Im Supermarkt

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Gestern habe ich sie gesehen, nach vielen Jahren wieder, in einem Supermarkt im Kölner Süden:  die Frau, wegen der ich mich umbringen wollte …

| Im Supermarkt
Gestern habe ich sie gesehen
nach vielen Jahren wieder
in einem Supermarkt im Kölner Süden
die Frau, wegen der ich mich umbringen wollte
nicht mit Revolver oder Zyankali
sondern einfach totsaufen
sie trägt einen verwaschenen Rock und eine grell gefärbte Lederjacke
hat etliche Kilos zugenommen
unter den Augen dunkle Ringe und Tränensäcke
ein Gesicht, das die Ungerechtigkeit der Welt signalisiert

sie hat mich im Gang mit dem Klopapier entdeckt
also keine Chance wortlos hinter den Plastikwindeln abzutauchen
bin auf sie zu und sage: „hallo“
mehr nicht, denn mir fällt nichts Sinnvolles ein
„schön dich zu zu treffen“, flötet sie
als hätten wir uns am Abend zuvor noch freundlich verabschiedet
„wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
„mal hier, mal da. War viel unterwegs“
„Lust auf eine Tasse Kaffee?“
„heute nicht. Bin gleich verabredet“
„mit einer Frau?“
„meiner Psychologin“
„am Samstagnachmittag? Vögelst du sie?“ ein kurzes Lachen
das an das Kichern einer nervösen Hyäne erinnert

da ist er plötzlich wieder
der missbilligende Blick aus kalten Augen
den sie mir am Tag der Trennung zugeworfen hatte
die Lippen auf die Breite eines Schnürsenkels zusammengekniffen
bis ihr Mund zwischen Nase und Kinn verschwindet
„wenn du Zeit hast, melde dich“
„werde ich tun“, antworte ich, ohne nach ihrer Nummer zu fragen
dann schieben wir unsere Einkaufswagen in verschiedene Richtungen
war es tatsächlich sie
für die ich mein Leben wegwerfen wollte?
alles an ihr wirkte stumpf und abgekaut
der Arsch verdoppelt, die Klamotten billig, zu viel Make-up
wo sind ihr entwaffnendes Lächeln und die Glut
geblieben?

draußen auf dem Parkplatz klare Luft
und ein Krümel Sonne
Winterwetter, obwohl im Kalender „Frühling“ steht
im Wagen ist es angenehm warm
während ich auf die Schnellstraße einbiege überlege ich
‚weshalb ich Mönch werden wollte
nachdem sie mich verlassen hatte
über den Bürgersteig schlendert eine gut gebaute Blondine
unglaubliche Beine in hautenger Jeans
hochhackige Stiefel
sie strahlt selbstbewusst
dafür lohnt es sich zu leben

Bild von Ulrich Dregler auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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