Die explosive Kirschtorte (1)

You are currently viewing Die explosive Kirschtorte (1)

Erzählung von Kalle dem Lokführer, der nach einem tragischen Unglück Trost und Vergessen in der Flasche suchte, vom Betriebsarzt in die Reha geschickt wurde und nun uns in der Selbsthilfegruppe jede Woche aufs Neue mit derselben Geschichte nervt.

»Der Mann klebte auf einmal vor mir auf der Scheibe. Er war schrecklich anzusehen. Mit den Armen voran. So als ob er einen Hechtsprung von der Brücke herab gemacht hat.« Karl-Heinz wischte sich den Talg von den mit kleinen blauen Adern übersäten Nasenflügeln.

»Oh weh, ist das heute wieder langweilig«. Rolf lümmelte sich neben mir und schaute bereits um viertel nach acht auf seine Uhr. Wir saßen gerade mal fünfzehn Minuten im spartanisch eingerichteten Raum 12b der Caritas in Oberklingenberg, um an der wöchentlichen Dienstagssitzung des Kreuzbunds teilzunehmen. An diesem Abend hatten sage und schreibe acht Besucher den Weg zu unserer Selbsthilfegruppe gefunden. Vor einigen Wochen waren wir noch zwölf gewesen. »Die Säufer kommen und gehen, wie es ihnen gefällt. Du kennst das doch«, klärte Rolf mich auf, als er meinen fragenden Blick bemerkte.
»Wetten, dass er gleich erzählt, wie sehr ihn das alles mitgenommen hat.«
»Ein saublöder Vorschlag, Henning. Wer sollte dagegensetzen? Natürlich wird er das in den nächsten zehn Sekunden sagen.«

Kalle der Lokführer, der jedes Mal dieselbe traurige Geschichte erzählt

»Ich sehe andauernd das Bild des zerplatzenden Schädels. Überall war Blut …«
»… wie eine Flasche Ketchup, die jemand über dem Glas verschmiert hat«, fiel die rothaarige Angelika ihrem Nebenmann ins Wort. Auch sie hatte – wie wir alle – den stets gleichen Beitrag von Karl-Heinz Minimum zwei Dutzend Mal angehört.
»Ja, genau so war es. Ihr habt gut lachen. Euch ist das nicht passiert.« Kalle, wie er in der Kurzform von seinen Kumpels gerufen wurde, stoppte beleidigt und fingerte einige staubtrockene Erdnussflips aus einer geflochtenen Holz-Bastschale heraus.

»Das ist aber alles mittlerweile über ein Jahr her und Schnee von gestern. Wie soll es jetzt weitergehen Karl-Heinz?«, mischte sich Regina, die heute die Runde leitete, in die Unterhaltung ein. Eine typische Alkoholikerin mit aufgeblähtem Spitzbauch und spindeldürren Extremitäten. Sie war im vergangenen Jahr dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, weil ihre Stoffwechselorgane es ein letztes Mal geschafft hatten, sich von selbst zu regenerieren, kurz bevor die Fettleber zu einer Zirrhose mutierte. Seitdem achtete sie penibel auf ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was einerseits vernünftig und nachvollziehbar erschien, andererseits jedoch ihr früher heiteres und gewinnendes Wesen zunehmend eintrübte, weshalb sie heute oft streng und griesgrämig wirkte.

»Ich brauche noch Zeit. Bin seitdem dienstunfähig geschrieben. Frühestens in drei Monaten setze ich mich wieder in eine Lokomotive«, schnaubte Kalle ungehalten.

Das, was Karl-Heinz zugestoßen war, konnte man mit Fug und Recht als unglücklich bezeichnen. Im vergangenen November, an einem nasskalten und neblig-trüben Abend sprang an Bahnkilometer 217 auf der Strecke zwischen Köln und Koblenz kurz vor dem Abzweig nach Hennef ein sechsundfünfzigjähriger, untersetzter Prokurist mit Halbglatze und Hornbrille vor den mit Tempo 100 heranbrausenden Regionalzug RB38. Und zwar vom Geländer der als Brücke ausgeführten Anschlussstelle Troisdorf-Nord an die Bundesstraße 42 hinunter frontal auf die Rundumverglasung des Führerhauses, wo der Schädel vor Kalles Augen detonierte und langsam nach unten glitt, um von den Rädern des Doppelstockwagens völlig zermalmt zu werden. Mit der rechten Hand hielt der Mann noch seine Aktentasche fest umklammert. Die doppelte Tragik bestand darin, dass Karl-Heinz die Route an diesem Tag nur deshalb befuhr, weil er für einen kurzfristig erkrankten Kollegen eingesprungen war. Wie oft hatte er uns erklärt, dass er den Moment verfluchen würde, in dem er sich gutmütig dazu hatte überreden lassen, die Rheinseite zu wechseln.

»Passiert ist passiert«, pflegte Rolf ihm dann zu antworten. »Kannst du heute eh nicht mehr ändern.« An mich gewandt fügte er in gedämpftem Ton hinzu: »Unfälle und Selbstmorde sind eben sein Berufsrisiko. Das weiß man doch als Profi. Soll er froh sein, dass ihm das bisher nur einmal zugestoßen ist. Weiß gar nicht, weshalb sich der Kerl seit Monaten darüber echauffiert.«

Nach dem tragischen Unglück an die Flasche geraten

Nachdem die Feuerwehr die Leiche des Mannes – besser gesagt das, was von ihm in Einzelteilen übriggeblieben war – mühsam geborgen hatte, brachte die eilig hinzugezogene Kriminalpolizei schnell in Erfahrung, dass der Suizid nicht auf einen depressiven Schub zurückzuführen war, sondern der leitende Angestellte in einem Akt spontaner Scham gehandelt hatte. Einige Stunden zuvor waren ihm im Rahmen einer internen Revision der Krankenhausgesellschaft, für die er den Einkauf organisierte, Bestechlichkeit und Unterschlagung nachgewiesen worden. Anstatt die Angelegenheit vor Gericht durchzustehen und zwei, drei Jahre in den Bau zu wandern, bevorzugte er die Alternative des sofortigen Ablebens. Jedoch in der unfeinen Variante des Sprungs vor einen Lokalexpress. Freundlicher wäre es gewesen, sich einsam im Wald am Ast einer Eiche zu erhängen oder zu Hause in der warmen Badewanne die Pulsadern zu öffnen. Stattdessen hinterließ der geldgierige Manager eine klagende Ehefrau, zwei weinende Töchter und einen perplexen Lokomotivführer. Die attraktive Witwe beruhigte sich jedoch rasch, als sie die stattliche Lebensversicherung, die der fürsorgliche Gatte und Familienvater zehn Jahre zuvor zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte, ausgezahlt bekam und ihr daraufhin jüngere Herren, von deren körperlicher Präsenz sie bisher allenfalls geträumt hatte, tatsächlich den Hof machten. Kalle hingegen haderte seitdem mit sich und der Welt und trank mehr, als für ihn bekömmlich war.

Nach einigen Wochen fielen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten und die Schnapsfahne, die er trotz kiloweise Pfefferminzpastillen nicht dauerhaft übertünchen konnte, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten auf. Da ein Lokführer mit Alkohol im Blut eine potenzielle Gefahr für Passagiere und Allgemeinheit darstellt, beorderte ihn sein Boss zum außerplanmäßigen Routinecheck beim Betriebsarzt. Leberwerte im Keller, allgemeine Konstitution glich eher einem 60- denn einem 40-jährigen, einfachste Denksportaufgaben bereiteten Karl-Heinz große Mühe. Nach Rücksprache mit einer auf Suchtfragen spezialisierten Psychologin wurde Kalle bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert mit der Auflage, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen. Hierzu gehörte ebenfalls der Besuch der Dienstagabend-Selbsthilfegruppe des Kreuzbunds. Und jetzt saß er seit nunmehr über sechs Monaten in unserer Runde, lamentierte und erzählte in Dauerschleife – darin einer Vinylschallplatte, die einen Sprung aufweist, ähnelnd – immer wieder denselben traurigen Hergang. Nachdem wir ihm anfangs mit offenen Mündern gelauscht und mehrmals unser Bedauern über den unseligen Vorfall ausgesprochen hatten, ermüdete uns die Story mittlerweile doch sehr.

»Kalle, hast du nicht mal was Neues auf Lager? Die Geschichte ödet mich langsam an.« Die dicke Margot klinkte sich unaufgefordert in das Gespräch ein. Ihre Stimme klang an diesem Abend seltsam unangenehm, so als ob in ihrem von schlaffem Gewebe eingerahmten Hals Fett kochte.
»Wieso?«
»Weil du vor Selbstmitleid zerfließt und uns keinen reinen Wein einschenkst.«
»Hä? Verstehe ich nicht.«
»Du säufst nicht alleine wegen des Unglücks vor einem Jahr. Du hast sicher bereits vorher getrunken. Und zwar deutlich mehr als andere. Niemand wird über Nacht zum Alkoholiker.«
»Wer behauptet denn, dass ich ein elender Säufer bin?«

Die Gruppe nimmt Kalle ins Kreuzverhör

»Weshalb bist du ansonsten bei uns? Das hier ist eine Alkoholikergruppe und keine Kuschelecke für Männer in der Midlife-Krise.«
»Weil mein Chef das so will. Ohne erfolgreich durchgezogene Therapie bekomme ich meinen Job nicht zurück.«
»Das sind natürlich keine guten Voraussetzungen, um zu einer eigenständigen Krankheitseinsicht zu gelangen«, Margot wackelte missbilligend mit ihrem riesigem Schildkrötenkopf.
»Ich habe nie gesagt, dass ich krank bin.«
»Sondern? Worin besteht dein Problem? Weshalb trinkst du? Du redest und redest, und trotzdem verstehe ich dich nicht.«
»Die Psychologin, die dämliche Kuh, hat meinem Boss das alles eingeredet. Ohne die säße ich jetzt nicht hier, sondern seit Wochen wieder in meiner Lok.«
»Und würdest mit zugedröhntem Schädel dunkelrote Signale übersehen und unschuldige Passanten plattfahren.« Rolf feixte, denn diese Art von Diskussion bereitete ihm großen Spaß.

»Du hast doch vor ein paar Minuten noch erklärt, dass du dich nervlich überhaupt nicht in der Lage fühlst, einen Zug zu steuern. Was denn nun?« Der am gesamten Körper tätowierte Lars, der bisher geschwiegen hatte, schaltete sich in den zunehmend munterer werdenden Wortwechsel ein.
»Mir wird das jetzt alles zu dumm heute Abend. Ich gehe.« Kalles ohnehin stark gerötetes Gesicht wechselte für einen kurzen Augenblick in einen violetten Farbton hinüber.
»Karl-Heinz, du weißt, dass du am Ende der Stunde eine Bescheinigung von mir benötigst. Du solltest also besser hierbleiben.« Regina blieb äußerlich gelassen und sprach leise auf ihn ein.
»Das grenzt ja schon an Erpressung.« Er schlug wütend mit der Faust auf die Tischplatte, sodass der Kaffee in der Tasse vor Margot überschwappte und auf ihren taubenblauen Blazer spritzte. Sie sagte nichts, schaute Kalle jedoch erbost an. Der tat so, als ob er es nicht bemerken würde, blieb aber sitzen.

In Teil 2 muss ich auf den heißen Stuhl, und Kalle lässt uns wissen, dass der Verzehr von Schwarzwälder Kirschtorte und eine abendliche Pulle Bier für ihn kein Problem darstellen.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Schreibe einen Kommentar