Vagabundenleben

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Wir sitzen am Lagerfeuer, saufen Schnaps, Manni sagt, dass ich morgen Schmiere für ihn stehen soll, und ich bekomme mitten in der Nacht, als jemand an mir rumfummelt, um mein Geld zu klauen, plötzlich schlechte Laune.

Wir saßen zu siebt um das kleine Lagerfeuer herum, das Manni am Abend auf der herbstlich feuchten Wiese im Park neben dem Fluss angezündet hatte, und ließen eine Flasche Czerwi-Wodka von Hand zu Hand gehen.

Im Kreis links und rechts von mir blickte ich in wettergegerbte Gesichter, seit vielen Tagen nicht rasiert, vom Alkohol aufgedunsen und mit dutzenden kleiner geplatzter Adern übersät. Die geröteten Augen dabei entweder in die prasselnde Flammen oder ins Dunkel der Baumwipfel gerichtet. Seit Minuten sprach niemand ein Wort. Stattdessen tranken wir schweigend in tiefen Zügen.

Schnaps ist alle

»Mist, die Pulle ist schon wieder leer. Wer holt Nachschub?«Manni schaute fragend in die Gruppe, musterte jeden von uns einzeln. Niemand aus der Runde meldete sich jedoch freiwillig für den Besorgungsgang.

»Henning, du bist an der Reihe.«
»Warum ich? Ich bin heute schon mittags und vorhin zum Supermarkt gelaufen.«
»Weil du der Jüngste von uns bist.«
»Woher willst du das wissen?«
»Tut jetzt nichts zur Sache. Du sitzt heute zum ersten Mal hier und feierst quasi deinen Einstand.«
»Habe ich es mir doch gleich gedacht, dass an eurer freundlichen Einladung ein Haken dran war.«
»So lauten die Regeln bei uns im Park. Also beschwer dich nicht. Und jetzt Beeilung, denn wir anderen verdursten so langsam.«

Ich zog mich an einem Ast nach oben, probierte vorsichtig aus, ob mich meine Füße nach dem vielen Schnaps überhaupt noch trugen, und trottete mit wankendem Schritt in Richtung Nachtkiosk. Auf dem Marsch dorthin überfielen mich zwiespältige Überlegungen. Ich zweifelte plötzlich daran, ob es tatsächlich eine clevere Idee von mir gewesen war, freiwillig mein kleines Appartement gegen die nasskalte Lichtung im Stadtwald auszutauschen. Mein Klinikbekannter Manni, mit dem ich einige gemeinsame Entgiftungen im Landeskrankenhaus absolviert hatte, lag mir seit Wochen in den Ohren damit, mich ihm und seinen Kumpels anzuschließen und das ungebundene Leben unter freiem Himmel auszuprobieren. Ich sei der richtige Typ dafür, hatte er mir erklärt. Hart im Nehmen, würde in der Psychiatrie nicht rumjammern, könnte mich gegenüber anderen durchsetzen und wäre wie geschaffen für dieses Experiment. Damit hatte er mir natürlich Honig um den Bart geschmiert und meine Neugier geweckt.

Ich war die Tuscheleien der Nachbarn ohnehin satt, die sich hinter vorgehaltener Hand das Maul über mich zerrissen, wenn ich abends betrunken die Treppen raufstolperte oder frühmorgens, weil ich mich noch nicht auf den Beinen halten konnte, auf meinem Hintern jede Stufe einzeln nach unten rutschte. Die die Türen immer einen Spalt breit offen hielten, um jeden meiner Schritte zu beobachten. So lange ich mich ansonsten ruhig verhielt und meine Miete pünktlich am Ersten des Monats überwies, drückte der Hauseigentümer immer ein Auge zu. Nachdem gestern allerdings drei Sanitäter, zwei Polizisten und ein Kerl vom Ordnungsamt unangekündigt um mein Bett herumgestanden hatten und mich aufforderten, sie ins Krankenhaus zu begleiten, war mein Entschluss, mich der Truppe um meinen neuen Kumpel anzuschließen, endgültig gereift.

Im Dreck der Straße liegen

Heute morgen nun hatte ich mich auf eigene Verantwortung aus der Klinik entlassen und eine Stunde später zielgerichtet Mannis Basislager unterhalb der großen Brücke angesteuert. Er hatte mich freudestrahlen mit den Worten, »Wurde auch Zeit, dass du endlich bei uns aufschlägst«, begrüßt und mich den anderen Männern vorgestellt. Die Gruppe umfasste knapp zwanzig Personen, allesamt Kerle zwischen dreißig und fünfzig Jahren ohne festen Wohnsitz, die sich jedoch der jeweiligen Situation anpassend in kleinere Einheiten aufspalteten. Ich als Neuer wurde von ihnen argwöhnisch beäugt und misstrauisch beschnuppert. Da sich jedoch Manni als ihr Anführer für mich verbürgte, blieb den Stadtstreichern nichts anderes übrig, als mich zähneknirschend willkommen zu heißen und in ihren Reihen zu dulden.

Ich näherte mich jetzt der Trinkhalle. Zu meiner Rechten floss träge der Strom, der unsere Stadt in zwei Hälften teilte und erinnerte mich mit dem sanften Plätschern der Wellen wehmütig daran, dass ich vor gar nicht langer Zeit hier noch gemeinsam mit den Kindern Fahrrad- und Rollschuhtouren unternommen hatte. Obwohl diese Erlebnisse erst zwei Jahre zurücklagen, empfand ich die Spanne, die seitdem vergangen war, wie eine kleine Ewigkeit. Du musst zunächst im Dreck der Straße liegen, bevor du zur Vernunft kommst, schossen mir die Vorwürfe eines Freundes durch den Kopf. Ich wollte mich an diesem Abend jedoch nicht mit schwierigen Gedanken belasten und verscheuchte daher die trüben Ideen. Es kommen auch wieder bessere Zeiten, sprach ich mir selber Mut zu. Ich ließ mir von der niedlichen ukrainischen Verkäuferin drei Pullen Doppelkorn und zehn Dosen Tuborg einpacken und machte mich auf den Rückweg zum Ruheplatz. »So ein Debüt bei Pennern ist nicht gerade billig«, fluchte ich leise.

»Da bist du ja doch zurück. Wir hatten schon befürchtet, du hättest dich aus dem Staub gemacht, weil es dir bei uns nicht gefällt«, Pitter, ein jovialer ehemaliger Binnenschiffer, grinste mich an und entblößte dabei seinen zahnlosen Kiefer.
»Der Kiosk ist jetzt nicht gerade um die Ecke. Ich musste den halben Park durchqueren.« Ich händigte ihm meinen Rucksack aus, woraufhin er zwei Flaschen unter die Männern verteilte und die dritte bei sich im Seesack bunkerte.
»Hast du Kohldampf, Henning? Obwohl sie dich im Krankenhaus ja wahrscheinlich fürstlich gemästet haben.«
»Ein wenig. Gestern ging’s mir noch zu dreckig, um ordentlich zu futtern.«

Schmiere stehen für Manni

Er reichte mir eine angebrochene Konserve, in der silberne Heringsstücke in heller Tomatensoße schwammen. Ich zögerte einen Augenblick. »Nun zier dich nicht wie eine Jungfrau. Stammt nicht aus der Mülltonne. Habe ich vorhin beim Edeka mitgehen lassen. Also frische Ware.« Ich griff hinein, schlang den fettigen Happen hastig hinunter und wischte die klebrigen Finger an dem feuchten Gras ab.

»Unser Baby nuckelt am Bier«, höhnte derweil Boris aus Kasachstan. »Schnaps ist nur was für richtige Kerle und nix für unseren Frischling.«
»Du solltest mit dem, der dir das Zeug besorgt, freundlicher reden«, fauchte ich verärgert.
»Reiß dein Maul nicht so weit auf, Milchgesicht. Sonst wirst du mich kennenlernen.« Er probierte aufzustehen, kippte aber sofort wieder nach hinten und lag nun schimpfend auf dem Rücken.

Bis auf Manni und zwei andere, die sich den gesamten Abend über ruhig verhalten hatten, machten die restlichen Männer auf mich einen körperlich eher desolaten Eindruck. Vor denen war mir nicht sonderlich bange. Deren sporadische Drohgebärden ähnelten dem verzweifelten ans Baumpinkeln altersschwacher Hunde, die krampfhaft versuchten, ihre Revier gegenüber jüngeren Mitbewerbern zu markieren.

»Wir müssen morgen dringend Kohle für neuen Stoff auftreiben. Unsere Vorräte neigen sich dem Ende zu. Henning, du wirkst halbwegs fit. Du wirst mich deshalb bei der Tour begleiten und Schmiere stehen.« Manni fixierte mich mit strenger Miene. Also ist er nicht der einzige hier, der Schore konsumiert, stellte ich mit leichtem Erschrecken fest. Jetzt darf ich ihm morgen beim Klauen und Weiterverticken der Diebesware behilflich sein. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen? In diesem Augenblick sehnte ich mich in meine eigenen vier Wände und das warme Wohnzimmer zurück.

Hexenschuss & wer will mich da nachts beklauen?

Gegen elf Uhr gähnten die Männer, rollten ihre Isomatten aus und mummelten sich in die Schlafsäcke ein. »Wir werden morgen eine geeignete Ausrüstung für dich organisieren. Die Nächte sind bereits empfindlich kalt. Heute musst du dich mit Anorak und dünner Wolldecke auf einer Parkbank begnügen.« Pitter warf mir einen bedauernden Blick zu.

»Hier läuft aber nachts, wenn ich schlafe, keine schwule Nummer ab; oder?«
»Gib dich bloß keinen falschen Hoffnungen hin, Henning. So verlockend siehst du nun weiß Gott nicht aus.«
»Ich wollt’s nur rechtzeitig gesagt haben. Auch auf dem Holzteil penne ich lieber alleine.«

Als ich mitten in der Nacht erwachte, herrschten Eiseskälte und völlige Dunkelheit um mich herum. Mein Rücken schmerzte höllisch wie bei einem Hexenschuss. Irgendwer fingerte an meinen Reißverschlüssen und zerrte an der Hose. Ich wollte plötzlich nur noch schnell weg von diesem Ort.
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Bild von 🎄Merry Christmas 🎄 auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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