Wer steigt als Nächster ins Grab?

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Der Tag, an dem mich sogar der knackige Arsch von Pflegerin Veronika nicht mehr aufheitern konnte, und ich plötzlich den Horror beim Gedanken ans Sterbehospiz bekam.

Einige Wochen lang hatte ich mich draußen in Freiheit gehalten. Dann der nächste Rückfall. Dieses Mal mit Umweg über eine der Intensivstationen in unserer Stadt. Viele Schläuche, blinkende Lampen, ein ständiges Gepiepse der Apparaturen, das im Viertelstundentakt gleichmäßige An- und Abschwellen des Blutdruckmessgeräts. Herzrasen, Schweißausbrüche, hämmernde Kopfschmerzen, Harnkatheter, literweise Infusionen. Zehntagesbart, der mir von einer freundlichen Krankenschwester abrasiert wurde. Mediziner, die mich besorgt betrachteten und Vermerke in die Akte hineinschrieben. Die übliche Prozedur. Ich kannte und hasste sie. Komplette zweiundsiebzig Stunden. Vor meiner Überweisung in die Suchtklinik noch der warnende Hinweis des Oberarztes: »Wenn Sie nicht damit aufhören, werden Sie das Jahresende nicht mehr erleben.« Ich quittierte es mit einem Kopfnicken. Was hätte ich auch großartig erwidern sollen?

Von der alten Garde sind beinahe alle tot

In der geschlossenen Abteilung zahlreiche neue Gesichter. Ich kannte kaum noch jemanden. Die alte Garde war entweder dement oder tot. Rolf war wieder hier. Jetzt im Rollstuhl. Immer mehr Russen. Wo die bloß alle herkamen? Einige sehr aggressiv. Pöbeleien an die Adresse des Personals, Schlägereien im Essensraum. Die Pfleger fixierten den ein oder anderen, verabreichten starke Beruhigungsmedikamente. Hin und wieder flogen Tabletts durch den Raum. Zumeist von Junkies geschmissen, die sehnsüchtig auf ihre Ration Methadon warteten. Das mussten schlimme Entzugsschmerzen sein. Dagegen war eine Alkoholentgiftung wahrscheinlich Pillepalle. Und die war schon heftig genug. Ich hatte das alles schon so oft gesehen. Mein Gefühl schwankte dieses Mal zwischen Abgestumpftheit und Langeweile. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich mit einem der Typen aus Kasachstan geprügelt. Schwester Veronika hielt mich im letzten Moment davon ab. Ich hatte die Schnauze echt gestrichen voll von der Abteilung.

An unserem Tisch saß Bodo. Polytox, schluckte und spritzte alles, was er in die Finger bekam. Hauptsächlich Schore. AIDS im Endstadium. Wohl wegen verdreckter Nadeln. War kein schöner Anblick. Bei den Mahlzeiten blickte ich stumm auf meinen Teller. Vermied es, ihn dabei anzuschauen. Ansonsten hätte mir mein Essen nicht mehr geschmeckt. Er sollte in einigen Tagen in ein Sterbehospiz überführt werden. Neben ihm ein anderer Fixer mit aufgeblähtem Bauch dick wie ein Medizinball. Leberzirrhose in der finalen Phase. Obwohl ich das alles häufig erlebt hatte, drückte die Klinikatmosphäre bei diesem Aufenthalt doch merklich auf meine Stimmung. Das konnte es auf Dauer nicht sein.

Aufenthaltsraum. 15.20.
»Henning, du schaust so schlecht gelaunt in der Gegend herum. Ist dir was aufs Gemüt geschlagen?«
»Ja, irgendwie fühle ich mich dieses Mal nicht wohl hier, Rolf.«
»Ist natürlich kein Fünfsternehotel hier mit Frühstücksbuffet für den verwöhnten Herrn.«
»Das ist es nicht. Mich nervt alles. Die Station, das Eingeschlossensein, die immer blöder werdenden Patienten, dieses Rein und Raus. Die Spirale abwärts, die sich immer schneller dreht.«
»Kann ich verstehen. Geht auch mir manchmal so. In diesen Momenten musst du an was Positives denken.«
»An was denn zum Beispiel, du Schlauberger?«
»Wie wär’s mit Schwester Veronika? Ihr mögt euch doch ganz gerne. Heitert dich denn deren Anblick nicht ein bisschen auf?«
»Rolf, ich schaue ihr hier auf ihren knackigen Hintern. Veronika bemerkt es, und ihr gefällt es. Aber meinst du, draußen dürfte ich ihr auch nur die Hand schütteln? Die würde die Straßenseite wechseln, wenn sie mich sieht. Als ob die im realen Leben was mit einem Alkoholiker zu tun haben möchte. In der Station ist es okay für sie. Das ist schließlich ihr Job.«
»Und das verursacht dir Bauchschmerzen?«
»Ich habe den Zustand akzeptiert. Gefallen tut er mir trotzdem nicht.«
»Ist nicht einfach für uns Alkis in Freiheit. Manchmal glaube ich, der einzige Ort, an dem wir halbwegs akzeptiert werden, ist diese Station. Mach mal Platz, da kommt Bodo.«

„Rück mir bloß nicht zu nah auf die Pelle!“

»Na, ihr Supergescheiten, darf ich mich zu euch setzen?«
»Rück mir aber nicht zu nah auf die Pelle.«
»Hast du ein Problem mit mir, Henning?«
»Nein, aber mit deiner Krankheit.«»Musst dir keine großen Sorgen mehr machen. In ein paar Wochen werde ich tot sein.«
»Mag sein. Ich möchte mich aber trotzdem nicht im letzten Augenblick noch bei dir anstecken. Also halte einen Meter Abstand. Dann ist es okay.«
»Etwas mehr Sensibilität und Verständnis würden dir gut zu Gesicht stehen.«
»Wir reden aber bei dir nicht über ein bisschen HIV positiv. Das ist AIDS kurz vorm ins Gras beißen. Ich werde bestimmt nicht mit dir aus derselben Flasche trinken wie der bekloppte Russe gestern. Fand ich auch Scheiße von dir, dass du ihm die angeboten hast.«
»Er hatte mich nach einem Schluck Cola gefragt.«
»Und du hast dir dabei still und heimlich gedacht: dann nehme ich noch einen mit in die Hölle.«
»Er kannte das Risiko.«
»Er hatte noch über drei Promille. Der hat überhaupt nichts gepeilt. Dasselbe hast du vorgestern mit der jungen Kokserin veranstaltet. Hast ihr Essen von deinem Teller gegeben. Wenn ich ihr nicht die Gabel aus der Hand genommen hätte, wäre die wahrscheinlich schon infiziert.«
»Ich wollte nur freundlich mit ihr sein. Ich sehe aber,ein Gespräch mit dir hat heute keinen Sinn, Henning. Dann verziehe ich mich mal wieder in mein Zimmer.«

Egal, was man sich einwirft: es endet häufig mit dem Tod

»Auf den bist du aber nicht gerade gut zu sprechen; oder?«
»Eine Vogelspinne nachts unter der Bettdecke ist mir lieber als der.«
»Gar kein Mitleid mit ihm und seinem Schicksal?«
»Schon. Ich mag es aber nicht, wie er damit umgeht, Rolf.«
»Er lässt es schon sehr raushängen. Diese Nummer: ‚ich bin das ärmste Schwein auf Gottes Erdboden’. Da hast du Recht. Das nervt«
»Ist schon hart, wenn du weißt, dass in ein paar Tagen alles vorbei ist. Da haben wir als Alkis es eventuell besser getroffen. Wir fallen im Suff vom Balkon runter. Bums aus. Wir müssen uns aber vorher nicht damit beschäftigen, dass es in naher Zukunft geschehen wird. Das ist schon ein Unterschied.«
»Und letztlich hat Bodo sich das Leid ja selber zugefügt. Hat ihn ja keiner zu gezwungen, zu spritzen.«
»Das ist aber doch bei uns dasselbe, Rolf. Auch wir trinken freiwillig. Zumindest wirft unser Umfeld genau das uns vor. Hätten wir Krebs, Diabetes, Ebola oder Fleckfieber. Bei jeder dieser Krankheiten hast du das Mitgefühl deiner Verwandten. Bei Sucht hingegen? Da spucken sie dir ins Gesicht und sagen: ‚Du bist zu schwach. Hast nicht genug Willen. ’ Oder gar: ‚Du willst sowieso nichts an deinem Leben ändern. ’«

»Und falls das stimmen sollte; was dann?«
»Wer von uns Hardcoresäufern hat wirklich Bock darauf, alle vier Wochen in einer Intensivstation aufzuwachen? Oder wie du im Rollstuhl zu sitzen? Der Spaßfaktor mit der Droge ist uns doch bereits vor langer Zeit abhandengekommen. Wir spielen Russisch Roulette. Irgendwann wird die Kugel uns treffen. Ist nur eine Frage der Zeit.«
»Hast du eine Lösung parat, Henning?«
»Wer von uns hat die schon? Entweder bringe ich es mit Anstand hinter mich. Setze mich mit einem Kasten Bier und sechs Flaschen Wodka abends an den Fluss und saufe mich dort zu Tode. Aber alleine. Oder ich muss komplett aufhören. Kontrolliertes Trinken funktioniert nicht. Habe ich oft genug ausprobiert.«
»Kein einziges Glas Bier mehr? Und das lebenslang? Klingt unrealistisch; das weißt du?«
»Die Abstinenz ist ein 24-Stunden-Geschäft. Man kann froh sein über jeden Tag, an dem man es packt. Ich werd’s versuchen.«

Rolf sah mich an wie einen armen Irren. Mir war’s egal. Ich hatte die Entgiftungen einfach satt.

Bild von: kalhh auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ingrid Dorner

    Es ist unvorstellbar schrecklich und man möchte auch als Nicht Alkoholiker kein einziges Glas mehr anrühren – vor Angst, man könnte in die Abhängigkeit rutschen und dann so ausgeliefert sein. Beim Lesen bekomme ich feuchte Augen, obwohl es Henning brillant versteht, einen Schuss schwarzen Humor hinter seinen Zeilen zu verbergen und man geneigt ist, unter Tränen zu schmunzeln …

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