Telefonat um Mitternacht

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„Du kannst mit der Wahrheit nicht umgehen.“ – „Warum kann ich mit der Wahrheit nicht umgehen?“ – „Konntest du nie.“ … Weshalb altgewordene Trinker im Zweifelsfall auch bei Frauen lieber abstinent bleiben.

„Du kannst mit der Wahrheit nicht umgehen.“
„Warum kann ich mit der Wahrheit nicht umgehen?“
„Konntest du nie.“
„Das ist deine Sicht der Dinge.“
„Siehst du … du kannst es nicht.“
„Was willst du mir eigentlich einreden?“
„Dass du endlich erwachsen wirst …benimmst dich immer noch wie ein Kind.“
„Behauptest du.“
„Nein! … das sagen alle.“
„Wer: alle?“
„Ist doch völlig egal … halt alle, die dich näher kennen.“
„Kathrin, wir haben uns zwanzig Jahre nicht gesehen. Du weißt doch überhaupt nichts von mir.“
„Du bist einfach zu analysieren. Hatte dich schon in der Schule komplett durchschaut.“
„Okay.“
„Mehr fällt dir dazu nicht ein?“
„Im Moment nicht.“
„Du warst stets etwas schwerfällig im Denken. Nichts Neues für mich.“

„Kathrin, was möchtest du kurz vor Mitternacht von mir? Ich bin müde und will ins Bett.“
„Typisch. Vor der Wahrheit kneifst du.“
„Von mir aus.“
„Lass uns am Wochenende treffen.“
„Ich überleg’s mir.“
„Immer dieses Zögern.“

„Schick mir ein aktuelles Foto von dir“

„Schick mir ein aktuelles Foto von dir.“
„Weshalb?“
„Damit ich mir einen ersten Eindruck machen kann.“
„Du bist und bleibst ein oberflächlicher Typ.“
„War ich schon immer.“
„Wenigstens das siehst du ein. Wenn du ansonsten auch komplett beratungsresistent bist.“
„Ich ruf dich am Freitag an.“
„Tust du eh nicht.“
„Doch … versprochen.“
„Was deine Versprechungen wert sind, weiß ich seit der Tanzstunde: Nullkommanichts.“
„Ich melde mich bei dir … ciao.“

Natürlich werde ich sie nicht anrufen. Wozu? Bloß weil wir mit 15 geknutscht haben, bedeutet das ja nicht, dass ich dreißig Jahre nach unserem gemeinsamen Abitur verpflichtet bin, ihr über die zweite Scheidung hinwegzuhelfen. Kathrin gehört der Sorte Mensch an, die ihre persönliche Meinung als Wahrheit deklariert. Sobald sie einen im Tee hat, wird’s mit dem Wahrheitswahn noch schlimmer. Soll sie sich mit Freundinnen treffen und die volltexten oder bei einem Psychologen auf die Couch legen. Drei Stunden Entenfüttern an einem verregneten Novembernachmittag sind vergnüglicher als eine Sommernacht mit ihr. Vermutlich bin ich schon zu lange Single und gar nicht mehr beziehungswillig. Auf jeden Fall nichts Kompliziertes!

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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