Auf der Suche nach dem Urknall (2)

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Nachdem ich die Psychostunde hinter mich gebracht habe, fängt Petra mich draußen auf dem Gang ab und sagt, dass mir eh nicht mehr zu helfen ist, was mich kurz betrübt. 

»Ich habe den Eindruck, dass Sie es sich in Ihrer Nische mittlerweile ganz bequem eingerichtet haben«, versuchte Frau Schneider ein letztes Mal, mich aus meiner nachmittäglichen Lethargie wachzurütteln.

Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks

»Wie meinen Sie das? Verstehe ich nicht.«
»Sie erscheinen hier mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Manchmal zu Fuß, oft liegend auf einer Trage und in letzter Zeit zumeist mit dem Umweg über die Intensivstation. Sie entgiften schnell, sind nach einer Woche wieder zu Hause, trinken dort munter weiter, zumal Sie wissen, dass Sie bei uns im Notfall sofort aufgenommen werden. Sie kennen im Krankenhaus Gott und die Welt, sind wegen Ihrer ruhigen Art bei den meisten Ärzten und Pflegern beliebt, sodass ich die Befürchtung hege, dass Sie sich hier drinnen zumindest genauso wohl fühlen wie draußen auf der Straße. Während ich im vergangenen Jahr den früheren Manager und Familienvater in Ihnen noch erkennen konnte, ähneln Sie heute einem abgerissenen Hippie, der seit Woodstock ununterbrochen säuft. Das meine ich mit bequem in der Nische einrichten.« Frau Schneider blickte mich triumphierend an in der Gewissheit, dass dieser fiese Nierenhaken mich reumütig in die Knie zwingen würde. Du kannst mich mal, dachte ich bitter, gähnte erneut, rutschte halb vom Stuhl herab und signalisierte deutlich, dass ich langsam ans Ende der Unterhaltung gelangen wollte.

»Ich merke, dass Ihre Aufmerksamkeitspanne noch nicht für eine längere Sitzung ausreicht. Ich will Sie heute auch nicht länger foltern. Ihr sicherlich quälender Entzug ist Strafe genug. Ich würde vorschlagen, dass wir uns übermorgen wiedersehen. Ich finde Sie im Aufenthaltsraum. Vor mir weglaufen können Sie in der geschlossenen Abteilung ja nicht. Das ist praktisch.« Über Frau Schneiders Lippen huschte ein boshaftes Lächeln, und sie entließ mich mit einem kurzen Kopfnicken, derweil sie ihren Vermerk über meine mangelhafte Krankheitseinsicht zu Ende formulierte.

Du bist ein arrogantes Großstadt-Arschloch

»Wie war die Psychostunde bei der Gruseltante?«, empfing mich Petra draußen auf dem Flur. »Hat sie dir angeboten, bei ihr einzuziehen?« Sie trug einen knallroten Spaghetti-Top auf ihrer weißen Haut, der bei jeder Bewegung den Blick auf die Speckrollen an ihren Hüften freigab.
»Warum sollte sie das tun?«
»Die steht auf dich. Merkt doch jeder.« Wie zufällig streifte sie den Träger von ihrer linken Schulter ab und strich mit zwei Fingern über das freigelegte Dekolleté. Trotz meiner Müdigkeit bemerkte ich, dass ihre Brustwarzen hart und begehrlich im Neonlicht schimmerten.
»Ich unterhalte mich eben mit ihr.«
»Ach was. Du schleimst dich ekelerregend bei der ein.« Da meine Reaktion auf ihren Busenblitzer nicht so ausfiel, wie sie sich das vorgestellt hatte, zog sie das Shirt wieder nach oben und schaute mich missbilligend an.
»Von mir aus.« Mir war an diesem Nachmittag tatsächlich alles egal. Ich wollte meine Ruhe haben und die Schmerzen loswerden. Deshalb stand mit der Sinn ganz und gar nicht nach komplizierten Gesprächen. Weder mit Frau Schneider noch mit Petra.
»Du bist in den letzten Monaten völlig teflonartig geworden. Wo ist der nette Henning abgeblieben, den ich vor einem Jahr hier kennengelernt habe?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, und ich meinte, ein Déjà-Vu der Verabschiedung mit der Psychologin zu erleben.

Petra betrieb ein kleines Bordell am Nordrand der Eifel, an der Bundesstraße, die von Düren über Aachen weiter nach Belgien und Holland führt. Zu ihren Kunden zählten deshalb überwiegend LKW- Fahrer und Handlungsreisende, die mit Haushaltsartikeln und Versicherungspolicen unterwegs waren. Ihr bereitete es Freude, bei den Männern selbst Hand anzulegen und mit ihnen fröhlich zu bechern. Wenn sie einen im Tee hatte, konnte es passieren, dass Petra leicht reizbar und unflätig wurde. Unvorsichtigen Freiern, die es wagten, ihr in diesem hochalkoholisierten Stadium zu widersprechen, donnerte sie die Faust ins Gesicht oder traktierte sie mit Sektflaschen und dem spitzen Absatz ihrer Stilettos. Sie wurde deshalb häufig in Handschellen in der Klinik vorgeführt. Anstatt sich dankbar zu zeigen, dass sie an einen Ort gebracht worden war, an dem ihr geholfen werden konnte, beschimpfte sie die Polizisten mit Scheißbullen und bezeichnete den netten iranischen Aufnahmearzt als Dreckskanaken. Wenn sie zu sehr herumtobte und alles freundliche Beschwichtigen nicht fruchtete, hakten sich zwei muskelbepackte Pfleger bei ihr ein und eskortierten sie ins Bett. Dort wurde sie an vier Punkten fixiert, erhielt ein starkes Beruhigungsmittel und pennte danach komatös für vierundzwanzig Stunden. Sobald sie erwachte, konnte sie sich an nichts zurückbesinnen und benahm sich lammfromm und zivilisiert. Sie war eine Seele von Mensch und litt mitunter geradezu unter einem Helfersyndrom. Auch ich hatte bereits mehrmals meinen Rausch zwischen ihren wogenden Brüsten ausgeschlafen, woran sie mich hin und wieder gerne erinnerte.

»Wann kommst du mich endlich besuchen?«, hatte sie mich beim letzten gemeinsamen Aufenthalt gefragt.
»Weiß nicht«, antwortete ich zögerlich.
»Was soll das heißen: weiß nicht? Du hast es tausend Mal versprochen.«
»Ich bin Großstädter und fahre nicht gerne aufs Land.«
»Du bist ein arrogantes Arschloch, das es nicht wert ist, mit ihm meine Zeit zu vertrödeln«, hatte sie mich damals beschimpft.

Ich treffe Lila wieder

»Henning, dir ist einfach nicht zu helfen«, zischte sie heute. »Anstatt an dir zu arbeiten und langsam das Jammertal zu verlassen, feierst du jeden Abend fröhlich Party, so als ob es dein letzter sein könnte. Ich verstehe dich einfach nicht.«
Als ob du alte Wachtel seltener als ich hier aufschlägst, ging es mir durch den Kopf, und ich sagte leise: »Lass das meine Sorge sein. Ich kann gut auf mich alleine aufpassen.«

Petra drehte mir abrupt den Rücken zu, sodass ich das bunte Kamasutra-Tattoo sehen konnte, das ihr früherer Freund kunstvoll gestochen hatte, und stiefelte den Südostflur entlang in Richtung Raucherzimmer. Sie war die Zweite innerhalb einer Stunde, die mir erklärte, dass ich mich mit meinem Trinkerleben arrangiert hätte und in der Klinik sichtbar wohlfühlen würde. Vielleicht ist da was Wahres dran, grübelte ich; beschloss aber, mich heute nicht mit diesem schwierigen Thema auseinandersetzen zu wollen. Ich fühlte mich schlichtweg zu schlapp dafür.

»Na alter Mann, was brütest du so dumpf vor dich hin? Ist dir nicht gut?« Von hinten berührte eine mir wohlbekannte Hand sanft meinen Hals. Ich wendete mich im Zeitlupentempo um und schaute in das schöne, aber leicht irre Gesicht von Lila, meiner absoluten Lieblings-Borderlinerin. »Hi, Lila. Bist du auch wieder hier?« Ich küsste sie zärtlich auf den Mund.
»Ich kann dich schließlich nicht alleine in der Psychiatrie rumlaufen lassen. Nachher gerätst du hier noch komplett unter die Räder.«
»Und deshalb folgst du mir bis in die geschlossene Abteilung?! Kaum zu glauben. Auf jeden Fall gut, dich zu sehen.«
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Und hier morgen zu Teil 3.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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