Der Millionenerbe im Raucherzimmer

You are currently viewing Der Millionenerbe im Raucherzimmer

Warum manche Patienten von ihren Betreuern Geld in die Hand gedrückt und andere Puddingpulver mitgebracht bekommen.

»Bist du auch mal wieder hier, Henning?«
»Ja, bin ich, Rolf.«
»Hast dich aber lange draußen gehalten. Also für deine Verhältnisse.«
»Acht Wochen. Gar nicht so schlecht.«
»Umweg über die Intensivstation?«
»Ne, direkt hierher. Gottseidank.«
»Mit Rettungstransport?«
»Konnte noch selber laufen. Alles im grünen Bereich.« Mir brach unvermittelt der Schweiß aus und lief mir in kleinen Rinnsalen links und rechts das Gesicht hinunter.
»Bekommst du keine Tabletten?«
»Nein. Wird noch Stunden dauern. Ist immer eine elende Warterei.«
»Und die haben dich direkt aufgenommen?«
»Ja: warum auch nicht? Machen die immer.«
»Da du aus deren Sicht eigentlich kein akuter Notfall bist. Es ist Winter. Draußen auf den Parkbänken und in den U-Bahnstationen wird es kalt. Da herrscht hier ein mordsmäßiger Andrang. Die meisten schicken sie wieder weg.«
»Mich halt nicht.« Rolf nervte mich mit diesem Vortrag. Ich war auf der Suche nach einer Zigarette.
»Weil du da unten bei der Aufnahme eben übel rumschleimst.«
»In meinem Zustand? Eher unwahrscheinlich. Ich bin denen halt sympathisch. Kann auch nichts dafür, dass dich niemand leiden kann, Rolf. Hat hier mal jemand was zu rauchen?«
»Henning, kannst eine von mir haben.« René mit seinen selbstgedrehten Kippen war auch wieder da.

»Henning, darf ich mich auf deinen Schoß setzen?«
»Nein. Lass mich in Frieden.«
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Manu, du hast dich ein halbes Jahr lang nicht bei mir gemeldet. Was willst du jetzt von mir?«
»Du bist aber nachtragend. Kenne ich gar nicht von dir.«
»Mir geht es einfach nicht gut. Will meine Ruhe haben.«

Manu rauschte beleidigt ab und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.
»So macht man sich Freunde.«
»Die hat das Gespräch in zehn Minuten wieder vergessen. Gehört zu ihrem Krankheitsbild dazu. Weißt du doch, Rolf.«
»Hauptsache dein Gedächtnis funktioniert noch einwandfrei, Henning.«
»Tut es nicht. Ich habe mitunter große Lücken. Das bereitet mir langsam so ein bisschen Sorge.« Mich schüttelte es am gesamten Körper. Diese Stunden zwischen letztem Schluck Wodka und erster Pille waren ein körperliches Martyrium. Aber da musste man halt durch. War Bestandteil des Spiels.
»René, dreh die Lautstärke von deinem Radio runter! Sonst schmeiße ich das Drecksding aus dem Fenster.«
»Wird Zeit, dass sie dir Tabletten geben, Henning. Du bist ja nicht zum Aushalten.«

Sechs Pakete Tabak und Puddingpulver vom Betreuer

Raucherzimmer. Nachmittags.
Pfleger Kurt hatte mir trotz hohem Promillespiegels Medikamente verabreicht. Er wusste, dass ich die vertrug. War trotzdem nett von ihm. Jürgen hätte mich bibbern lassen. Aber den hätte ich auch ums Verrecken nicht danach gefragt. Ich fühlte mich etwas besser. Alle paar Minuten zuckte ich unkontrolliert mit der linken oder rechten Hand, oder meine Beine taten nicht das, was ich ihnen befahl. Ähnlich wie beim Tourettesyndrom. Aber das würde vorübergehen.

»Hast du mal Geld für mich, Henning?«
»René, wozu benötigst du das hier drinnen? Du hast einen warmen Schlafplatz und Vollverpflegung. Was brauchst du mehr?«
»Mein Betreuer bescheißt mich.«
»Wie meinst du das?«
»Er plündert mich aus und lässt mich verhungern.«
»Der war gestern noch hier und hat dir sechs Pakete Tabak und Puddingpulver vorbeigebracht. Hat mir Rolf vorhin erzählt.«
»Von meiner Kohle«
»Klar von deinen HartzIV-Piepen. Soll er das etwa selber bezahlen? Macht kein Sozialarbeiter.«
»Ich habe ein Millionenvermögen in der Schweiz und in Luxemburg. Aktien, festverzinsliche Wertpapiere, Optionsscheine, Schiffsbeteiligungen, Anteile an Immobilienfonds.«
»Weiß ich alles, René. Nützt dir hier drinnen aber nichts. Du verfügst noch nicht einmal über fünf Euro.«
»Weil die mich sterben sehen wollen.«
»Nicht so ganz. Die wissen einfach, dass du mit dem Schein in der Hand sofort losläufst, um dir Schnaps zu besorgen. Du würdest dafür notfalls aus dem vierten Stock in den Garten runterhüpfen. Und aus diesem Grund bekommst du eben kein Bares in die Hand gedrückt. Nur Lebensmittelrationen. Rolf ist vernünftiger. Den lassen sie an sein Konto ran.«
»Gib mir hundert Euro.« René saß auf dem Fußboden und spielte an seinem Transistorgerät herum.
»Spinnst du?«
»Ich könnte dich dafür in meinem Erbe mit einer Million bedenken.«
»Das ist nett von dir René, aber es wäre trotzdem ein schlechtes Geschäft für mich.«
»Wieso? Hundert geht zehntausend Mal in eine Million rein. Das wäre eine unglaubliche Verzinsung.«

Ich setz dich als meinen Erben ein

René hatte WDR3 gefunden. Den Sender mit den deutschen Schlagern. Ich hasste diesen Kanal.

»Weil ich die hundert Mäuse jetzt sofort los wäre, und auf die Million vielleicht zwanzig Jahre warten müsste. Wer garantiert mir denn, dass du vor mir den Löffel abgibst?«
»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wie Machen wir es denn jetzt, Henning? Ich habe wirklich nicht einen müden Cent in der Tasche. Das ist doch entwürdigend für einen Mann in meinem Alter; oder?«
»Ich schlage dir einen anderen Deal vor: du bekommst zehn von mir. Die kannst du behalten. Aber dafür lässt du mich mit dem Gefasel über dein Vermögen in den nächsten Tagen zufrieden. Und pumpst mich auch nicht mehr an. Können wir uns darauf einigen?«
»Ich muss dir die Piepen nicht zurückgeben?«
»Nein. Ich bin in guter Stimmung, weil die Pillen endlich wirken. Nutze diesen Augenblick, René. Er wird so schnell nicht wiederkommen.«

17.55. Essensausgabe.
»Du zitterst ja wie Espenlaub, Henning. Soll ich dir beim Essen helfen?«
»Da stecke ich mir eher den Finger in den Hals.«
»Warum bist du so eklig zu mir? Was habe ich dir denn getan?«
»Du hast mich bei unserem letzten Treffen von der Polizei abführen lassen. Durfte eine Nacht in der Zelle verbringen. Du hast danach noch nicht mal angerufen, um zu sagen, dass es dir leid tut.«
»Vierundzwanzig Stunden bei den Bullen, und du machst da so einen Aufstand drum. Hätte dich für sportlicher gehalten. Soll ich dir nun die Brote kleinschneiden oder nicht?«
»Selbst wenn ich ‚nein’ sage, wirst du es tun. Weil du eben komplett schmerzfrei bist. Das bewundere ich sogar an dir, Manu. Von mir aus. Dann füttere mich halt. Bevor ich heute Abend verhungere.«

Renés Geschichte stimmte, was man nicht von allen Geschichten sagen kann, die im Raucherzimmer erzählt werden

21.20. Nach der abendlichen Blutdruckkontrolle.
Aufenthaltsraum.
»Henning, du kennst Renés Geschichte?«
»Schon hundert Mal gehört, Rolf.«
»Dass die stimmt, weißt du?«
»Hier werden so viele Märchen erzählt. Manchmal schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen.«
»Seine Story ist korrekt. Er ist einziger Nachkomme aus einer steinreichen Bankiersfamilie.«
»Und lebt auf der Straße und muss hier elend entgiften anstatt in einem Sanatorium in der Schweiz?«
»Die Eltern sind schon seit vielen Jahren tot. Er ist tatsächlich Erbe eines Millionenvermögens. Weil er jedoch seit Jugend an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung leidet, wurde schon zu Lebzeiten der Eltern ein Betreuer eingesetzt. «
»Deshalb sucht der im Radio immer nach den Geheimdienstkanälen?«
»Eine Macke aus seiner Militärzeit. Wobei sie ihn da – glaube ich gehört zu haben – auch nach drei Monaten wieder ausgemustert haben. Er wollte wohl die Offizierslaufbahn einschlagen.«
»Und sein Vormund verzockt die Kohle?«
»Nein. Kann der ja gar nicht. Er muss am Ende des Jahres dem Gericht einen Verwendungsnachweis erbringen.«
»Papier ist geduldig.«
»Da hast du auch wieder recht, Henning. Naja, René wird es eh nicht mehr lange machen.
Seine Leber und Nieren sind völlig im Arsch.«
»So langsam kratzen wir alle ab. Und ich Idiot habe vorhin sein Erbe ausgeschlagen.«
»Darüber macht man keine Witze! Zumindest kannst du wieder dreckig grinsen.«

Bild von: SocialButterflyMMG auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Schreibe einen Kommentar