Der dauergeile Messie (1)

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Zu Beginn der Abstinenz überlässt mir freundlicherweise mein Kumpel Johannes seine Wohnung, und ich darf die Bude erstmal 48 Stunden lang entrümpeln und mit Sagrotan desinfizieren. 

»Die Bude ist ein bisschen unordentlich. Bist nicht superempfindlich, oder?«
»Alles okay für mich. Danke!«
»Der Dicke ist für unten, der dünne für oben. Kannst du dir das merken?«

Mahnschreiben immer in die Mülltonne

Bevor Johannes mir den Schlüsselbund aushändigte, ging er zum Müllcontainer, öffnete die schiefe Klappe und warf hundert ungeöffnete Briefe hinein.

»Wie lange warst du nicht mehr hier?«, fragte ich.
»Bestimmt neun Monate, Alter. Sind alles verfickte Mahnschreiben. Keine Lust, mir von dem Scheiß die Wochenendlaune vermiesen zu lassen.«
»Vernünftig«, sagte ich. »Was willst du dich mit dem Mist großartig belasten?«
»Es ist die fünfte Klingel in der dritten Reihe. Ohne Namensschild. Hier findet dich niemand.«
»Ich mache eh niemanden auf. Wer soll mich besuchen? Welcher Stock?«
»Zehn. Aufzug funktioniert. Dann den Gang lang bis zur dritten Tür auf der rechten Seite. Nicht zu übersehen. Habe ein Bild von Bushido drangeklebt. Damit jeder weiß, was ihn erwartet, wenn ich schlechter Laune bin.«
»Warst schon immer ein harter Typ, Johannes.«

»Du willst mich jetzt verarschen? Hast du dir die Zähne machen lassen?«
»Vor drei Monaten. War schmerzhaft. Zwanzig Wurzeln lahmgelegt. Parodontose, Karies. Das komplette Programm.«
»Tja, hättest du eben in den Jahren des Saufens mehr auf dein Äußeres Acht geben sollen. Sahst oft aus wie ein übler Penner.«
»Gut, das du mich daran erinnerst. Nicht, dass ich die Zeit zu schnell vergesse.«
»Soll ich dir mit den Koffern helfen?«
»Brauchst du nicht. Bringe ich nachher hoch. Will mich erstmal umschauen.«
»Tu das. Ich hab’s ohnehin eilig. Bin noch mit Tatjana verabredet.«
»Eine neue Braut?«
»Jap, kenne ich seit vorgestern. Geht im Bett ab wie eine Rakete.«

Johannes umarmte mich. Unter dem Kinn spürte ich den weichen Stoff seines Kaschmirmantels. Er roch nach teurem Rasierwasser.

»Hast du meine Rolex schon gesehen?«
»Schönes Stück.« Ich nickte anerkennend mit dem Kopf.
»Soll ich dir eine besorgen?«
»Lass gut sein. Bin wegen der Wohnung schon tief genug in deiner Schuld.«
»Jetzt übertreib es nicht mit deiner Dankbarkeit. Sonst kommen mir gleich die Tränen.«

Der eine mit Rolex und Sportwagen, der andere froh, ne Bude für den Übergang zu haben

Hinter uns hupte es mehrmals. Ein kleiner, japanischer Sportwagen stoppte und eine Frauenhand winkte ungeduldig.

»Ist sie das?«
»Hast es erraten.«

Mein Kumpel lief zur Straße, sprang auf den Beifahrersitz und ließ mich alleine in der trostlosen Plattenbausiedlung am Südostrand der Stadt zurück. Ich starrte dem frisch verliebten Paar seufzend nach.

An diesem traurigen Nachmittag im November prasselte der Regen auf den schmutzigen Asphalt, wo er ölige Pfützen bildete. Den ganzen Tag über wurde es nicht richtig hell. Wetter für Selbstmörder und manisch Depressive. Wie ein Hund schüttelte ich mich, um die schwersten Tropfen los zu werden. Ich blickte nach oben. Es war eines der typischen Sozialhochhäuser aus den siebziger Jahren. Hässlich, erfüllte aber seinen Zweck. Wo sollten die armen Teufel sonst wohnen?, überlegte ich kurz. Ich betrat den Vorraum und sah zu meiner Linken Dutzende von zerbeulten oder halb herausgerissenen Briefkästen. Die bekommen hier ohnehin nur Pizzawerbung und Aufforderungen, die EV abzugeben, ging es mir durch den Kopf. Solche Post klaut Dir sowieso keiner.

Neonlampen flackerten nervös und verliehen dem Eingangsbereich die Atmosphäre einer U-Bahnstation. Der Aufzug rauschte nach oben. Zehnter Stock. Ich stolperte über einen pinken Schlittschuh, an der Wand waren Kartons zu einem schiefen Turm aufgeschichtet. Ein Rollator versperrte den Weg; ich schob ihn beiseite. Dritte Tür rechts. Bushido grinste mir entgegen. Ich war angekommen. Der Schlüssel passte, ließ sich aber keinen Millimeter bewegen. »Notfalls rütteln und dagegentreten«, hatte mir Johannes vorhin geraten. »Schloss ist wahrscheinlich eingerostet. Besorg dir Nähmaschinenöl im Supermarkt, dann fluppt es.« Ich drehte vorsichtig nach links und rechts, um das zierliche Aluminiumstück nicht in zwei Teile zu zerbrechen. »Kacke, klappt nicht«, fluchte ich. Nach einer kleinen Ewigkeit schaffte ich es doch, die Holztür schwang leise knarrend nach Innen und gab den Blick frei auf das Chaos. Das Universum nach der Sekunde des Urknalls, als sämtliche Gesteinsbrocken und Staubpartikel völlig unsortiert hin- und herflitzten.

Ohne Sagrotan fass ich hier nichts an

»Johannes, du Drecksmessie«, rief ich in den dunklen Raum hinein. »Das nennst du ein bisschen unordentlich? Ich werde Tage brauchen, um bloß die Farbe des Fußbodens zu erkennen. Wie kann man so viel Müll horten?« Wütend trat ich gegen den ersten Haufen. Der zerbarst in DVD-Rohlinge, Elektrokabel und leere Deoflaschen. »Abfallbeutel sind in der Küche unter der Spüle«, erinnerte ich mich. Dort sah es noch schlimmer aus als im Wohnzimmer. Im Waschbecken stapelten sich dreckige Teller und verklebtes Besteck. Gläser, zur Hälfte mit brauner Flüssigkeit gefüllt, standen daneben. Bei vielen hatte sich eine grün-weißliche Schimmelschicht auf der Oberfläche gebildet. Dazwischen Zahnbürsten und benutzte Teebeutel. »Was für eine eklige Sauerei«, schrie ich. »Jetzt weiß ich, weshalb du dich so generös gezeigt hast. Weil du einen Blöden brauchst, der die ganze Scheiße aufräumt. Aber nicht mit mir!« Nachdem ich zwei Minuten lang Dampf abgelassen hatte, beruhigte ich mich. Hilft alles nichts, überlegte ich. In dieser Jahreszeit ist eine voll verranzte Bude allemal besser als das Übernachten auf der Parkbank.

Ich bahnte mir den Weg zurück auf den Flur. Aus der Nachbarwohnung beobachtete mich eine alte Frau in Hausschuhen und dunkelgrünem Bademantel. Vermutlich aufgeschreckt durch mein Geschrei. Als sie mich aus Johannes Appartement rauskommen sah, verschwand sie augenblicklich hinter ihrer Tür. Ich lief die zehn Etagen nach unten und erkundigte mich bei einem Mann, dem die vorderen Schneidezähne fehlten, nach dem nächstgelegenen Supermarkt. »Vierhundert Meter geradeaus, dann über die Ampel. Können Sie nicht verfehlen«, erklärte er mir und stieß nach jedem dritten Wort einen merkwürdigen Zischlaut aus.

»Danke.« Ich schlug den Kragen meines abgewetzten Mantels nach oben und zog die Wollmütze bis zu den Augenbrauen herunter. Der Regen hatte zugenommen. »Ich hasse den November, ich hasse diese Stadt und ich hasse mein Leben«, sprach ich mit mir selbst, während ich den Einkaufswagen in den grell beleuchteten Discounter hineinschob. An den mit Wein und Spirituosen prall gefüllten Regalen eilte ich vorbei, denn ich wollte nicht in Versuchung geraten. So lange war ich noch nicht trocken, dass ich mir Experimente mit zu langem Blickkontakt leisten konnte. Im zweiten Gang stoppte ich und angelte mir alles, was nach Haushaltsreiniger und Desinfektionsmittel aussah. Dazu drei Paar Gummihandschuhe, fünf Putzlumpen, Ako Pads und zwölf Rollen Zewa. Das musste fürs Erste ausreichen. Noch sechs Flaschen Cola Zero, mein neues Suchtmittel, seitdem ich dem Wodka abgeschworen hatte und ich marschierte zur Kasse. Ellenlange Schlange. »Typisch; alle zur selben Uhrzeit wie ich«, dachte ich und glotzte auf die Flachmänner oberhalb des Laufbands.
—–

Morgen in der Fortsetzung lerne ich eine nette Kassiererin kennen und putze immer noch die dreckige Bude.

Bild von 🎄Merry Christmas 🎄 auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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