Allmählicher Hirnstillstand aufgrund von Psychopillen

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Zyprexa macht noch matschiger in der Birne als Wodka.

Nach vier Wochen in der Geschlossenen sind meine Albträume und Panikattacken verflogen. Ich befinde mich im Raucherraum mit den nikotingelben Wänden und starre aus dem vergitterten Fenster hinaus auf den strahlendblauen Himmel. Unten von der Straße höre ich das Lachen junger Mädchen, die braungebrannt und in aufreizend knappen T-Shirts beim Italiener gegenüber ein Eis essen. Obwohl ich barfuß, in Jogginghose und ärmellosem Unterhemd regungslos neben dem brummenden Ventilator sitze, bricht mir der Schweiß aus. Ich blicke an mir herab und sehe weiße Haut. Die Zehennägel ähneln Katzenkrallen, biegen sich bereits nach unten. Ich kann sie nicht schneiden, weil ich keine Schere in die Hand nehmen darf. Die Haare sind verfilzt und glänzen fettig. Ich fühle mich zu schlapp, um morgens zu duschen. Den Pflegern ist es egal. Hauptsache, ich verhalte mich ruhig und unauffällig. Die junge Frau Doktor im kurzen, roten Minirock hat mir gestern während der Visite gesagt, dass meine Genesung gute Fortschritte macht. In spätestens zwei Monaten sei ich endgültig auf die neuen Medikamente eingestellt. Mein Gehirn arbeitet langsam, ich spreche in Zeitlupe. Jeden Tag dreimal pünktlich nach dem Blutdruckmessen erhalte ich fünf bunte Pillen.

Danach lege ich mich aufs Bett und döse. Soll ich von hier abhauen? Ich würde es noch nicht einmal bis zur Ausgangstür schaffen. 15 Kilo zugenommen, seitdem ich weggesperrt bin. Ich fresse ohne Unterlass. Das Hungergefühl lässt sich trotzdem nicht besiegen. Seit vorgestern schiebt mir die kleine Magersüchtige, die nur noch 39kg auf die Waage bringt, ihr Tablett rüber. Sie wird’s ohne Nahrung nicht mehr lange machen.

Muss im Rollstuhl an unseren Tisch geschoben werden. Egal, ich will essen. Wie ein Brontosaurus schaufele ich 18 Stunden am Tag Kalorien in mich rein. Mittlerweile ähnele ich einer trägen, fetten Robbe. Keinerlei Libido zu spüren. Mein Unterleib ist bis auf die Verdauung völlig taub. Aber: die Panikattacken sind eingedämmt. Dafür tonnenweise Matsch in der Birne. Die nächtlichen Dämonen verwandeln sich in lustige, bunte Comicbilder. Über die ich nicht lachen kann, weil ich so abgestumpft bin. Die Angst, die den Puls manchmal von 60 auf 170 beschleunigte und mein Herz arrhythmisch springen ließ, hat sich in dumpfes Brüten verwandelt. »Sie werden ihr Leben lang Tabletten benötigen. Mit Manie ist nicht zu spaßen«, hat die Ärztin erklärt. Ich überlege, ob ich aus der Bettwäsche einen Strick anfertigen kann.

Draußen herrscht Schwimmbadwetter, und ich werde mich nie mehr mit einer Badehose in die Öffentlichkeit trauen. Zyprexa und Narzissmus vertragen sich nicht. Ich drehe das Laken zusammen und lege es um den Hals.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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