Ende Oktober wird es langsam kalt draußen im Park und ich überlege, die Sauferei an den Nagel zu hängen.
Was wissen Sie schon von Einsamkeit? Vielleicht kennen Sie das Gefühl vorübergehenden Alleinseins. Wenn Ihr Partner ausnahmsweise mal zwei Stunden später als üblich aus dem Büro zurückkehrt, und Sie deshalb nervös werden. Sie sich zwischen Job, Einkauf und Einladung zum Abendessen ein paar Minuten an der Bushaltestelle langweilen, weil Ihnen niemand eine SMS schickt. Aber Einsamkeit? Mutterseelenalleine sein. Keiner spricht Sie an. Die Menschen machen einen weiten Bogen um Sie. Niemand vermisst dich. Einigen wäre es sogar lieb, du würdest nie mehr auftauchen. Am besten für alle wäre es, du legtest dich unbemerkt zum Sterben hin und ließest dich anonym verscharren. DAS ist Einsamkeit! Und wissen Sie was: es hat mich nicht gejuckt. Ich habe den Zustand gesucht und eine Zeit lang sogar genossen.
Als die Mütter mit ihren Kindern die Straßenseite wechselten, sobald sie mich erblickten, korpulente Omas sich zuriefen: „Wie sieht der denn aus?“, und laut kläffende Köter an mein Bein pinkeln wollten, kamen mir erste Zweifel, ob das Leben im Park dauerhaft was für mich war.
Rolf redet wie immer zu viel
Eine Woche später …. Entzugsklinik … Station 63A, genannt: „Die Geschlossene“
„Kommst du langsam wieder zu dir, Henning?“
„Jap.“
„Sahst ganz schön ramponiert aus, als sie dich vor zwei Tagen eingeliefert haben.“
„Ich bin selber hierher marschiert.“
„Ach so; ich dachte, weil …“
„Du denkst zu viel, Rolf.“
„Bist anscheinend noch nicht so gut drauf, Henning. Kein Wunder bei deiner Promillezahl vorgestern.“
„Rolf, was willst du von mir?“
„Nichts.“
„Hervorragend.“
Tags darauf im Essenssaal
„Du isst wie ein Scheunendrescher, Henning.“
„Ja.“
„Wohl lange keine feste Nahrung zu dir genommen.“
„Stimmt.“
„Mitteilsam bist du nicht gerade.“
„Habe mir das Quatschen im Park abgewöhnt, Rolf.“
„Gar keine Unterhaltungen mehr?“
„Doch.“
„Mit wem?“
„Mit einem fiktiven Gesprächspartner, den ich mir in meiner Fantasie zusammengebastelt habe.“
„Du musst dringend zur Psychologin.“
„Schon einen Termin vereinbart. Die sieht echt gut aus auf dieser Station.“
„Soll ich dich begleiten?“
„Kümmere dich um dich selbst.“
Dann bin ich halt ein Misanthrop. Na und?
Wiederum eine Woche später … Aufenthaltsraum
„Schaust gut erholt aus, Henning.“
„Danke.“
„Was wirst du tun, wenn du morgen rauskommst?“
„Keine Ahnung … irgendwas.“
„Du weißt heute Abend nicht, was du morgen tun wirst?“
„Genau.“
„Ich verstehe deine Nonchalance einfach nicht.“
„Brauchst du doch auch gar nicht.“
„Du kennst den Begriff Misanthrop?“
„Mal gehört.“
„Ja oder nein.“
„Okay, also: nein.“
„Das ist ein Menschenfeind.“
„Was hat das mit mir zu tun?“
„DU bist ein typischer Misanthrop!!“
„Ich bin ein Menschenfeind: warum?“
„Weil du mit niemandem klarkommst. Immerzu alleine sein möchtest.“
„Na und. Deshalb hasse ich doch die Menschen nicht.“
„Tust du doch. Du willst es dir nur nicht eingestehen … ich als dein Freund bemühe mich seit Tagen, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen. Und du gibst mir einsilbige, manchmal sogar leicht aggressive Antworten. Das ist nicht normal.“
„Ich habe keine Freunde mehr, Rolf.“
„Ich dachte, ich bin …“
„Da liegt der Hund begraben, Rolf: Du denkst zu viel.“
„Auch wenn ich deiner Ansicht nach kein Freund für dich bin – was mich verletzt –, so sage ich dir von Patient zu Patient: du bist ein Misanthrop.“
„Von mir aus. Dann bin ich eben einer.“
„Das macht dir nichts aus?“
„Um ehrlich zu sein: wenig.“
„Dir ist nicht zu helfen, Henning.“
In den 70-ern waren wir alle jung, und der FC spielte um die Meisterschaft
„Na, ihr beiden Klugscheißer, was macht die Kunst?“ Karl-Heinz gesellte sich zu uns. 60 Jahre, stockschwul, Minimum 200 Entzüge auf dem Buckel.
„Ich gehe jetzt lieber, bevor es zu sehr ins Triviale abrutscht.“ Rolf verschwand in seinem Zimmer.
„Wie der dich immer volllabert, Henning.“
„Da sagst du was.“
„Der FC hat drei Mal hintereinander verloren.“
„So oft? Scheiße! … in diesem Laden bekommt man von der Außenwelt nichts mit.“
„Ist halt nicht mehr der Club, der er in den 70-er und 80-ern war.“
„Das waren glorreiche Zeiten.“ Ich seufzte.
„Da waren wir beide noch jung und knackig.“
„Du bestimmt mehr als ich, Kalle.“
„Danke fürs Kompliment … wobei ich deinen Arsch ganz geil finde. Darf ich den anfassen?“
„Komm mir nicht zu nah!“
„War ein Scherz, Henning. Weiß, dass du bekennender Hetero bist.“
„Dann ist’s ja okay.“
„Und ausprobieren willst du es auch nicht?“
„Nein! … frag Rolf.“
„Da lebe ich lieber im Zölibat.“
„Hast du gute Songs auf deinem MP3-Player?“
„Willst du hören?“
„Paranoid von Black Sabbath … super!“
“Hast einen ähnlichen Geschmack wie ich, Henning.”
„Aber nur bei Musik.“
Am späten Abend bei der Blutdruckmessung
„Mit dem unterhältst du dich stundenlang. Mich blockst du hingegen ab.“
„Bildest du dir ein, Rolf.“
„Hältst du mich für blöde?“
„Nein … bloß für eine Spur zu empfindlich.“
„Weißt du mittlerweile, was du mit dem morgigen Tag anfangen wirst?“
„Um ehrlich zu sein: noch nicht zu hundert Prozent.“
„Wie kann ein intelligenter Mann nicht wissen, was morgen sein wird? Ich kapiere dich nicht.“
„Ich verstehe mich selbst nicht.“
„Diese simple Feststellung reicht dir als Erklärung für dein Verhalten aus?“
„Im Moment: ja.“
Vielleicht ist Adaption ne Idee
Als ich gegen Mitternacht im Bett lag und dem asynchronen Schnarchen meiner beiden Zimmernachbarn lauschte, überlegte ich, ob ich mal wieder bei meinen Eltern anklopfen sollte. Hatte sie länger nicht gesehen. Ich verwarf den Gedanken. Mutter würde sich zwar freuen, mich nach vielen Monaten Abwesenheit in die Arme zu schließen; sich jedoch – sobald ich ihr Haus verließ – neue Sorgen machen. Mein Vater war geübt darin, meinen Lebenswandel zu tadeln. Auf ein eventuelles Treffen mit meiner Schwester, die mich am liebsten jahrelang in eine geschlossene Einrichtung einsperren lassen würde, verspürte ich Null Bock. Also war Plan A „Familie besuchen“ schnell ad acta gelegt. Lila stellte immer eine Option dar. Sie würde mich allerdings im Pilzrausch heftig beschimpfen, worauf ich aktuell keine Lust hatte. Blieb als Alternative C der Park. Der Spätherbst stand vor der Tür, und die Nächte wurden ungemütlich kalt. Ich merkte, dass mein unstetes Herumtreiben mich langsam selbst nervte. Vielleicht sollte ich morgen das Angebot des Sozialarbeiters annehmen und mich für das Adaptionsprogramm bewerben. Er hatte diese Möglichkeit beiläufig erwähnt und es meinem freien Entschluss überlassen, ob ich daran teilnehmen wollte. „Falls ja, dann pushe ich Sie … falls nein: dann ist es auch okay … jeder von uns muss seinen eigenen Weg gehen“, hatte er gestern gesagt. Ich vertraute ihm, weil er kein übler Moralapostel war, sondern mich wie einen Gleichgestellten behandelte. Ich würde die Entscheidung spontan morgen nach dem Frühstück treffen. So wie es meine Art war.
Die Phase der selbst gewählten Einsamkeit, die mir eine Zeit lang sehr gut gefallen hatte, ging unweigerlich ihrem Ende entgegen. Das spürte ich, und mit diesem Gedanken schlief ich ein.
Bild von Gerhard G. auf Pixabay