Ich bin in Eile, weil ich mit Kumpels die Sportschau ansehen will, als plötzlich eine alte Schulfreundin auftaucht, mir ihr halbes Leben erzählt und mich bittet, ihrem saufenden Mann mal ins Gewissen zu reden.
Juni. Café in der Innenstadt. Samstagnachmittag.
Ich blätterte den Stapel mit den Tageszeitungen durch. Entdeckte die aktuelle Ausgabe des Kicker und versuchte, sämtliche Partien des heutigen Spieltags in meinem Gedächtnis abzuspeichern. Köln war erst um 18.30 dran. Auswärts in Nürnberg. Das ging erfahrungsgemäß in die Hose. Das Match würde ich mir nachher mit ein paar Kumpels in der Sky Riverbar ansehen. Manni, der Wirt, kannte mein Alkoholproblem und stellte mir Cola auf den Tisch, um mich gar nicht erst in Versuchung zu führen. Fand ich sehr fürsorglich von ihm.
Die alte Schulfreundin erscheint
»Hallo, du bist Henning? Lange nicht gesehen.« Neben meinem Tisch war eine ziemlich blonde Frau aufgetaucht. Ich taxierte sie in etwa auf meinen Jahrgang.
»Woher kennen wir uns?«
»Aus der Schule.«
»Welcher? Ich war auf mehreren.«
»Eichendorff Grundschule.«
»Das ist aber echt lange her.«
»Kannst du laut sagen. Du hast dich aber kaum verändert. Halt viele Falten und nicht mehr der Jüngste. Gesicht ist aber dasselbe wie damals. Habe dich direkt wiedererkannt. Ist der Platz neben dir frei?«
»Ja, setz dich gerne hin. Du bist Vera, stimmt’s?«
»Du hast es erraten.«
Vera, die bereits mit neun Jahren ihren ersten Freund hatte. Einen vierzehnjährigen Schwachkopf aus der benachbarten Realschule. Sie war ein wirklich scharfes Gerät gewesen. Aber Jungs wie ich spielten in den Siebzigern nicht in ihrer Liga. Vera suchte sich Ältere, bei denen sie hinten auf den Mopeds und später auf der Enduro Platz nehmen konnte. Während ich noch bei meinen Eltern darum betteln musste, am Samstag in die Pfarrdisco gehen zu dürfen, tingelte sie schon durch die Clubs der Stadt. Und diese Vera saß nun nach vielen Jahren plötzlich neben mir. Wirkte verlebt. Aber besser sah ich auch nicht aus. Der Zahn der Zeit nagte eben unaufhaltsam an uns allen.
»Warst du fort aus der Stadt, Henning?«
»Einige Jahre. Magst du was trinken?«
»Gerne: einen Latte Macchiato.«
»Hole ich dir.«
Vera nimmt Tuchfühlung auf
»Wo warst du denn abgeblieben all die Zeit?« Vera zückte einen kleinen Spiegel und begutachtete ihr Make-up.
»Ist eine lange Geschichte.«
»Daniel hat mir erzählt, dass er dich in der Entzugsklinik getroffen hat.«
»Der redete schon immer viel.«
»Eine große Leuchte war der bereits zu unserer Schulzeit nicht. Da hast du recht. Weshalb musstest du denn entgiften?«
»Alkohol.«
»Die übliche Nummer. Mach dir nichts draus. Ich war auch bereits drei Mal dort. Allerdings wegen Koks und Pep.«
»Dann wären wir uns ja beinahe über den Weg gelaufen.« Ich schaute auf die Uhr. Noch über eine Stunde bis zum Anpfiff des Abendspiels.
»Bist du solo?« Vera zupfte gedankenverloren an ihrer rechten Augenbraue.
»Ja.«
»Weil du alleine besser klar kommst?«
»Auch.«
»Der Gesprächigste bist du ja nicht gerade. Hast doch früher munterer drauf los geplappert.«
»Wir werden älter und ruhiger.« So ganz langsam ging mir Vera mit ihrer Befragungsmasche auf die Nerven.
»Erinnerst du dich noch daran, wie du mich damals im Babylon besucht hast?« Vera beugte sich unvermittelt über den Tisch und kam mir mit ihrem Schmollmund plötzlich bedenklich nahe.
»Dunkel.«
»Das wundert mich nicht. Du warst granatendicht. Aber super freundlich. Wolltest den gesamten Schuppen zu einer Runde einladen.«
»Oh, das war dann bestimmt teuer.«
»Ich habe dich gerettet.« Vera betrachtete nun ihre magentafarbenen Fingernägel.
»Hast du das? Kann mich nicht mehr so richtig erinnern.«
»Ich habe dich nach oben in mein Zimmer gelotst.«
»Und mir da die Kohle abgenommen?«
»Schien mir das Vernünftigste zu sein.«
»Da hattest du sicherlich recht: Sex ist besser als Saufen.«
»Schön, dass du das auch so siehst. Kannst du dich noch an meine kirschroten Lackstiefel erinnern?«
»Vera, das ist knapp dreißig Jahre her.«
»Nächste Woche gerade Mal fünfundzwanzig. Mach uns nicht älter, als wir es ohnehin schon sind. Du konntest dich in dieser Nacht an meinen Stiefeln gar nicht genug sattsehen. Ich musste die sogar im Bett anbehalten.«
»Ich war betrunken.«
»Papperlapapp. Du standst damals auf mich. Gib’s zu.«
»Wir haben uns danach nie wieder gesehen.«
»Weil ich dir meine Telefonnummer nicht gegeben hatte.«
Sollte ich gehen oder mich noch eine Weile mit meiner alten Klassenkameradin unterhalten? Mir verblieben noch fünfundvierzig Minuten bis zum Spiel. Ich holte uns zwei weitere Tassen Kaffee.
Bin ich ein alter Schulfreund oder bloß ein neuer Kunde?
»Was machst du denn aktuell so, Henning?«
»Schlage mich als Freiberufler durch. In der Werbebranche.«
»Selbständig bin ich auch. Möchtest du wissen, was ich tue?«
»Vera, du wirst es mir sicher gleich erzählen. Egal, ob ich frage oder nicht.«
»Ich arbeite im alten Gewerbegebiet am nördlichen Stadtrand. Kennst du das?« Vera klappte ihre Lider gekonnt nach oben.
»Ja. Da sind wir früher mit unseren aufgeritzelten Mofas Wettrennen gefahren.«
»Ich stehe da von mittags bis in den Abend hinein gegenüber der großen Spedition und warte auf Kunden.« Vera schaute mich aufmerksam an, um meine Reaktion auf diese Neuigkeit zu studieren. Was sollte mich ihre Offenbarung großartig jucken? Als ob ich mich noch nie mit einer Hure unterhalten hätte.
»Du arbeitest nicht mehr in den Clubs?«
»Nein. Denen war ich vor ein paar Jahren zu alt geworden. Hatte auch Stress mit einigen Pächtern. Wie’s halt so geht. Danach musste ich auf der Straße anschaffen. Hast du ein Problem damit?«
»Warum sollte ich? Ist ein Job im Dienstleistungsgewerbe. Halt speziell. Aber in Ordnung.«
»Würdest du mit einer Frau zusammen sein wollen, die als Nutte ihr Geld verdient?«
»Vera, die Frage stellt sich mir nicht. Ich bin ledig und zufrieden.«
»Du weichst mir aus, mein Lieber. Hast du früher schon getan, wenn ich Klartext von dir hören wollte. Hat dich damals Sympathiepunkte bei mir gekostet.«
»Warum muss ich das beantworten? Wir kennen uns kaum.«
»Weil mich eben deine Meinung interessiert. Jetzt zier dich mal nicht so. Ich bin ein großes Mädchen. Kann die Wahrheit schon vertragen.«
»Ich stell’s mir nicht einfach vor.« Ich kratzte mich am Hals. Wollte jetzt nichts Falsches sagen.
»Weshalb?« Vera zündete sich eine Zigarette an.
»Da muss man als Partner schon sehr liberal und tolerant sein.«
»Und genau das pisst mich an: dieses der ‚arme Mann’. Ich kann die Platte nicht mehr hören. Aber das hart verdiente Geld abends einkassieren: das geht? «
War ich ihr also doch in die Falle gegangen. Ärgerlich.
»Ich bin kein Psychologe«
»Was tut denn dein Mann?«
»Nichts. Kriegt Hartz IV. Liegt im Trainingsanzug auf der Couch und trinkt Bier.«
»Schlägt er dich?«
»Nein. Das würde der abends sowieso nicht mehr schaffen. Da ist der zu betrunken für.«
»Na zumindest keine Prügelszenen.«
»Er schläft nicht mit mir.«
»Wie lange seit ihr denn zusammen?.«
»Mit Horst: über zwanzig Jahre.«
»Ist das dann nicht normal? Also, dass die Libido schwächer wird?«
»Schon. Aber gar nicht mehr. Du kannst mir das bestimmt erklären, Henning.«
»Was?«
»Naja, dass Horst keinen mehr hochbekommt. Liegt das am Alkohol?«
»Kommt darauf an, wie viel er säuft. Ab drei Promille wird es schwierig.«
»Ist das ein dauerhaftes Problem? Oder erholt sich der Körper?«
»Vier Wochen nach einem Entzug ist normalerweise alles wieder im grünen Bereich.«
»Willst du mal mit meinem Mann reden? Auf mich hört er nicht.«
»Ich bin doch nicht sein Psychologe.«
18.20.
»Schade, dass du damals so sternhagelvoll warst. Sonst hätte ich dir meine Telefonnummer gegeben.«
»Ist halt heute fünfundzwanzig Jahre zu spät. Ich bin jetzt mit ein paar Kumpels zum Fußball verabredet. Ciao Vera.«
»Wann bist du das nächste Mal wieder hier?«
»Vielleicht am kommenden Samstag.«
In Teil 2 lerne ich Veras Mann Horst kennen, der mich beschimpft, weil er vermutet, dass ich mit ihr schlafe und für den ich dann einen Einweisungsbeschluss in die Klinik bewirke.
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