Auf der Wiese der getrockneten Tränen (2)

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In Teil 2 stehle ich mich aus dem Bett der alten Freundin, setze mich im Morgengrauen auf eine Bank am Flussufer und denke darüber nach, ob wirklich sie es war, wegen der ich mich vier Jahre zuvor zu Tode trinken wollte. 

Draußen auf der Straße der Vorortsiedlung, in der sich Reihenhäuser und Bungalows abwechselten, atmete ich tief durch. Die Luft war kühl, der Himmel klar. Ein schöner Frühsommermorgen kündigte sich an. Ich stand auf dem Bürgersteig vor einem Haus, von dem ich mir geschworen hatte, es nie mehr zu betreten. Zu groß war damals der Trennungsschmerz gewesen. Ich hatte den Liebeskummer in mich reingefressen, lieber gallonenweise getrunken, als darüber zu sprechen. Ein Fehler, den viele Männer machen. Drei klinische Entzüge später war ich endlich ihr gegenüber erkaltet. An einem trüben Novembertag wachte ich im Krankenhaus auf und stellte verwundert fest, dass der Blues verschwunden war. Abgeebbt. Der pochende Kummer hatte sich in eine leise Hintergrundmelodie verwandelt, die gut zu ertragen war. Was für eine Erleichterung war das vor vier Jahren gewesen. Ich nahm mir fest vor, sie nie wiederzusehen.

3 Zeilen in Facebook und schon werde ich wankelmütig

Und nun hatten läppische drei Zeilen in Facebook ausgereicht, um mich wankelmütig werden zu lassen. Was war ich doch für ein elendes Weichei. Sie hätte sich große Sorgen um mich gemacht. Nachts Tränen geweint, weil sie glaubte, ich sei bereits in einem namenlosen Grab verscharrt worden. »Weshalb hast du mich nicht gesucht?«, hatte ich sie gefragt. »Du bist lustig«, erwiderte sie. »Wie sollte ich das zeitlich zwischen Beruf und Kindern unterbringen? Zudem wäre Benno eifersüchtig geworden. Du hast das Lotterleben geführt, während ich versucht habe, normal zu bleiben und nicht den Verstand zu verlieren.«

»Natürlich«, hatte ich vor drei Wochen geantwortet, froh Birgit wiederzusehen, den schweren Duft ihrer Haare einzusaugen, meine Fingerspitzen über ihre weiche Haut gleiten zu lassen. Der Klang ihrer Stimme erzeugte Vibrationen in mir, wie ich sie bei keiner anderen Frau gespürt hatte. Wenn sie den Mund öffnete, wollte ich aufspringen und ihre Zunge verschlingen. Birgit wusste um ihre elektrisierende Wirkung auf mich und weidete sich daran, mich mit frivolen Bemerkungen und weit geöffneter Bluse in Erregung zu versetzen. Andersherum ging es ihr mit mir genauso. Ansonsten hätte sie sich nicht nach fünf Jahren der kompletten Funkstille von heute auf morgen mit mir verabredet. Ihre anfängliche Neugier, den totgeglaubten Liebhaber zu inspizieren, wandelte sich binnen Stunden in Begierde. Zu glühend war unser Sex gewesen, als dass meine Ex-Freundin ihn völlig vergessen konnte. Wie viele Nächte hatten wir lachend und uns Geschichten erzählend in ihrem Bett verbracht? Es mussten hunderte gewesen sein. Ich dachte voller Zärtlichkeit an die gemeinsame Zeit mit ihr zurück, war mir aber im Klaren darüber, dass es keine gemeinsame Gegenwart – geschweige denn eine erfolgversprechende Zukunft – für uns zwei geben konnte.

Nach meinem letzten Absturz vor drei Jahren, der mich bis knapp vor die Ufer des Styx geführt hatte und die Ärzte zwei Tage lang um meine Existenz ringen ließ, entschied ich mich, mit dem Saufen ein für allemal aufzuhören. Den Entschluss, den ich vorher tausend Mal vergeblich gefasst hatte, setzte ich nun konsequent in die Tat um. Ich veränderte all das in meinem Leben, wozu mir Psychologen und Sozialarbeiter immer wieder geraten hatten. Wechselte Stadt, Freunde und Job aus. Wohnte alleine, lernte, mit mir selbst zurechtzukommen. Ich bemerkte, dass sich mein Denken der Sucht angepasst hatte. Vieles, was mir früher erstrebenswert erschien, wurde nun zusehends unwichtiger. Von Geld, Macht und gesellschaftlicher Anerkennung hielt ich wenig. Mir reichte es vollkommen aus, morgens mit nüchternem Kopf zu erwachen und mich gesund zu fühlen. Würde ich die steile Treppe zurück in die Bourgeoisie erklimmen können? Wollte ich das überhaupt? Die früheren Freunde und Kollegen würden mich im Bedarfsfall immer wieder spüren lassen, dass ich ein Gestrauchelter war, der die ungeschriebenen Regeln des Bürgertums verletzt hatte. Auch Birgit würde sich schnell wieder von mir trennen, sobald ihre erste Leidenschaft erloschen war. Sie war flatterhaft und experimentierte gerne. Eben eine typische Katze.

Selbe Wiese, aber andere Gefühlslage

Langsam spazierend war ich auf der großen Wiese angelangt, die ich so gut kannte. Ich ließ mich ins feuchte Gras fallen und schaute mich um. Links blickte ich auf den dunklen Park, unter dessen schattigen Bäumen ich einige Wochen gemeinsam mit Manni auf der Parkbank gelebt hatte. Vor mir der stets grünbraune Strom, der schmutziges Hochwasser führte. Auf dem gegenüberliegenden Ufer erspähte ich den Kiosk, in dem ich oft Dosenbier und billigen Schnaps gekauft hatte. Eine zeitige Joggerin in kanariengelber, ultrakurzer Sporthose schnaufte hinter meinem Rücken. Die Ohren mit einem riesigen Kopfhörer bedeckt. Am linken Oberarm ein mittels Stoffmanschette befestigter MP3-Player. Das Handgelenk zierte ein Pulsmessgerät. Achtlos lief sie an mir vorüber; völlig auf ihre eigene Aktivität konzentriert.

An dieser Stelle hatte ich – beinahe auf den Tag genau – vor vier Jahren Tränen des Zorns geweint. Würde sich alles wiederholen? Waren Läuterung, Therapie und Trockenwerden umsonst gewesen? Würde Birgit mich mit ihrem entwaffnenden Lächeln, dem Tremolo der Stimme und den ewig lockenden Augen erneut in ihren Bann ziehen? Konnte ich mich bloß in ihrer Nähe wohlfühlen? Gab es keinen Sex außer mit ihr? Oder trauerte ich der Vergangenheit nach, weil ich zu bequem war, mich auf etwas Neues einzulassen? Melancholie aufgrund süchtig machender Gewohnheit?

Mein Handy rumorte. Ich kramte das altersschwache Teil aus der Innentasche meines Jacketts heraus. Wo bleibst du? Frühstück ist fertig. Wir haben nicht ewig Zeit. Trödel nicht so lange rum, entzifferte ich auf dem blinden Display mit dem dicken Kratzer in der Mitte. Als ich wie ferngesteuert auf die Füße springen wollte, meldete sich der innere Warner: Du wirst in dein Verderben laufen. Das weißt du? Sie wickelt dich in ihr Netz ein und wird dich spätestens in zwei Wochen wie einen schimmligen Fisch zurück in den Fluss werfen. Während ich ansonsten gerne mit meinem Gewissen stritt und auf die schlauen Ratschläge pfiff, blieb ich heute sitzen.

»So ist es tatsächlich«, dachte ich laut nach. »Sie ist eine Katze. Also quält sie nicht aus Grausamkeit, sondern weil das ihrem Naturell entspricht.« Das Telefon klingelte jetzt geräuschvoll und lange. Es war Birgit. Vermutlich ungeduldig und sauer auf mich. Ich konnte mir ihre zornerfüllten Augen bei meiner verspäteten Rückkehr in ihr Haus lebhaft vorstellen. Sicher hatte sie geplant, ein weiteres Mal mit mir ins Bett zu steigen. Das würde nun aufgrund ihres eng getakteten Stundenplans nicht mehr klappen, weshalb sie mir den Kaffee nur noch aus Höflichkeit anbot.

Lila holt mich aus meinen Träumen zurück in die Gegenwart

Der Apparat vibrierte ohne Unterlass. Ich packte ihn wie einen Schlagball und wollte den Plastikknochen mit Schwung in den Fluss pfeffern. So wie ich es vor fünf Jahren schon einmal an diesem vermaledeiten Ort getan hatte. Ein letzter Blick auf die Anzeige. Das war gar nicht mehr Birgit. ‚Lila‘, prangte mir entgegen. Meine Lieblings-Borderlinerin aus der Klinik. Ich nahm das Gespräch an.

»Wo bist du? Doch nicht etwa bei ihr?«
»Nein, auf einer Lichtung im Park.«
»Da, wo dich die Sanitäter vor vier Jahren nahezu tot aufgesammelt hatten?«
»Du kennst die Geschichte?«
»Hast du mir mal erzählt.«
»Genau die.«
»Bock drauf, dich mit mir zu treffen? Musst aber die Brötchen mitbringen.«
Ich zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann antwortete ich: »Mache ich. Bis gleich.«
»Das ist schön. Und Henning, vergiss die Alte. Die wird dich ratzfatz wieder trinken lassen. Dann kannst du dich sofort heute erschießen. Kommt aufs selbe raus.«

Ich stand auf, bemerkte, dass mein Hintern vom Tau der Wiese feucht war, wischte mir das Gras von den Beinen und machte mich auf die Suche nach einer Bäckerei. Während ich den dunklen Strom hinter mir ließ, löschte ich Birgits Nummer in meinem Adressverzeichnis. Und so hatte ich einen weiteren Dämon aus meinem früheren Leben getilgt. Die alten Tränen waren längst getrocknet, neue wollte ich nicht vergießen. Ich freute mich auf Lila.
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Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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