Kleines Gespräch unter Freunden an Grab 147

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Rolf und ich streiten uns auf dem Friedhof über Whitney Houston und er erklärt mir, wie man im Supermarkt eine Flasche Wasser in ne Pulle Wodka umtauscht.

»Henning, hast du meinen Wodka mitgebracht?«
»Habe ich, Rolf. Sogar deine Lieblingsmarke: Smirnoff.«
»Hast du im Lotto gewonnen? Der Billige vom Aldi hätte vollkommen ausgereicht.«
»Wollte dir was Gutes tun.«
»Willst du dich bei mir einschleimen?«

Der hochgebildete Rechtsanwalt

Rolf war ein alter Bekannter aus der Suchtklinik. Einserjurist. Früherer Rechtsanwalt. Fachgebiet Steuern und Bilanzen. Hatte im Laufe vieler Jahre zuerst seine Kanzlei versoffen, dann seine Frau und Tochter aus dem Haus getrieben. Die beiden Frauen hatten radikal jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Komplette Besuchssperre. Darunter litt Rolf. Er versuchte, sein Leid durch Sarkasmus und beißenden Spott zu überspielen. In den Entgiftungsstationen trat er häufig als übler Klugscheißer auf. Ließ die anderen Patienten seinen hohen IQ spüren. Sonderlich beliebt machte er sich mit dieser Tour nicht. Rolf behauptete, dass er auf Freunde aus dem Trinkermilieu gut und gerne verzichten könne. Ich hielt das für eine gewagte These. So oft wie Rolf im Krankenhaus war, hätte ich mir an seiner Stelle mehr Mühe gegeben, mit den anderen Alkis klar zu kommen. Aber es war seine Sache. Ging mich nichts weiter an.

Wir hatten uns eines Abends bei einer Partie Trivial Pursuit miteinander bekannt gemacht. Rolf hatte die schwierige Originalversion aus den Achtzigern in einem Regal der Station entdeckt und suchte Mitspieler. Die Begeisterung der anderen Patienten für diese Sorte von Zerstreuung war nicht gerade groß, und so fragte Rolf schließlich mich. Mir war am zweiten Tag meiner Entgiftung eher nicht danach. Ich fühlte mich aufgrund der vielen Pillen müde und schlapp. Andererseits zockte ich hin und wieder ganz gerne , und ich willigte schließlich ein. Wir waren zu viert an diesem Abend. Rolf gewann mit traumwandlerischer Präzision alle drei Durchgänge. Nicht etwa sechs zu fünf oder vier. Nein; er pulverisierte uns geradezu: mehr als zwei Steine schaffte keiner von uns. Es war geradezu frustrierend. Er wusste tatsächlich so Sachen wie: Auf welchem Weg gelangte das Croissant nach Frankreich? Als ich nachhakte: »Hast du die Antworten auswendig gelernt?«, empfand er die Frage geradezu als Majestätsbeleidigung. »Natürlich nicht. So was habe ICH nicht nötig.«

Im Zuge dutzender gemeinsamer Klinikaufenthalte freundeten wir uns ein bisschen an. Wenn wir draußen – in Freiheit – waren, verabredeten wir uns bei schönem Wetter ab und an auf dem alten Friedhof im Norden der Stadt. Vor dem namenlosen Grab 147 stand eine morsche Bank. Auf die setzten wir uns, genossen die schwachen Strahlen der Wintersonne, unterhielten uns über Gott und die Welt, schwiegen und tranken. Rolf einzig Wodka. Ich zumeist Bier. Von Schnaps wurde ich zu schnell betrunken. Den vertrug ich nicht so gut. War eher eine Droge für die Endphase meiner Saufexzesse. Wenn das Bier nicht mehr wirkte und mir die viele Flüssigkeit aus den Ohren rausquoll.

Was Mozart und Whitney Houston miteinander zu tun haben

»Henning, hast du heute Radio gehört?«
»Nein. Warum?«
»Hast du kein Radio, oder bist du schlichtweg desinteressiert?«
»Rolf, als ich geboren wurde, gab es bereits TV. Was soll ich mit dem ollen Radio?«
»Du bist und bleibst ein Kulturbanause. Hörst halt lieber VIVA als einen schönen Klassiksender. Hast du denn mitbekommen, dass Whitney Houston tot ist?«
»Hat sich auch bis zu mir rumgesprochen.«
»Und, was hältst du davon?«
»Was soll ich dazu sagen? War eine tolle Frau. Viel zu früh gestorben. Tut mir echt leid um sie.«
»Dachte ich es mir doch.«
»Was willst du gewusst haben, Rolf?«
»Dass jemand wie du sofort den Medien auf den Leim gehst.«
»Wie meinst du das? Verstehe ich nicht.«
»Na der ganze Hype, der jetzt um diese versoffene, alte Ex-Diva gemacht wird. Der wird doch künstlich angeheizt.«
»Du trinkst selbst wie ein Loch, Rolf. Worauf willst du hinaus?«

»Weil sich um mich keiner scheren würde, wenn ich abkratze. Bei dieser abgetakelten Fregatte hingegen heult die ganze Welt auf. So als sei die Jungfrau Maria an einer Überdosis Amphetaminen zu Grunde gegangen. Mich kotzt der ganze Rummel richtig an. Jeden Tag sterben Millionen Menschen auf der Welt. Und niemanden interessiert es.«

»Du hast ein Problem damit, wahre Größe anzuerkennen«

»Du hast eben ein Problem damit, Größe anzuerkennen, Rolf.«
»Natürlich habe ich Respekt vor Genie und wahrem Können.«
»Zum Beispiel?«
»Napoleon, Mozart und Einstein fallen mir da auf Anhieb ein.«
»Na super. Ältere Figuren kennst du nicht? Bin froh, dass du mir Moses und Luther erspart hast.«
»Was stört dich an meiner Auswahl, Henning?«
»Sie ist so superoriginell. Geradezu Konfektion von der Stange. Passt gar nicht zu deinem ansonsten so geistreichen Esprit, Rolf.«
»Was gefällt dir an Mozart nicht? Der war ja auch ein Musiker. Aber halt im Gegensatz zu all den Popsternchen eben einer für die Ewigkeit.«
»Den zu Lebzeiten niemand so richtig für voll genommen hat. Gelandet ist er in einem Armengrab.«
»Korrekt. Aber ohne mediale Begleitmusik.«
»Weil es damals noch keine Boulevardblätter, keine Bravo und kein MTV gegeben hat. Die hätten vor zweihundert Jahren schon dafür gesorgt, dass Mozart zum Superstar des Rokoko avanciert wäre. Er hatte mit dem amusischen Kaiser und dem neidischen Salieri einfach Pech. Falscher Ort und falsches Zeitalter. So was kann passieren.«

»Und was hat das nun mit der medikamentensüchtigen Whitney Houston zu tun, Henning?«
»Sie war eine der ganz Großen des Showgeschäfts. Konnte drei Oktaven rauf und runter singen. Hatte tolle Hits und war wirklich attraktiv.«
»Jaja, darum geht es dir, Henning. Um ihr Aussehen. Du bist nur auf die Optik fixiert.«
»Selbst wenn das stimmen würde. Was hast du gegen Musikerinnen, die verführerisch sind?
Sex sells.«
»Von der wird in zwei Jahren schon niemand mehr sprechen. Das ist der riesige Qualitätsunterschied zu einem Mozart oder Beethoven.«
»Und wenn schon. Wen juckt das heute? Vielleicht werden ihre Lieder aber auch in hundert Jahren noch aufgelegt. Wer kann das schon mit Gewissheit vorhersehen? Ich finde es zudem tragisch, dass sie ihr Talent und ihre Gesundheit diesem Vollidioten von Ehemann geopfert hat.«
»Henning, du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft suggerieren wollen, dass Bobby Brown die Schuld an ihrem Tod trifft. Da ist sie schon selbst verantwortlich. Es wird niemand dazu gezwungen, Drogen zu konsumieren.«

Warum saufende Rechtsanwälte saufende Sängerinnen nicht mögen

»Das sagst ausgerechnet du, Rolf. Der du es nach fünfzig Entgiftungen immer noch nicht geschafft hast, vom Schnaps wegzukommen. Natürlich ist jeder erwachsene Mensch für seine Sucht selber zuständig. Aber es gibt doch oft Auslöser für dieses krankhafte Verhalten.«
»Und das entschuldigt nun ihren Alkoholmissbrauch, Henning? Der böse Ehemann war es also? Und ich als gewöhnlicher Radiokonsument muss mir nun tagelang die Lobreden auf diese abgewrackte Lady anhören? Nein danke. Dann schalte ich lieber auf Klassik um.«
»Rolf, du bist ein verbitterter alter Säufer, der die Größe einer Diva nicht sehen möchte. Whitney Houston war in den Achtzigern das Popidol meiner kleinen Schwester. Die wird gestern ebenfalls auf den Beileidsknopf in Facebook gedrückt haben. «
»Und du, Henning: wirst du etwa auch kondolieren? Ich meine: digital?«
»Nach dieser Diskussion heute mit dir? Ja, ich werde es später tun. Denn ich bedauere tatsächlich den frühen Tod dieser Sängerin.«
»Henning, dir ist nicht zu helfen.«

Wir schwiegen nun eine Weile lang. Rolf leerte den Smirnoff in tiefen Zügen. Ich nuckelte gedankenverloren an meinem Warsteiner. Er war verärgert über mich. Der alte Klugscheißer mochte es gar nicht, wenn man seiner messerscharfen Argumentation nicht folgte. Im Nachgang solcher, aus seinem Blickwinkel schieflaufender, Diskussionen war er geradezu beleidigt. Seinen messerscharfen Argumentationen nicht Recht zu geben, verärgerte ihn. Mir war es wurscht. Ich vertrat halt zu Whitney Houston eine andere Meinung als er. Aus meiner Sicht hatte Rolf einfach den Verlust seiner kleinen Familie bis heute nicht verdaut. Deshalb ätzte er gerne rum. Ließ an nichts und niemandem ein gutes Haar, was mich heute sauer auf ihn werden ließ. Wir saßen nun minutenlang stumm auf der Parkbank. Die Sonne stand mittlerweile weit im Westen, und es wurde kalt und ungemütlich.

Wodka-Trick 17

»Henning, spendierst du mir einen weiteren Wodka?«
»Warum sollte ich das tun? Sauf halt nicht so gierig.«
»Muss ja kein teurer sein. Eine Pulle vom Discounter reicht mir.«
»Kauf dir selber eine.«
»So geizig kenne ich dich gar nicht. Ist doch sonst nicht deine Art. Nun gut, dann besorge ich mir den Schnaps mit Trick 17.«

Rolf stand auf und spazierte zum alten Bauschuppen des Friedhofs. Dort fand er einen noch funktionierenden Wasserhahn und füllte die Wodkaflasche wieder auf. Dann kehrte er zu unserer Bank zurück.
»Was hast du da gemacht, Rolf?«
»Wasser eingefüllt.«
»Das habe ich gesehen. Aber wozu? Was ist der Zweck der Übung? Du wirst ja nun nicht etwa auf den Placeboeffekt hoffen?«
»Natürlich nicht. Für wie blöde hältst du mich? Ich marschiere nun mit der Pulle zum nächsten Supermarkt.«
»Und was passiert dort?«
»Ich gehe rein. Und zeige der Kassiererin die Flasche.«
»Aha. Und dann?«
»Du bist wirklich langsam im Denken, Henning. Bier macht halt träge. Ich tausche die Pulle mit dem Wasser heimlich in einen Smirnoff um. Gehe zurück und rede erneut mit der Frau an der Kasse. Sage ihr, dass ich leider nicht das gefunden hätte, was ich gesucht habe und nun mitsamt der vorhin mitgebrachten Flasche das Geschäft wieder verlasse.«

»Und das funktioniert?«
»Nicht immer. Kommt darauf an, wie clever das Personal ist. Hin und wieder gibt es Stress mit den Ladendetektiven. Manchmal rufen die auch die Polizei. Die Erfolgsquote liegt bei fünfzig Prozent. Ich habe großen Durst. Du lässt mich hängen. Einen Versuch ist es zumindest wert. Wenn ich in zwanzig Minuten nicht zurück bin, dann weißt du, dass mich die Bullen einkassiert haben.«
»Okay, ich habe verstanden. Ich gehe schon und kaufe dir einen neuen Wodka. Will nachher keine Gewissensbisse verspüren, wenn sie dich einbuchten sollten. «
»Als ob du so was wie Schuldgefühl überhaupt kennst, Henning.«
»Ärgere mich nicht, Rolf. Sonst kannst du es gerne mit deinem Wassertrick versuchen.«
»Jetzt sei nicht so empfindlich. Welche Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen? Ich verrate dir nachher aus purer Dankbarkeit heraus auch das Geheimnis, wie man aus Schuhcreme Alkohol heraus destilliert.«
»Brauchst dich nicht zu bemühen, Rolf. Kenne die Story schon von Oleg. Der hat mir den Vorgang vor einem Monat im Raucherzimmer erklärt. Ist aber eher nicht mein Ding.«

Ich bummelte zum Supermarkt an der Ecke und erstand dort eine Flasche Gorbatschow. Auf dem Rückweg überlegte ich, mit welchem Recht Rolf in den Genuss von Gratisschnaps kommen sollte. Nachdem er mich mit seiner Missachtung der göttlichen Popdiva so geärgert hatte. Spontan änderte ich meinen Kurs und steuerte in Richtung meiner Wohnung, die sich nur einige Blocks entfernt befand. Vielleicht würde ich den Wodka in einigen Tagen selber benötigen. Im Moment stand mein Sinn noch nicht nach Schnaps. Egal, es war immer vernünftig, Vorräte im Haus zu haben. Quasi für den Notfall. Ob Rolf lange auf mich warten würde? Keine Ahnung. War mir auch vollkommen schnuppe.

Bild von Enrique Meseguer auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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