Auf der Suche nach dem Urknall (1)

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An Tag 2 der Entgiftung hat mich die Klinikpsychologin mal wieder in ihr Zimmer zitiert. Ich fühle mich mordsmäßig schlapp und sie, statt mich in Ruhe zu lassen, nervt mit einem nicht enden wollenden Fragebogen. 

»Sie waren also beinahe tot? Wie lange in etwa?« Die untersetzte Frau, die mir seit knapp fünfundvierzig Minuten gegenübersaß und jede Antwort aus meinem Mund mit einer neuen Frage quittierte, legte den Bleistift, mit dem sie ununterbrochen Notizen in einen Spiralblock hineingekritzelt hatte, vor sich auf die Tischplatte und taxierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Der orange Griffel wies überall Bissspuren auf und war von ihr nahezu durchgekaut worden.

Wer ist verrückter: Ich oder die Schneider?

Wahrscheinlich bist du bekloppter als ich, ging es mir durch den Kopf, bevor ich ihr antwortete: »Keine Ahnung. Die Pfleger haben mir das erzählt, als ich in der geschlossenen Station aufwachte. Vermute mal zwei, drei Stunden. Länger nicht. Alles halb so wild.«
»Halb so wild? Sie sind lustig. Wäre es Ihnen stattdessen lieber gewesen, für immer tot zu sein?« Ich kratzte mich verlegen am Ohr und zog es vor, zu schweigen.
»Sie mussten reanimiert werden. Da hätte dieses Mal nicht viel gefehlt, und Sie wären Ihrem Herrgott gegenübergetreten. Das ist Ihnen schon klar, oder?«

Warum hat sie ausgerechnet mich zu sich hereinzitiert? Weshalb nicht Rolf, Rene oder Petra? Oder irgendeinen x-beliebigen Säufer aus der verdammten Hardcore-Fraktion? Jedes Mal dasselbe Spiel, sobald die dusselige Kuh mich erblickt: Herr Hirsch, schön, Sie zu sehen. Können Sie bitte nachher in mein Büro kommen! Keine Frage, sondern ein Imperativ. Wie mich das abfuckte. Soll sie sich einen anderen Idioten suchen, mit dem sie ihre Psychomasche abziehen kann. Über all das dachte ich nach und erwiderte so freundlich, wie es mir an diesem elenden, tropisch schwülen Nachmittag möglich war: »Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Schneider: in dem Moment, als ich die dritte Flasche Wodka vorgestern Abend öffnete, kurz bevor ich bewusstlos in der Küche umklappte, war es mir tatsächlich egal, ob ich abkratze oder nicht.«

»Sie hegten also suizidale Gedanken«, schlussfolgerte die Psychologin und schrieb fieberhaft eine weitere Seite voll, bevor sie ihren Blick wieder mir zuwandte.
»Nein; mir war es wurscht.«
»Ist das nicht dasselbe?« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, in ihrem ansonsten von professionellem Wissensdurst beherrschtem Gesicht eine Spur von Anteilnahme zu entdecken.
»Nein, ist es nicht. Weil ich eben nicht von Anfang an die Absicht hatte, mich umzubringen, sondern den Tod, der sich vielleicht hätte einstellen können, zum Schluss billigend in Kauf nahm. Aber eher in der Form eines russischen Roulettespiels. Von sechs Kammern ist nur eine mit einer Patrone geladen. Und vor jedem Schuss wird neu gedreht. Die Wahrscheinlichkeit, mit heiler Haut davonzukommen, steht also gar nicht so schlecht. Bisher ist es immer glimpflich ausgegangen.«
»Sie treffen den Nagel auf den Kopf: bisher. Und was, falls es beim nächsten Versuch nicht mehr klappt?
Wenn Sie sich dann die todbringende Kugel in den Kopf jagen?«
»Dann ist es eben so. Wir müssen alle irgendwann unserem Schöpfer gegenübertreten. Die einen nach einem langen, erfüllten Leben, die anderen halt früher.« Ich zuckte mit den Schultern und überlegte, ob ich mir nachher im Raucherzimmer von Rene eine Zigarette schnorren könnte.

Immer wieder dieselben Fragen

Frau Schneider und ich hatten uns in den vergangenen Monaten oft in ihrem kleinen Arbeitszimmer getroffen und über die Ursachen meines exzessiven Trinkverhaltens diskutiert. Wie alle Psychologen war sie auf der Suche nach dem Urknall: der Stunde Null, in der ich vom normalen Menschen zum Säufer mutiert war. In geradezu stupider Regelmäßigkeit verneinte ich all ihre Annahmen und Hypothesen von trübsinniger Kindheit, zu strengem Vater, unglücklichen Liebesbeziehungen in der Jugend, traumatischen Schulerlebnissen und was ihr alles sonst noch an Erklärungen in den Sinn kam und bejahte als einzige glasklare und nicht zu leugnende Auslöser meines Alkoholismus die Gene mütterlicherseits und jahrelange Gewöhnung an die Droge. »Mehr fällt Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ein? Speziell von Ihnen hätte ich eine tiefschürfendere Analyse erwartet«, versuchte sie vergeblich, an meine vor vielen Jahren verloren gegangene Marktforscherehre zu appellieren.

Ich beneidete Frau Schneider nicht um ihren Job. Im Gegensatz zu ihrer attraktiven Kollegin mit den pfirsichförmigen Arschbacken, der die Patienten in der offenen Station die Bude einrannten, wirkte sie zum einen mit ihrer pummeligen Figur und dem Bürstenhaarschnitt äußerlich wenig anziehend, und zum anderen betreute sie in der geschlossenen Abteilung eine hartgesottene Klientel, die sich weniger für psychologische Ursachenforschung denn für die fristgerechte Überweisung des Hartz IV- Regelsatzes interessierte. Pünktlich zum Ersten jeden Monats leerte sich die Station schlagartig, um sich dann in den folgenden Tagen bis zum spätestens Fünften allmählich wieder zu füllen. Diese zweiundsiebzig bis sechsundneunzig Stunden reichten den meisten Patienten, die dreihundertfünfundsechzig Euro, die ihnen alle vier Wochen zustanden, komplett auf den Kopf zu hauen. Frau Schneider redete auch zu akademisch daher und schaffte es einfach nicht, den zu ihrer Kundschaft passenden Tonfall anzustimmen.

Völlig benebelt mit Tendenz zum Sekundenschlaf

Ich gähnte herzhaft, denn am zweiten Tag der Entgiftung schwammen dreißig Valium träge wie winzige pharmazeutische U-Boote in meiner Blutbahn herum, was selbst für mich eine recht starke Dosierung bedeutete. Diese Ration war notwendig geworden, weil ich es bei der Essensausgabe weder schaffte, ein Tablett festzuhalten noch eine Tasse Kaffee zum Mund zu führen. Ich zitterte am gesamten Körper wie ein Eichhörnchen auf Koks, der Schweiß rann mir in Strömen von den Schläfen die Wangen hinab, die Blutdruckwerte bewegten sich im Bereich schwangerer Giraffen, sodass der zum Zeitpunkt meiner Einlieferung zufällig anwesende Oberarzt entschied, die an und für sich zulässige Maximalmenge von vierundzwanzig um sechs zu erhöhen. Die allmähliche Linderung der Schmerzen ging einher mit einer Form des Sekundenschlafs, der mich an den unmöglichsten Orten einpennen ließ. Vor drei Stunden erst hatte mich Pfleger Franz unsanft im Bad geweckt, wo ich mit blankem Hintern auf der Kloschüssel weggenickt war. Früher wäre mir das unsagbar peinlich gewesen. Heute jedoch ließen mich solche Vorkommnisse völlig kalt.
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Hier geht’s morgen zu Teil 2, in dem mir die Schneider nochmal eindringlich ins Gewissen redet, und ich treffe im Raucherzimmer viele alte Bekannte wieder.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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