Klappe, die 35-ste

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Auch beim 35sten Versuch gelingt es mir nicht, neue Liebe für Valeria zu empfinden, weshalb ich zurück in die Zwischenwelt der verlorenen Seelen muss.

»Aaahhhh ….. Ja!!« Ein gutturaler Schrei hallte von oben durch das Treppenhaus.
»Oh Gott, oh Gott, oh Gott …, hör jetzt bloß nicht auf!« Die Frau, die gleichzeitig laut seufzte, schien ihren Liebhaber für ein überirdisches Wesen zu halten. Zumindest in diesem Moment, in dem er sie zur Ekstase trieb. Guter und lauter Sex bei uns im ersten Stock, überlegte ich. Erinnert mich an früher. Ob unsere Tochter extra die Tür offengelassen hatte, damit wir als Eltern ihr bei dem munteren Treiben zuhören konnten?

Ich legte die Zeitung beiseite und betrachtete Valeria. Vor dreißig Jahren die schönste Frau aus unserem Abiturjahrgang. Schulterlange dunkelbraune Haare, mandelförmige grüne Katzenaugen, levantinische Nase, ein stolzes Kinn wie eine Etruskerin und der Schmollmund sinnlicher als die Lippen der Bardot. Einmeterachtundsechzig balancierten auf atemberaubenden Beinen. Der Po in der Form eines saftigen Pfirsichs, zuckermelonenförmige Brüste, die von selber standen. Und dieser bildschöne Mensch war zudem blitzgescheit. Sie lachte die dummen Jungs aus, die ihr Erotikgedichte mit holprigem Versmaß zusteckten oder obszöne Bilder an die Tafel schmierten.

Zusammen zum Abschlussball – ich kann mein Glück kaum fassen

Dem immergeilen Oberstudienrat Silberstedt, der sie grinsend eine pornografische Sequenz aus Bukowskis Liebesleben der Hyäne analysieren ließ, erklärte sie aufreizend ruhig, dass er sich sofort hinter seinem Pult einen runterholen könnte. Sie würde ihm gerne dabei behilflich sein. Nicht sie flog von der Schule, sondern der sabbernde Drecksack durfte seine Siebensachen packen. Sie tanzte mit uns die Nächte durch, trank Bier und Wodka wie ein Kerl und erschien am nächsten Morgen in der ersten Stunde wie aus dem Ei gepellt. Elf coolen Typen gab sie einen Korb, als die fragten, ob sie Valeria zum Abschlussball begleiten dürften. Ich war als Zwölfter an der Reihe, weil ich eine Wette gegen Andy, das Pickelgesicht, verloren hatte. Als ich mich stotternd, schwitzend und mit schmerzhaft pochenden Schläfen auf die schlimmste Abfuhr meines Lebens gefasst machte und angsterfüllt die Augen schloss, hauchte sie ein bloßes: »Ja.« Wie in Trance antwortete ich: »Das ist nicht weiter schlimm. Ich komme schon zurecht damit«, bis mir klar wurde, dass Valeria eingewilligt hatte. Ich stand reglos vor ihr; unfähig mich zu rühren. »Los, du Idiot, antworte irgendwas!« Andy stieß mir seinen spitzen Ellenbogen in die Rippen. »Ist gut. Dann bis nächste Woche«, flüsterte ich und drehte mich schnell um, damit Valeria nicht bemerkte, dass mir vor Aufgewühltheit Tränen die Wangen herabliefen.

»Was ich anziehen werde, willst du gar nicht wissen?«, lachte sie. »Du bist ein komischer Typ, Henning Hirsch. Wahrscheinlich mag ich dich deshalb lieber als die anderen«, kicherte sie.

Von diesem Tag an waren Valeria und ich unzertrennlich. »Ich habe dich nur deshalb ausgewählt, weil du von allen Idioten in unserer Stufe der am wenigsten bescheuerte warst«, hatte sie mir in den folgenden Jahren häufig erklärt. Aber wenn sie es sagte, funkelten ihre Augen, und es klang süß in meinen Ohren. Wir verließen unsere Heimatstadt und schrieben uns sechshundert Kilometer entfernt an derselben Universität zum Studium ein. Sie belegte Jura und Psychologie, ich entschied mich für Politik.

»Das ist wieder typisch für dich«, schimpfte sie. »Ein Fach mit wenig Klausuren, reine Laberei. Mit seriöser Wissenschaft hat das nichts zu tun.«
»Kann eben nicht jeder so superschlau sein wie du«, giftete ich zurück.
»Du bist intellektuell gesehen Mittelmaß. Mir geistig komplett unterlegen.« Sie fixierte mich eine Minute lang wie ein Insekt, das man unter einem Mikroskop festgeklemmt hatte; kurz bevor ihm die Beine ausgerissen wurden. »Und trotzdem liebe ich nur dich. Ich kann mir das auch nicht erklären.«

Nach 25 Jahren: Lack ab und Mordgedanken

Was ich über den Rand der Zeitung hinweg auf der anderen Seite des Esstischs erblickte, ließ Brechreiz in mir aufsteigen. Ein unförmiger Fleischbrocken eingepackt in einen verschlissenen Bademantel. Die Haare zu einem Sibirienmecki geschoren, die Lippen spröde, mit der Linken fingerte sie nach billigen Zigaretten vom Discounter. Und diesen Mund habe ich früher gerne geküsst? Eine Tochter hast du bekommen, Valeria, dachte ich. Und deren Geburt zum Vorwand genommen, dich gehen zu lassen. Hast gefressen, dir die langen Locken abschneiden lassen, bist von Größe 36 schließlich bei 44 gelandet. Zankst dich mit jedem; kannst nicht friedlich bleiben. Immerzu fühlst du dich ungerecht behandelt; schwelgst in der Vergangenheit. Warum habe ich dich nicht längst umgebracht?

Ich stand auf, durchquerte mit schnellen Schritten das Zimmer, stellte mich hinter Valeria und wollte ihr meine Zähne in den Hals schlagen, um die Hauptschlagader zu durchtrennen. Der Gedanke, weiterhin mit dieser abstoßenden Frau Tisch, Bett und Auto teilen zu müssen, beleidigte meine Sinne.

»Eh, ihr zwei da oben. Geht’s auch eine Spur leiser?«, kreischte sie plötzlich, was mich in meiner Bewegung innehalten ließ. »Sitten sind das in diesem Haus. So was hat’s bei Papa und mir nie gegeben.«

Du übel gelaunte Pharisäerin, schoss es mir durch den Kopf. Von wem hat die Tochter den Spaß am Sex wohl geerbt? Wir haben es früher viel toller getrieben. Kein Ort war uns heilig. Gevögelt haben wir auf Wiesen und im Park, wo uns tagsüber jeder zuschauen und dich, Valeria, laut stöhnen hören konnte. Das war noch der unschuldigste Zeitvertreib gewesen. Und da regst du dich heute über das bisschen Lärm oben im Kinderzimmer auf? Was bist du doch für eine gottverdammte Heuchlerin geworden. Aus jungen Huren werden alte Betschwestern. Wie habe ich es bloß all die Jahre mit dir ausgehalten?

Ich ging in die Küche, um dort nach einem langen und scharfen Messer zu suchen. Valerias Nacken war mit daumendicken Fleischplatten gepanzert. Mit den Zähnen würde ich nicht durchkommen. Vielleicht sollte ich Hubert darum bitten, mir ein kleines Beil auszuleihen. Unser Nachbar arbeitete im kommunalen Schlachthof. Der bewahrte viele praktische Mordwerkzeuge bei sich im Handwerksschrank auf. Dann hätte ich aber einen unnötigen Mitwisser an der Backe gehabt. Weshalb habe ich niemals eine Garotte angeschafft?, dachte ich bitter.

Zurück in die graue Zwischenwelt der verlorenen Seelen

»Hey Mama, reg dich nicht so künstlich auf. Papa hat mir oft erzählt, dass ihr zwei in eurer Jugend keine Kinder von Traurigkeit gewesen seid.« Die hübsche junge Frau, die barfuß leise die Treppe heruntergekommen war, lächelte Valeria an.
»Der hat viel dummes Zeug geschwätzt, wenn der Tag lang war. Wir hätten auf jeden Fall das Haus unserer Eltern in Ehren gehalten. Die Sitten heutzutage verlottern immer mehr.« Rasender Zorn durchflutete meine Adern und schwappte als riesige blutrote Welle über mir zusammen. Ich lief auf Valeria zu, packte sie an den Schultern, rüttelte heftig an ihr und öffnete den Mund, um sie anzuschreien. Gleichzeitig beugte sich das nette Mädchen zu meiner Frau, streichelte ihr mit der rechten Hand über die Wange und erkundigte sich zärtlich: »Er fehlt dir, oder?«

»Ich hoffe, dass er im tiefsten Abgrund der Hölle schmort«, grunzte sie und erinnerte mich an eine fette Robbe, die um den Todesstoß einer Harpune bettelte.

Valeria erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl und ächzte dabei. Körperliche Bewegungen schienen ihr zunehmend Mühe zu bereiten. Warum bist du bloß so hässlich und engstirnig geworden?, überlegte ich. Und hast unsere Ehe in einen endlosen Albtraum verwandelt.

Sie griff mit drei Fingern in ihr Gesicht, nestelte das rechte Auge heraus und knallte es auf die Holzplatte.
»Das hier ist ein nettes, kleines Andenken an den arbeitsscheuen Taugenichts. Bevor er sich die alte Armeepistole vom Opa an die Schläfe setzte und hysterisch lachend abdrückte, hat er noch mit der Frühstücksgabel nach mir geworfen.«
Die junge Frau schluchzte leise. Das ist Alina. Jetzt erst erkannte ich unsere kleine Tochter. Groß bist du geworden.

Die Zeit war abgelaufen. Ich musste zurück in die graue Zwischenwelt der verlorenen Seelen. In den fünften Vorhof des immerwährenden Infernos, wo Selbstmörder und manisch Depressive auf engstem Raum hausen. Meine Resozialisierungs-Aufgabe besteht darin, im Abstand von hundert Jahren immer wieder die Küchenszene vom Mai 2013 zu durchleben. So lange, bis ich erneut Liebe für Valeria empfinden werde. Es will mir einfach nicht gelingen. Ich scheitere jedes Mal. Heute habe ich bereits den fünfunddreißigsten Versuch unternommen.

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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