Die Borderlinerin

You are currently viewing Die Borderlinerin

Wie ein im falschen Moment geäußertes Nicolas-Cage-Zitat zwei Stunden später zu einem blutigen Gemetzel führte.

Am dritten Tag hatte ich mich vollkommen akklimatisiert. Die Medikamente entfalteten ihre Wirkung. Das Zittern und Würgegefühl hatten aufgehört. Mein Kreislauf spielte nicht mehr so verrückt wie in den ersten achtundvierzig Stunden. Ich konnte das Tablett festhalten und mein Essen ohne fremde Hilfe selbständig vom Teller in den Mund befördern. Nachts schwitzte ich zwar noch den Pyjama und die Laken voll; jedoch der schlimmste Entzug war fürs erste überstanden. Die vielen Tabletten machten mich müde, aber das war auszuhalten. Gestern war ich am Esstisch über der Sportzeitung eingeschlafen. René weckte mich auf und bot mir einen Teller von seinen aus Schokoladenpulver, Schlagsahne , Haferflocken und Himbeersirup zusammengerührten Puddings an. Ich hatte abgelehnt. So ganz in Ordnung war mein Magen noch nicht, als dass ich mich unbedacht auf solche Experimente hätte einlassen können.

Mit dem Zimmer hatte ich dieses Mal Pech gehabt. Drei Betten. In einem lag ein übelgelaunter Russe, der hier einen neunmonatigen Beschluss abhocken musste. Im anderen hatten sie Ulrich untergebracht. Einen kompletten Egomanen. Der erzählte nonstop von sich und seinem Leid. Jammerte in einer Tour. Wir hatten uns bereits bei früheren Klinikaufenthalten kennengelernt. Er hörte mit seinem Wehklagen erst dann auf, wenn man ihm frontal ins Gesicht sagte: »Halt’s Maul!« Dann war er zwar tödlich beleidigt; aber dieser knappe Hinweis zeitigte bei ihm nachhaltige Wirkung. Er strafte einen dann mit Missachtung. Ich war eine von seinen Lieblingshasspersonen. Sobald er mich sah, übergab er sich beinahe. Mir war es recht. So musste ich mir sein Gequatsche nicht mehr anhören. Rolf hingegen hatte einen Narren an Ulrich gefressen. Naja, ich verstand Rolf sowieso nicht immer in dem, was er tat und dachte.

Die barfüßige Neue aus der Nachbarstadt

»Hallo, ich bin neu hier. Kannst du mir mal zeigen, wo ich was finden kann?« Neben mir stand ein bildhübsches Mädchen. Ich schätzte sie auf die Hälfte meines Alters. Afrikanische Wurzeln. Schlanke Figur. Ansehnliches Dekolleté. Barfuß. Zerzauste Haare. Leicht verwirrt.
»Mache ich gerne. Ich bin Henning. Wie heißt du?«
»Lila.«
»Du bist zum ersten Mal hier?«
»In dieser Klinik: ja. War aber schon oft in anderen Krankenhäusern.«
»Okay, dann führe ich dich mal rum und stelle dich den anderen vor.«
»Das ist nett von dir. Ich bin noch nicht ganz bei mir. Mich haben sie vor zwei Stunden hierhergebracht.«
»Das war ein großes Aufgebot. Hab’s am Rande mitbekommen.«
»Ich wollte nicht hier rein. Habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.«
»Und dann kommt eben die Polizei. Kenne ich. Braucht dir nicht peinlich zu sein. Hier wird jeder Zweite so eingeliefert.«
»Lieb von dir, dass du mich aufheitern möchtest. Kann ich echt gebrauchen. Ich bin ziemlich runter mit den Nerven.«

12.05. Mittagessen.
»Ist der Platz an eurem Tisch noch frei, Henning?«
»Klar, setz dich gerne zu uns, Lila. Das neben mir ist Rolf, unser Supergehirn. Und der andere ist René mit einem direkten Draht zu CIA und MI5.«
»Woher kommst du?« Rolf schaute kurz von seinem Hühnerfrikassee auf und musterte Lila mit einem neugierigen Blick.
»Aus dem Nachbarort.«
»Da gibt es keine Entzugskliniken?«
»Doch. Ich war aber gestern Abend hier in eurer Stadt, als es passierte.«
»Was geschah da?« Rolf hatte Witterung aufgenommen.
»Lass die Kleine in Ruhe, der geht’s noch dreckig. Die will jetzt nicht so viel labern.«
»Ist schon okay, Henning. Ich habe mit einigen Freunden Party gefeiert. Zu viele Pilze geschluckt. Wollte wohl vom fünften Stock runterspringen, weil ich meinte, mir wären Flügel gewachsen. Da haben sie den Rettungsdienst gerufen.«
»Ich habe noch nie Drogen genommen.«
»Dafür trinkst du zwei Pullen Wodka am Tag. Lass gut sein, Rolf. Du nervst.«
»Mal wieder der empfindliche Henning. Man wird doch noch fragen dürfen.«

Ein gedankenlos hingeworfenes Zitat

14.25. Gemeinschaftsraum.
»Was liest du da, Henning?«
»Ne alte Kicker. Aber ich gucke mir nur die Bilder an. Auf Text kann ich mich noch nicht konzentrieren.«
Lila setzte sich auf den Stuhl neben mir. »Du bist oft hier, Henning?«
»Kann man so sagen. Quasi ein Stammgast.«
»Jaja, wenn man einmal damit anfängt, dann ist das wie ein Rad in einem Hamsterkäfig. Es hört nie auf.«
»Lila, du bist noch jung. Du solltest die Hoffnung nicht so schnell aufgeben.«
»Wenn’s nur die Drogen wären. Ich schneide mich aber auch.«
»Habe ich mir gedacht. «
»Wieso?«
»Wegen der Narben an deinem Arm. «
»Meine ganzen Beine sind voll damit.«
»Kann man vielleicht mal weglasern. Zumindest im Gesicht warst du noch nicht zugange. «
»Das stimmt. Da bin ich bisher immer noch vor zurückgeschreckt.«

»Na, ihr zwei Turteltauben. Darf ich mich zu eurer illustren Runde dazugesellen? «
»Sprichst du immer so gewählt, Rolf?«
»In dieser Station eigentlich nicht. Ich passe mein Vokabular der jeweiligen Umgebung an.«
»Er will damit ausdrücken, dass wir anderen Alkis zu dumm sind, um ihn zu verstehen.«
»Du hast es auf den Punkt gebracht, Henning.«
»Jetzt streitet euch doch nicht, ihr beiden.«
»Wir zanken uns gar nicht. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ein perfektes Gesicht hast, Lila?«
»Nein, Rolf.«
»Ein italienischer Maler hat sich so geäußert: Schönheit ist die Summe der Teile bei deren Anordnung die Notwendigkeit entfällt , etwas hinzuzufügen, zu entfernen oder zu ändern.«
»Das hast du schön bemerkt, Rolf. Siehst du das auch so, Henning?«
»Ich? Ja, ist schon okay.«
»Ich geh dann mal auf mein Zimmer. Bin müde. Bis später, ihr Zwei.«

»Na, wie fandst du das Zitat, Henning?«
»Scheiße.«
»Weil du es nicht kanntest?«
»Rolf, das spricht Nicolas Cage zu Jessica Biel im Film ‚Next’. Und: es war ein deutscher Maler, kein Italiener.«
»Bei Hollywood bist du mehr Experte als ich. Die Quelle ist doch vollkommen egal. Hauptsache, es hat Lila gefallen. Ich glaube, sie hat sich über das Kompliment sehr gefreut.«
»Weiß nicht.«
»Du bist eifersüchtig, weil nicht Du auf die Idee gekommen bist. Los, gib’s zu.«

„Aber dann wurde der Zwang zu groß“

16.15. Auf dem Flur.
»Herr Hirsch, kommen Sie schnell mit.«
»Was ist denn los, Schwester Veronika?«
»Die junge Frau, die heute früh angekommen ist, hat sich was angetan.«
»Ich bin kein Arzt.«
»Weiß ich. Aber die fragt nach Ihnen.«

16.20. Lilas Zimmer.
Was ich zu sehen bekam, war kein schöner Anblick. Eine blutverschmierte Lila. Ein zerborstener Spiegel im Badezimmer. Sie hielt mir ihre Hand entgegen. Ich nahm sie in die meine.
»Henning, ich habe mich bestraft.«
»Ich sehe es.«
»Nachdem mir dein Freund das mit der Schönheit gesagt hatte, da verspürte ich mit einem Mal einen enormen Druck in mir.«
»Ja, leider.«
»Ich habe versucht, es zu unterdrücken. Aber dann wurde der Zwang zu groß.«

»Das ist bei Menschen wie dir so.«
»Ich musste mich einfach schneiden.«
»In dein schönes Gesicht. Ich könnte beinahe heulen, wenn ich dich anschaue.«

»Wir werden Sie in einer Stunde in eine andere Abteilung verlegen.«
»Ich will aber hier bleiben.«
»Lila, sie werden es tun. Das hier ist eine Entgiftungsstation. Fälle wie deiner sind hier nicht richtig aufgehoben.«
»Wirst du mich da besuchen?«
»Natürlich.« Als ob sie mich hier rauslassen werden.

17.05. Raucherraum.
»Wie geht es Lila?«
»Sie wird’s schon überleben. Aber ihr Gesicht ist halt im Eimer.«
»Immer dasselbe mit den Junkies.«
»Rolf, du hast es einfach nicht verstanden. Und jetzt lass mich für den Rest des Tages in Ruhe. Ich fühle mich irgendwie mies. «

Bild von Gerd Altmann auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Schreibe einen Kommentar