Wiedersehen am Neumarkt

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Nach 35 Jahren treffe ich meinen Schulfreund Günter wieder, der früher in der Pfarrdisco mein Held gewesen war, heute magenkrank wirkt und sich bei mir nach Viagra erkundigt.

»Dank dir«, schmatzte Günter in meine Richtung, während er heißhungrig zwei belegte Brötchen in sich reinstopfte. Günter war ein cooler Typ gewesen. Kenne ihn seit der Mittelstufe. In der Pfarrdisco unten im Keller von Sankt Joseph brauchte er bloß stumm an der Wand zu lehnen und alle weiblichen Augen richteten sich auf ihn. Keine Ahnung, wie er das machte. Superschön fand ich ihn damals nicht. Ich konnte das Aussehen von Jungs aber nie richtig einschätzen. Er stand einfach da, schien an nichts zu denken und zwei Minuten später hielt er eine Braut im Arm. Jeden Sonntagnachmittag eine andere. Und zwar immer eine von der gutaussehenden Fraktion.

In der Pfarrdisco war Günter mein Held gewesen

Nicht die hässlichen Schüsse, mit denen sich meine Kumpels zufriedengeben mussten. Leider angelte er sich im November 77 auch Angelika, auf die ich seit dem Ende der Herbstferien ein Auge geworfen hatte. Mit bisher mäßigem Erfolg. Sie hasste meinen Humor, nannte mich einen Misanthropen. Den Begriff musste ich im Brockhaus meiner Eltern nachschauen, weil ich ihn nicht kannte. Menschenfeind – okay, konnte ich mit leben. Angelikas Möpse waren unglaublich. Um die anfassen zu dürfen, hätte ich mich von ihr beleidigen und schlagen lassen. Und nun ausgerechnet an dem Abend, an dem ich meinen gesamten Mut zusammengenommen hatte, um sie zu fragen, ob sie mit mir gehen wollte, knutschte sie wie wild mit Günter. Ich sah, wie sich die beiden Zungen ineinander verschlangen.

»Hau dem Typen eine aufs Maul«, sagte Wolfgang.
»Warum sollte ich das tun?«, fragte ich.
»Warum, warum? Er schnappt sich dein Mädchen. Ist das kein Grund für dich?«
»Sie ist nicht mein Mädchen«, antwortete ich. »Und sie hat ihn sich freiwillig ausgesucht.«
»Du bist ein komischer Vogel«, meinte Wolfgang.
»Vielleicht passt du gar nicht in unsere Clique der coolen Typen.«

Er hatte völlig Recht: in der Clique der Ich-gebe-mich- mit-mittelmäßigen-Bräuten-zufrieden-Mitschüler fühlte ich mich tatsächlich nicht gut aufgehoben. All das Theater im Vorfeld, bloß um mit der pickligen Ulla ein bisschen fummeln zu dürfen. Immer oberhalb der Bluse und nie darunter. Das war’s nicht. Ich würde mich Günter anschließen. Seine Masche kam mir entgegen. Ruhig an der Theke lauern und die Szene schweigend beobachten, konnte ich gut. Ich ging auf ihn zu, er schreckte kurz zurück, weil er glaubte, dass ich ihm eine verpassen wollte, lächelte, als er meine ausgestreckte Hand sah, und ich sagte: »Du hast gewonnen«. Von dem Tag an waren wir befreundet und ein paar Wochen später unzertrennlich wie siamesische Zwillinge. Die Pfarrdisco war unsere Grundausbildung gewesen. Von dort schwärmten wir aus in die Clubs der Stadt. Und teilten uns das neue Spielfeld gut ein: ich fühlte mich zum Backgammon hingezogen und begann zu zocken. Günter, da schwach im Rechnen, konzentrierte sich auf die Bräute. Am Ende des Abends teilten wir uns die Beute. Manchmal sogar dieselbe Frau; jedoch stets zeitlich hintereinander, nie in einer Dreier- Kombination. Dafür waren wir damals noch zu jung und verklemmt. War eine schöne Zeit, die jäh endete, als Günter die Schule vorzeitig verließ und eine Ausbildung in Dortmund, wo sein Vater wohnte, begann. Da verloren wir uns aus den Augen. Auf Vermittlung von Freunden, die Nachbarn von Günter kannten, kamen wir nun nach über 35 Jahren an einem sonnigkalten Oktobernachmittag in Köln wieder zusammen.

»Dot jot, disch zu sin, ahle Fründ“, sagte er und umarmte mich. Ich hatte nicht in Erinnerung behalten, dass er früher so starken Dialekt gesprochen hatte.
War vermutlich ein Phänomen des Alters, in dem manche dazu neigen, von Hochdeutsch auf Platt zu wechseln.
»Schön, dich zu sehen«, antwortete ich. »Sollen wir was essen?«
»Nid nüddisch, bin nit esu hungrisch«, bellte er, und ich begriff, dass er blank war.
»Ich lad dich ein.«
»Dat is nett von dir. Beim näxten Mol bin isch dran.«

Heute wirkt Günter magenkrank und abgebrannt

Günter futterte die gesamte Palette des Cafés rauf und runter. Schweigend. Und sah abgehärmt aus, mager, bleich, irgendwie krank. Ich tippte auf Magenkrebs, wollte ihn aber nicht danach fragen. Schien mir kein guter Einstieg in unser Gespräch zu sein. Wir redeten wenig. Er aß, ich rührte in meinem Cappuccino. Obwohl die erste Stunde sehr schweigsam verlief, war es doch ein gutes Gefühl, meinem alten Freund gegenüberzusitzen.

»Wat machen die Schüss?«, fragte er.
»Im Moment bin ich solo.«
»Äne Typ wie du solo: dat hät et fröher nit jejewe. Komische Zick, in der wir läve.«
»Und du: immer noch der Herzensbrecher?«
»Hab die Schnauze voll vun dä Wiever. Drei Mol jeschieden. Hät misch ene Vermöjen jekost.«
»Du brauchst ja nicht direkt wieder zu heiraten.«
»Nä, für mich is dat nix mie.«
»Potenzprobleme?«
»Och dat.«
»Soll ich dir Viagra besorgen?«
»Kummst du an dat Zeusch ran?«
»Ja. Kenne einen Apotheker, der es unter dem Ladentisch verkauft.«
»Och andere Sache?«
»Bis auf Morphium die gesamte Palette.«
»Bring misch nit op dumme Jedanke. Bin komplett wesch vun dem janze Driss.«
»Besser ist das.«

»Lommer zahlen. Hä drinne bekummen isch langsam Beklemmungen. Klaustrophobie säd minge Arzt dafür.«
»Gute Idee. Wo sollen wir hingehen? Den Ring rauf- und runterspazieren, wie wir es früher getan haben?«
»Hück is et zu kahl för drusse rumzuflaniere. Isch möscht noch kurz in dä Dom.«
»Was machen wir da?«
»Isch will en Käz ufstelle.«
»Für wen?«
»Für misch selbst. Un frog nit, worum. Kumm einfach mit oder loss et sin.«

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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