Ich fahre zu einer Bekannten, um mich von ihr zu verabschieden. Sie lädt mich auf ein Glas Wodka ein, ich bleibe zwei Stunden und verabschiede mich dann für immer von ihr.
Es war ein düstergrauer Novembermorgen, wie ich ihn hasste. Ich mochte den Monat ohnehin nicht besonders. Von mir aus konnte man ihn komplett aus der Jahresliste rausstreichen. Das sind dreißig Tage, die sich für Selbstmörder und Satanisten eignen; aber nicht für einen Lebenskünstler wie mich. Ich war mir unsicher, ob ich überhaupt aufstehen oder doch lieber im Bett liegenbleiben sollte. Ich dachte darüber nach, dass einige Tiere schlauer sind als ich, und diese Zeit einfach mittels Winterschlaf hinter sich bringen.
Der Effzeh hat mal wieder verloren
Es half alles nichts. Ich musste raus aus den Federn. Ich hatte heute noch einige Dinge zu erledigen. Verpennt trottete ich in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Keine Filtertüten mehr im Regal. Mist. Ich nahm stattdessen Toilettenpapier und stopfte es in die Maschine. Funktionierte auch. Ich kannte den Trick vom Campingurlaub her. Die Flüssigkeit war wässrig; unten hatte sich ein Bodensatz an Pulver gebildet. Schmeckte fade, war aber für den Moment besser als nichts. Ich blätterte gedankenverloren in der Zeitung. Studierte zuerst den Sportteil. Mein Verein hatte am Wochenende verloren. So wie fast immer. Warum war ich bloß vor vierzig Jahren Fan ausgerechnet dieses Katastrophenclubs geworden? Ich hatt’s quasi mit der Muttermilch eingesaugt. Die kindliche Zuneigung zum Fußball kann man im Alter nicht mehr abschütteln. So gerne ich das oft getan hätte. Politik und Feuilleton interessierten mich heute nicht. Dafür hatte ich einfach nicht den Kopf frei.
Nach einer schnellen Dusche zog ich mich an und ging hinunter in den Keller, um dort mein Fahrrad zu holen. Das war ein schnelles Teil. Leistete mir gute Dienste, um mich in unserer Gegend rasch von einem Punkt zum anderen zu bewegen. War allerdings stark diebstahlgefährdet. Festbinden an Laternen oder Abstellen in Hausfluren nutzte nichts. Nach spätestens zwei Stunden würde es jemand gestohlen haben. Hatte ich schon mehrmals erlebt. Seitdem schleppte ich das Rad abends runter ins Kellerabteil. Manche meiner Bekannten nahmen es sogar mit in die eigene Wohnung. Hängten es dort an die Wand oder lehnten es ans Bett. Ganz so weit war ich mit meinen Vorsichtsmaßnahmen noch nicht gediehen.
Draußen regnete es. So ein kaltes Fieseln, wie es für unsere Region im Winter typisch ist. Ich hatt’s zwar erwartet, fluchte aber dennoch leise vor mich hin. Während ich langsam Fahrt aufnahm, überlegte ich wehmütig, was für eine schöne Zeit es doch mit dem eigenen Auto gewesen war. Das Lamentieren half nichts. Ich hatte den Führerschein selber versemmelt. Zu schnell gefahren, rote Ampeln, Alkohol am Steuer. Irgendwann war mein Punktekonto in Flensburg übergelaufen. Lappen weg. Ich hätte anschließend natürlich nicht auf eigene Faust weiterfahren dürfen. Ging eine Zeit lang gut. Dann wurde ich erneut von den Bullen angehalten. Wieder unter Alkoholeinfluss. Da konnte mich auch der Anwalt nicht mehr rausboxen. Jahrelanges Fahrverbot. Im Nachgang MPU und erneute Prüfung. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich in etwa zum siebzigsten Geburtstag wieder am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen dürfte. Wenn ich dann überhaupt noch in der Lage sein würde, mich unfallfrei hinter ein Steuer zu setzen.
Fahrrad, weil ich den Lappen erst mit 70 zurückbekomme
Ich verscheuchte die trüben Gedanken und trat in die Pedale. Da mich Kreuzungen, Ampeln und Zebrastreifen seit Jugend an nicht sonderlich interessierten, weil ich seit jeher die Meinung vertrat, dass man sich als Radfahrer möglichst hinderungsfrei und kreativ bewegen muss, wenn man auch nur halbwegs mit den Kraftfahrzeugen mithalten möchte, hatte ich mein morgendliches Ziel rasch erreicht. Ich stieg vom Sattel. Nass von oben bis unten. Sogar die Unterhose war durchweicht. Ätzend. Ich hatte Ersatzklamotten mitgenommen. Konnte mich also gleich umziehen. Von den Leiden eines Radfahrers an einem verregneten Wintertag ahnen die übrigen Zeitgenossen überhaupt nichts. Die sitzen entweder übergewichtig am Steuer ihres Familien-Vans oder hocken zu Hause in der warmen Stube und zappen durchs Mittags-TV. Manche von denen hupen Dich sogar an, nur weil Du ihnen die Vorfahrt nimmst oder ihnen in einer Einbahnstraße ohne Licht entgegen kommst. Früher habe ich denen den Mittelfinger gezeigt. Heute bin ich gottseidank ruhiger geworden und rege mich nicht mehr so schnell auf.
Ich schüttelte mich wie ein Hund, um die schwersten Tropfen los zu werden. Dann studierte ich das Klingelbrett. Da standen weit über hundert Namen drauf. Obwohl ich schon oft hier gewesen war, kam ich doch immer wieder durcheinander. Drei nach rechts, vier nach unten, erinnerte ich mich. Das war der korrekte Abzählvers. Ich fand den richtigen Knopf und drückte drauf. Zweimal kräftig und lange. Denn ansonsten würde sie es nicht hören. Ich blickte nach oben. Eventuell stand sie ja bereits am Fenster. Es war eines dieser typischen Sozialhochhäuser aus den siebziger Jahren. Hässlich, erfüllte aber seinen Zweck. Wo sollten die armen Leute sonst wohnen?, überlegte ich kurz.
Ich hörte ein leises Summen. Sie hatte also den Türöffner gedrückt. Ich betrat den Vorraum und sah zu meiner Linken auf Dutzende von zerbeulten oder halb herausgerissenen Briefkästen. Die bekommen hier ohnehin nur Pizzawerbung oder Mahnschreiben, ging es mir durch den Kopf. Solche Post klaut Dir sowieso keiner. Ich schob mein Fahrrad in den viel zu kleinen Lift und stellte es hochkant. Ein dicke Fünfzigjährige, die mitfahren wollte, kam nicht mehr rein und schimpfte: »Seit wann sind Räder im Haus erlaubt?« Ich antwortete ihr gar nicht erst. Sollte sie warten oder zu Fuß gehen. Für ihre Figur wäre das allemal besser gewesen. Der Aufzug rauschte nach oben. Zehnter Stock. Ich war angekommen. Sie stand bereits in der Tür. Barfuß. Trug aber immerhin einen Bademantel. Manchmal hatte sie mich auch nackt erwartet. Hing halt immer so ein bisschen von ihrer momentanen Laune ab.
»Hi Henning«, grinste sie mich an. »Du bist ja pitschnass.«
»Scheiß Radfahren in dieser Jahreszeit«, brummte ich. »Hast Du ein Handtuch für mich?«. Ich küsste sie zur Begrüßung in ihren Ausschnitt. Das gefiel ihr. Das wusste ich.
Montagnachmittag mit Sex & Weißwein
»Klar, nimm Dir eines aus dem Regal im Badezimmer. Du kennst Dich ja aus«, erwiderte sie freundlich. Ich legte meine Kleidung ab. Sie war mir gefolgt.
»Soll ich Dich abtrocknen?«, fragte sie.
»Wenn Du möchtest. Gerne.« Sie rubbelte mich ab. Das war sehr angenehm. Als sie damit fertig war, wollte ich mir ein frisches Shirt überstreifen. Sie griff mir in den Arm.
»Bleib doch so, wie Du bist«, lächelte sie mich an.
»Du könntest direkt mit mir schlafen«, flüsterte sie mir ins Ohr, während sie den Bademantel auf den Boden fallen ließ. Die Idee gefiel mir. Sex war ein guter Zeitvertreib an diesem trüben Novembertag.
Ich legte mich zu ihr ins Bett. Daneben stand eine Batterie leerer Flaschen. Sie soff also immer noch. Naja, das war schließlich im Moment nicht mein Problem.
»Schätzchen, möchtest Du ein Glas Wein oder einen Schluck Wodka?«
»Nein. Keine Lust.«
»Du trinkst nicht mehr?« Sie schüttelte verwundert den Kopf.
»Versuche gerade, es mir abzugewöhnen. Ist jetzt auch noch zu früh dafür«, antwortete ich.
»Du bist ja ein total vernünftiger Spießer geworden«, gluckste sie.
Wir liebten uns mehrmals an diesem Nachmittag. Drei- oder viermal. Kann mich nicht mehr so richtig daran erinnern. Ohne zu reden. Stumm. Das war früher nicht meine Art gewesen. Zumindest in den Ruhephasen dazwischen sagte ich was. Und sei es auch nur aus dem Grund, um belanglose Konversation zu betreiben. An diesem Tag verspürte ich jedoch keinerlei Lust darauf. Irgendwie war alles schon einmal von mir mitgeteilt worden. Ich wollte mich nicht wiederholen.
»Henning, Du bist so wortkarg heute. Alles in Ordnung mit Dir?«, wollte sie mit einem Mal wissen. Ich starrte an die Decke. Schwieg weiterhin.
Abschiednehmen von alten Gewohnheiten
Ich glitt aus ihrem Bett. Schlüpfte in meine Hose hinein. Sie schenkte sich derweil ein weiteres Glas Wein ein. Der Sex war dieses Mal fade gewesen. Nicht so wie früher. Da hatte ich mit ihr geglüht. Heute hatte es mich eher an einen mechanischen Vorgang erinnert. Ich fühlte mich einzig körperlich befriedigt; jedoch geistig nicht erfrischt. Meine Seele war nicht mit dabei gewesen. Die Zeit war unwiderruflich vorbei. Das wusste ich.
»Was ich noch sagen wollte«, brach ich nun mein Schweigen, »das war das letzte Mal.«
»Wie meinst Du das?«; sie schien mich nicht zu verstehen.
»Ich werde nicht wieder zu Dir kommen«. Sie starrte mich ungläubig an.
»Du bist ein Schwein«, schluchzte sie.
»Mag sein«, zischte ich mit schmalen Lippen.
Dann ging ich, ohne mich noch einmal nach ihr umzusehen, zur Tür und schob mein Fahrrad durch den Flur ins Treppenhaus. Ich fühlte mich erleichtert. Deswegen hatte ich ja heute den Weg zu ihr auf mich genommen. Trotz des miesen Wetters. Sie hätte mich halt im vergangenen Monat mal besuchen sollen. Ich lag zwei Wochen im Krankenhaus. Hatte zeitweilig das Gefühl, es würde nun mit mir zu Ende gehen. Nicht ein einziger Anruf von ihr. Stattdessen Nachrichten, dass sie sich mittlerweile mit anderen Typen vergnügen würde. Das hatte mir anfangs unruhige Nächte beschert. Bis zu dem Morgen, an dem ich aufwachte und zu meinem eigenen Erstaunen feststellte, dass mir die Sache egal geworden war. Wie ein Fieber, das meinen Körper verlassen hatte. Danach fühlte ich einzig Kälte, wenn ich an sie dachte. Keinen Hass, keine Rachegedanken; es war nur kalt. Ich war froh, dass ich es hinter mich gebracht hatte. Schwein hin oder her. Es war besser, wenn wir uns nie mehr wiedersehen würden.
Was für ein trauriger Monat
Der Aufzug stoppte im Erdgeschoss. An der Decke des Vorraums flackerten Neonlampen. Geben wahrscheinlich gleich ihren Geist auf, überlegte ich, während ich ins Freie trat. Es war dunkel geworden. Als ich mich auf den Sattel schwingen wollte, sprachen mich zwei Jugendliche an, die plötzlich in meinem Rücken auftauchten. »Eh Alter, hast Du mal ein paar Kippen für uns?« Ich schenkte ihnen eine ganze Packung. Das ist an einem Tag wie diesem auch zu verschmerzen, dachte ich und kämpfte mit den Pedalen gegen die Windböen an. Es regnete immer noch. Kalt und wie aus Eimern.
Was für ein trauriger Monat, ging es mir durch den Kopf.
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