Intensiv Nr. 12

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Auf der Intensivstation bereut der Trinker alle seine Sünden und hofft, dass entweder die Schmerzen vorbeigehen, oder Gott ihm einen schnellen Tod gewährt.

Über mir nervös blinkende Lampen. Zur Rechten eine Krankenschwester, die mit spitzen Fingern meinen Puls kontrolliert und das Ergebnis in eine Liste einträgt. Der Raum eingetaucht in Dunkelheit.
„Ist der Mann aufgewacht?“
„Ja.“
„Wie lange liegt er hier?“
„72 Stunden.“
Drei Tage bewusstlos auf der Intensivstation? Das passiert mir zum ersten Mal. Für eine Nacht: okay. Aber eine halbe Woche?
„Was verabreichen wir ihm?“
„Lorazepam.“
„Jetzt, wo er so langsam erwacht, wird sein Kreislauf bald verrücktspielen. Ab Blutdruck 180 erhöhen Sie die Dosis.“
„Mache ich, Herr Doktor.“
„Das wievielte Mal ist er bei uns?“
„In dieser Woche, oder meinen Sie den Monat? Kann seine Aufenthalte gar nicht mehr zählen. Ein Dutzend Mal bestimmt.“ Die Frau stößt ein meckerndes Lachen aus. Ich mag sie nicht.

„Welchen Tag haben wir heute?“

„Wasser“, stöhne ich.
„Kriegen Sie.“
Der Arzt soll mir jetzt bloß nicht die ätzende Frage, „wissen Sie, welcher Tag heute ist?“, stellen. Habe ich Null Bock drauf. „Wie ist er zu uns gekommen? Mit Rettungswagen?“
„Zu Fuß.“
„Mit dieser Promillezahl? Sind Sie sicher?“
„Bin ich. War zufällig in der Aufnahme, als er reintorkelte und vor dem Schreibtisch zusammenklappte.“
„99% der Menschen wären schon tot. Diese Alkis sind echt zäh. Bin immer wieder erstaunt.“

Ich erinnere mich: hatte auf dem Parkplatz des Landeskrankenhauses noch eine komplette Flasche Wodka auf ex geleert, um auch hundertpro nicht erst auf die Warteliste gesetzt zu werden und unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren zu müssen. Wenn ich spontan auf die Idee komme, entgiften zu wollen, dann halten mich keine zehn Pferde davon ab, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen.

Ich habe genug erfahren. Mehr brauche ich fürs Erste nicht zu wissen. Schert euch raus; ich will euch nicht um mich rum haben, denke ich. Mein Herzschlag hat sich innerhalb der letzten fünf Minuten verdreifacht. Mir bricht der Schweiß aus.

„Geben Sie mir was gegen die Schmerzen!“
„Nicht notwendig.“
„Warum?“
„Sie bekommen alles bereits intravenös.“
„Das reicht nicht.“
„Liegt schon oberhalb der üblichen Maximaldosis.“
„Rufen Sie den AvD. Der soll die Menge erhöhen.“
„Ich bin der AvD und werde es nicht tun. … versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen … ist ja nicht Ihr erster Entzug. Sie werden es überstehen.“
„Scheiße.“

Nachts auf der Intensiv bereut man alle seine Sünden

Ich bin alleine. Mitten in der Nacht, zappenduster, völlige Ruhe um mich herum. Ich höre mich selbst ächzen und keuchen. „Was für ein Drecksladen“, fluche ich. Wo bleibt die unsympathische Alte mit dem Wasser? Ich verdurste. … Sie hält mir die Flasche an die ausgetrockneten Lippen. Ich schalte den Schluckmechanismus aus, lasse den halben Liter in einem Rutsch in mich reinlaufen. „Mehr!“
„Bringe ich Ihnen bei meinem nächsten Rundgang mit.“
„Beeilen Sie sich!“

Das Licht im Raum flimmert plötzlich wie nach Sendeschluss im Fernsehen. Um mich herum stieben Millionen Staubpartikel wie Meteoriten durch das Zimmer, die ich klar voneinander unterscheiden kann. Die Manschette am Oberarm pumpt sich auf, bleibt zwei Minuten prall gefüllt, schwillt wieder ab. Ein schrilles Alarmsignal ertönt. Vermutlich 200 zu 160, überlege ich. Alles halb so wild. Schon oft genug erlebt. Von Panik – so wie früher auf der Intensiv – ist heute bei mir nichts zu merken. Ich habe mich an die Aufenthalte gewöhnt.
„Wir haben Sie zwei Mal am selben Tag bei uns untergebracht“, sagt die Pflegerin, als sie mir die nächste Pulle einflößt.
„???“
„Sie sind mittags aus dem Bett gesprungen und haben sich selbst entlassen. Abends waren Sie dann erneut hier.“
„Kann ich mich nicht dran erinnern.“
„Glaube ich Ihnen. … war eine ziemliche Sauerei, als Sie sich von den Schläuchen losgerissen haben … weshalb tun Sie sowas?“
„Wahrscheinlich hatte ich Durst.“
„Das war’s? Kein weiterer Grund?“
„Mir fällt spontan keiner ein.“

10.000 Spinnen an der Decke

Die Luft im tropisch-schwülen Raum gerät in Bewegung. Es ist, als ob das Sauer-/ Stickstoffgemisch auf einmal in rhythmischen Wellenbewegungen tanzt. Ich erkenne die farbliche Zusammensetzung des Lichts; trenne deutlich Blau, Rot, Schwarz und Weiß voneinander. So heftig war es noch nie, geht es mir durch den Kopf. Ich schließe die Augen. Will nichts mehr sehen. „Lasst mich sterben“, schreie ich ins Kissen. Die Geräte um mich herum brummen unbeirrt weiter. Wenn’s endgültig vorbei ist, wird nur ein langgezogenes Fiepen auf mich aufmerksam machen. Ich starre nach oben. Faustdicke Spinnen mit pelzigem Körper krabbeln an der Decke entlang. Seilen sich an milchigen Fäden nach unten ab, werden gleich auf meiner Decke landen. „Verpisst euch!“, zische ich. „Euch gibt es überhaupt nicht.“ Die Viecher lassen sich davon nicht beeindrucken, kommen immer näher. Ich bäume mich auf, will flüchten. Kann mich jedoch nicht bewegen, weil sie mich vorsichtshalber fixiert haben. Was für eine üble Halluzination!

„Schwester, wo bleiben Sie? Der Patient verliert das Bewusstsein“, höre ich aus weiter Ferne den AvD. Dann versinke ich in einem dunklen Grau.

Bild von Beverly Buckley auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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