Zocken am Ring

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Nach langer Zeit zocke ich mal wieder Backgammon um (moderate) Kohle, als mich plötzlich ne Wasserstoffblonde am Nachbartisch anspricht und sagt, sie hätte mich bereits in einem Pennergrab vermutet, sei aber jetzt doch froh, mich wiederzusehen.

»Wie kann man einen 5-er-Pasch so dämlich ziehen?« Ich blickte meinen Gegenüber erstaunt an.
»Warum? Was hätte ich deiner Meinung nach anders machen sollen, du Klugscheißer?«
»Anstatt von hinten durchzulaufen, vier Steine rausnehmen.«
»Natürlich. Weshalb habe ich das bloß übersehen?« Der dürre Hein schlug sich mit der flachen Hand so kräftig an die Stirn, dass man das Geräusch noch an den Nachbartischen klar und deutlich hören konnte. Einige Gäste drehten sich überrascht um und musterten uns in der Art, wie man Dinosaurier im Naturkundemuseum betrachtet.
»Das wäre dir früher nicht passiert.«
»Da hatte ich mir auch noch nicht die Hälfte des Gehirns weggekokst und konnte auf meinen zwei Beinen laufen.«

Nach zwanzig Jahren zurück am Ausgangspunkt

Nach langer Wanderschaft, die mich über die Stationen Honeymoon, Ehe-Achterbahn, billige Pensionen, Pennerheim, Ausnüchterungszelle, Reha-Klinik und Adaption schrittweise ins bürgerliche Leben zurückgeführt hatte, war ich nach zwanzig Jahren wieder am Ausgangspunkt meiner Reise angelangt. Anfangs fremd, geradezu unbeholfen, wie ein Hundewelpe an jeder Kreuzung vorsichtig Witterung aufnehmend, ob Gefahr hinter der nächsten Ecke lauern könnte. Nach achtundvierzig Stunden zunehmend selbstbewusster, die ersten Strahlen der Frühlingssonne genießend, mich ziel- und planlos durch die Boulevards und verwinkelten Nebenstraßen des Zentrums treiben lassend. Obwohl sich in den zwei Jahrzehnten meiner Abwesenheit vieles verändert hatte, ich gläserne Bürotürme an Plätzen entdeckte, wo sich in den 70-ern noch verrostete Wellblechgaragen unter baufälligen Ziegelmauern geduckt hatten, fand ich mich mit schlafwandlerischer Sicherheit in meiner Geburtsstadt zurecht. Das Leben an den Ringen pulsierte genauso wie früher; wenngleich mich am späten Nachmittag der Eindruck beschlich, dass der Rhythmus hektischer geworden war. Ich führte das diffuse Gefühl der angsteinflößenden Beschleunigung jedoch auf mein zunehmendes Alter zurück, das mir Dinge, die früher langsam erschienen, heute schnell vorkommen ließ.

Ich forschte nach den Bars und Diskotheken meiner Jugend und stellte verblüfft fest, dass sie allesamt noch existierten. Sie hatten jedoch Pächter und Namen gewechselt und lockten mit großformatigen Werbebannern à la Samstagnacht mit DJ Bobo zum halben Preis, derweil sich die Clubs während der Roxy-Music-Ära so elitär gaben, dass Mund-zu-Mund- Propaganda völlig ausreichte, um sie zu füllen. Vor der Tür eines kleinen Cafés hielt ich an. Hier hatte ich drei Jahre lang jeden Abend gezockt. Nicht vorne im Gastronomiebereich, sondern in einem fensterlosen Hinterzimmer, das der Wirt um achtzehn Uhr für uns Spieler öffnete. Zwölf glattpolierte Holztische, auf denen jeweils ein geöffnetes, metallenes Board bereitlag, harte Stühle, überquellende Aschenbecher, beißender Zigarettenqualm waberte unter vier flackernden Neonröhren. Mit siebzehn hatte ich das Bobolovsky zum ersten Mal betreten, das alsbald zu meinem zweiten Zuhause geworden war.

Ein alter Zocker-Kollege am Rollator

»Hey du, sind wir uns nicht schon früher über den Weg gelaufen?« Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und betrachtete irritiert den älteren Herrn, der dicht neben mir, die Hände auf die Griffe eines Rollators gestützt, angehalten hatte und mich neugierig von der Seite begutachtete. »Brauchst nicht so blöde zu schauen. Ich bin’s: Heinrich. Erkennst du mich etwa nicht mehr?« Heinrich, den alle Welt damals aufgrund seiner schlaksigen Ein-Meter-Neunzig bloß mit Der dürre Hein anredete. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.

»Natürlich kann ich mich an dich erinnern. Hallo Hein, schön dich zu sehen.« Ich streckte ihm spontan die Rechte entgegen, um ihn zu begrüßen. Er jedoch erwiderte die Bewegung nicht, da er ansonsten vermutlich das Gleichgewicht verloren hätte, weshalb meine Hand zwei Sekunden lang etwas dämlich in der Luft baumelte, bevor ich sie wieder an meinen Körper heranzog.
»Lange nicht gesehen. Was verschlägt dich zurück in die Stadt? Man munkelte, du seist bereits tot oder lebenslang in der Klapse eingesperrt.«

»Wie du siehst, laufe ich quietschfidel durch die Straßen, und mir steht kein Schaum vor dem Mund«, entgegnete ich seelenruhig, weil ich diese Frage gewöhnt war und mittlerweile routiniert darauf antworten konnte.
»Jap, du wirkst fitter als manch anderer aus der alten Garde, der mit Demenz im Pflegeheim vor sich hindämmert.«
»Wird hier noch gewürfelt?«, fragte ich Heinrich, um das Gespräch in ein anderes Fahrwasser zu lenken.
»Schon lange nicht mehr. Die Szene hat sich aufgelöst. Gibt ja keinen Nachwuchs.«
»Das ist schade«, überlegte ich laut. »Ich hätte gerne einige Runden gespielt.«
»Kannst du gerne haben. Wenn’s dir nichts ausmacht, mit einem Krüppel zu zocken, lade ich dich auf ein kleines Match ein.«

Hein war ein auffälliger Spieler gewesen. Er gestikulierte wie ein Neapolitaner, sprach mit den Steinen, küsste die Würfel, fluchte laut, sobald er verlor und tanzte um den Tisch herum, wenn er eine schwierige Partie gewonnen hatte. Nicht jeder mochte das. Die Hälfte der Zocker verrichtete ihr Tagwerk stumm, bar jeglicher Mimik, ohne auch nur einen Mundwinkel zu verziehen. Ich saß anfangs schweigend dabei, entweder dort, wo um die höchsten Summen gespielt wurde oder bei den Männern, von denen ich wusste, dass sie den Wettkampf professionell betrieben. Ich prägte mir die Würfe und Züge ein. Versuchte, die unterschiedlichen Taktiken zu verstehen. Las mir ein kleines, schlaues Buch über Wahrscheinlichkeiten durch. Verlor in den ersten Wochen all mein Geld, das ich als Lehrling in einem stinklangweiligen Büro verdiente. Reduzierte mein Schlafbedürfnis auf vier Stunden, um die interessanten Partien, die weit nach Mitternacht stattfanden, nicht zu versäumen. Brett, Steine und Würfel zogen mich immer stärker in ihren Bann. Eines Nachts fing ich an, zu gewinnen. Zuerst läppische Beträge: zehn, zwanzig Mark. Dann wurden die Einsätze höher. Bei einem einzigen Spiel konnten nun bis zu vier Riesen den Besitzer wechseln. Wichtig war es, die Ruhe zu bewahren und die eingangs gewählte Strategie weiter zu verfolgen. Lange Turniere konnten bis zu zweiundsiebzig Stunden am Stück dauern. Kaffee als Wachmacher reichte da nicht aus; wir benötigten stärkere Aufputschmittel. Hein, der mich in der Art eines Paten unter seine Fittiche genommen hatte, versorgte mich mit Koks; untersagte mir jedoch jeglichen Genuss von Bier und Schnaps.

»Saufen kannst du, wenn wir den Laden verlassen und feiern gehen. Hier drinnen benötigst du eine klare Birne.« Als Türsteher im angesagtesten Tanzschuppen der Stadt stellte er mich vielen solariumgebräunten Schönheiten vor, die sich im Glanz der erfolgreichen Spieler weitersonnen wollten. Denn Zocken galt in den 80-ern als cool und sehr männlicher Zeitvertreib. Ich taugte jedoch wenig zum Unterhalter und war oft so müde, dass ich auf den schweren Ledersofas in den schummrigen Ecken einpennte und von Heinrich in den Personalraum geschleppt wurde, um mich zwischen ungespülten Cocktailgläsern und dreckigen Tischdecken auf einer alten Liege auszuschlafen.

Ne Wasserstoffblonde mit furchteinflößender Dogge am Nachbartisch

Jetzt saßen wir zwei am frühen Abend in bequemen Sesseln im Moby Dick, einer amerikanischen Kaffeehauskette, zwischen uns die Ravensburger Ausgabe eines Backgammons und hatten Mühe, die winzigen Würfel mit unseren Fingern zu greifen.
»Ein Pappbrett und Plastiksteine. Totaler Dreck«, zischte ich.
»Ist mittlerweile alles vor die Hunde gekommen.« Hein rollte mit den Augen nervös von links nach rechts. »Schau dir die Schlange der Kids vor den Tanzlokalen an. Noch keine zwanzig Uhr. Weil sie um zehn zurück bei Mami und Papi sein müssen. Unsere Tür öffnete damals erst nach elf. Und wir haben uns nicht vorher schon auf dem Bürgersteig mit Alcopops und Wodka zugedröhnt.« Er senkte die Stirn und wackelte missbilligend mit dem Kopf hin und her, sodass mir die weiße Haut unter seinen kahlen Stellen deutlich entgegenschimmerte.
»Na ja, dafür haben wir bei dir auf der Personaltoilette gekokst. Viel besser war das auch nicht. Nur anders.« Ich kratzte mich nachdenklich am Ohr.

»Wisst ihr zwei, wie man am Schnellsten altersschwache Greise identifiziert?«, kicherte eine Wasserstoffblonde am Nachbartisch. »Daran, dass sie immerfort von der glorreichen Vergangenheit schwadronieren.« Ich drehte mich um und blickte in die blauen Augen meiner Schulfreundin Vera, deren Haarfarbe ich als kastanienbraun in Erinnerung behalten hatte.

»Hallo Henning. Habe schon gehört, dass du zurück bist. Hast früher besser ausgesehen. Zumindest lebst du noch. Vermutete dich bereits in einem anonymen Armengrab«, lächelte sie mich an. Zu ihren Füßen, die in roten Pumps steckten, räkelte sich eine Dogge, die mir ihre rasierklingenscharfen Zähne entgegenfletschte.

Bild von Espressolia auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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