe erledigt haben und Personen aus dem Rotlichtmilieu. Für eine Stunde tauchen sie alle ein in dasselbe Ambiente, fühlen sich gleich, spüren keine Ressentiments. Sobald sich das Grau in Schwarz verwandelt und die roten Schriftzüge der Nachtclubs aufflackern, leert sich das Lokal schlagartig. Zurück bleiben die Stammgäste, einige unentschlossene Krawattenträger und das Personal. Giovanni, der die Gäste am Eingang begrüßt und verabschiedet, packt sich in den Schritt und betastet seinen Hoden. Er ist ein bildhübscher Mann Anfang dreißig mit schulterlangen, schwarzen Locken, die er über der Stirn mit Pomade im Zaum hält. Von der Wichtigkeit seiner Aufgabe überzeugt, verzieht er so gut wie nie die Miene, lächelt nur in rar gesäten Momenten und dann in wohldosierter Zeitdauer. Er neigt zu einem leichten Bauchansatz, die Beine könnten einen Tick proportionierter sein. Trotz seines Namens spricht er kein Wort Italienisch. Er stammt von der Levante, will das aber nicht jedem auf die Nase binden.

Vakuum im Gehirn

Ich schnappe mir eine Sportzeitung, die mit braunen Flecken besprenkelt ist, und blättere darin. Soll ich den Abend in der Bar ausklingen lassen oder zurück nach Hause marschieren, um mich dort am Schreibtisch vor ein leeres Blatt Papier zu setzen? In meinem Gehirn herrscht Ebbe. Kein einziger Gedanke keimt auf, der es wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Ich fühle mich nutzlos und leer. Jeder Sachbearbeiter, der Akten von links nach rechts bewegt, leistet einen größeren Beitrag für das Wohl der Gesellschaft, als ich es tue. Ein Roman, der nicht fertig wird, Kurzgeschichten, die niemand lesen will, Gedichte, die kein Versmaß besitzen, Frauen, die mir erklären, dass Armut nicht sexy ist. Ich halte mich über Wasser, indem ich begriffsstutzigen Kindern Nachhilfe gebe und deren Müttern erkläre, dass ihre Söhne und Töchter hochbegabt sind.  Wenn mich die Melancholie mit ihren hundert Tentakeln in einen Ozean voll mit gelbem Schleim herunterzieht oder unbändiger Zorn auf Gerichtsvollzieher und Inkassobüros in mir auflodert, dann saufe ich. Zwei Flaschen Wodka auf ex und die Lampen gehen aus. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, schwöre ich, dass ich das Zeug nie mehr anrühren werde und jammere bei geschlossenen Jalousien, weil mein Kreislauf einige Stunden lang Achterbahn fährt.

Ich zahle und schlüpfe in meinen alten Mantel, bevor ich nach draußen gehe. In der Luft liegt ein Hauch von Lakritz, der von der Süßwarenfabrik hinter den Bahngleisen zu mir hinüberweht. Grell geschminkte Nutten in oberschenkelhohen Stiefeln und billigen Pelzjacken lehnen an den Häusermauern. An den Stellen, wo sie mit ihren Absätzen die Wand berühren, bröckelt der Putz ab. Ein roter Ford mit getönten Scheiben und chromblitzenden Felgen stoppt. Aus der Beifahrertür steigt ein junger Mann mit umgedrehter Baseballkappe, öffnet die Hose und pinkelt auf den Bürgersteig. Die Kumpels im Auto lachen. Eine Hure mit wasserstoffblonder Perücke nähert sich von der Seite und hämmert dem Kerl ohne Vorwarnung ihre Faust an die Schläfe. Der taumelt und schreit. Bevor seine Freunde ihm zu Hilfe eilen können, ist der Wagen von Frauen umringt. Eine tritt gegen den Scheinwerfer, der sofort erlischt. Zwei schnappen sich den Typen, der gerade aufstehen will und tunken seine Lippen in die Urinpfütze hinein.

Dann eskortieren sie ihn zum Auto. »Haut ab zu euren Mamis und lasst euch hier so schnell nicht wieder blicken«, rufen sie den davonrasenden Jünglingen hinterher.
Plötzlich wenden sie sich mir zu: »Du hast nichts gesehen. Verstanden!«
»Natürlich nicht. Alles halb so wild«, antworte ich, schlage fröstelnd den Kragen hoch und trotte fort.

Statt Nachtleben heute lieber an den Schreibtisch

Die kleinen Bordelle locken mit wohlklingenden Namen wie »Chez Nous«, »Babylon« und »Tiffany’s«. Während vor der Tür ein Gedeck für zehn Euro versprochen wird, geschieht drinnen immer dieselbe Abzocke. Sie umgarnen dich so lange und massieren dir dabei den Unterleib, bis du weich wirst und der Bardame die Kreditkarte aushändigst. An dem Punkt hast du verloren und kannst froh sein, wenn am Tag darauf bloß ein Tausender von deinem Konto abgebucht wird. Oberhalb der blinkenden Neonreklame wirken die Häuser baufällig und schäbig. Die Atmosphäre ist durchtränkt mit Geilheit und Obszönität. Das Licht ist schummerig und verbirgt mehr, als es zeigt. In dieser Stimmung gedeiht käuflicher und anonymer Sex. Die Luden halten sich im Hintergrund und werden erst dann aktiv, wenn die Frauen sich nicht mehr selbst zu helfen wissen.

Ein paar Sekunden zögere ich, ob ich in das Halbdunkel eintreten soll. Ein kurzer Absacker und danach wieder raus. Ich misstraue meinen Widerstandskräften und entschließe mich, weiterzugehen. Noch eine Kreuzung, dann erreiche ich das Sozialhochhaus mit der betonverwaschenen Fassade, in dem ich im zehnten Stock eine winzige Wohnung gemietet habe. Ich trinke die Reste des Kaffees, den ich am Morgen aufgesetzt hatte und überlege, ob mir zu dieser späten Stunde noch was Gescheites einfällt. Spontan setze ich mich an die Tastatur und tippe: Der Tag als der Himmel nach Lakritz roch. … Geschichten von Sucht und Liebe.

Bild von HardyS auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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