Traum-Stakkato, dessen Finale aus einer Reanimation und der Überweisung ins Landeskrankenhaus besteht.
Ich renne über eine Wiese. Alleine. Die Farbe des Untergrunds ändert sich. Wird langsam dunkler, bis das Gras schwarzbraun ist. Ich laufe über einen Felsvorsprung und stürze von einer steilen Klippe in einen Abgrund. Bevor ich am Boden zerschelle, gelingt es mir, meine Arme weit auszubreiten und zu fliegen. Ich überquere Wälder, Flüsse und Gebirge. Schwebe an Wolken und an einem Regenbogen vorbei. Unter mir sehe ich nun das Meer. Endlos blaugrün. Kleine Wellen mit Schaumkronen. Die Arme werden mit einem Mal schwer und klappen zurück an die Flanken meines Körpers. Ich gerate ins Trudeln und stürze ab. Treibe für einen kurzen Augenblick an der Oberfläche des Ozeans, bevor ich in den Fluten versinke. Immer tiefer hinunter in das Wasser. Ich bekomme keine Luft mehr. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Verzweifelt schnappe ich nach Sauerstoff. Ich drohe zu ersticken. Mit aller Kraft wehre ich mich gegen den nahenden Tod.
Barfuß im Ballsaal
Ich erwache in einem fremden Bett in einem dunklen Raum. Mein Gewicht hat sich verzehnfacht und drückt mich mit aller Gewalt auf die Matratze. Trotzdem erhebe ich mich und schleiche auf bleischweren Beinen nach draußen. Ich stehe in einem langen, düsteren Korridor. An dessen Ende erblicke ich einen schwachen Lichtschein. Ich durchschreite eine Tür und befinde mich in einem hellerleuchteten Saal.
Überall quirlen und schwirren Menschen herum. Frauen und Männer in feiner Abendgarderobe, die sich angeregt miteinander unterhalten. Ich erkenne allerdings nur, dass sie ihre Lippen bewegen; hören kann ich sie nicht. Niemand nimmt Notiz von mir. Ich schaue an mir herunter und bemerke, dass ich barfuß laufe und einen alten Pyjama trage. Wie auf ein geheimes Signal hin starren nun alle Augen gebannt auf mich. Aus der Masse ohne Kontur schälen sich jetzt einige mir vertraute Gesichter heraus. Das sind Freunde von mir. Sie blicken mich vorwurfsvoll wie eine Geächtete an, bevor sie wieder kehrtmachen, um in der ausdruckslosen Menge zu verschwinden.
Blutige Messerattacke
Ich liege im Bett. Neben mir ertaste ich den Körper meines Mannes. Er schläft. Seine Glieder fühlen sich warm und vertraut an. Er ist nackt und hat sich auf die andere Seite gewendet. Ich entledige mich meines Nachthemds, presse mich von hinten an ihn heran.
Fahre ihm mit der Hand sanft durchs Haar, nehme den Geruch seiner Haut wahr. Liebkose die Schultern mit meinem brennenden Mund. Er dreht sich zu mir um. Küsst mich. Ich bemerke, wie mein Verlangen nach ihm zunimmt, sich immer mehr steigert.
Mit den Fingerspitzen streichele ich über seine Wangen. Die Umrisse sind verschwommen. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Es ist mein Vater. Nein! Ich will das nicht. Ich greife ein Messer und steche auf ihn ein. Überall Blut.
Gefährliches Spiel auf den Bahngleisen
Wir laufen als Studenten lachend an den Bahngleisen entlang, balancieren Hand in Hand auf den Schienen. Ich bin geschickter als er. Mir gelingt es, das Gleichgewicht zu halten. Er muss öfter herabsteigen auf den Schotter; ist aber ehrgeizig und probiert es immerfort aufs Neue. Von hinten nähert sich der Vorortzug. Ich springe hinunter auf die Böschung. Er legt sich mit dem Rücken auf die Schwellen. Das Gesicht der heranrasenden S-Bahn zugewandt. Es ist eine der idiotischen Mutproben, die ich an ihm schon in der Kindheit gehasst habe. Die Vibrationen der Lokomotive sind bereits ganz deutlich zu spüren.
»Steh endlich auf!«, schreie ich aus tonloser Kehle. Gleich wird er sich zur Seite rollen und wie ein kleiner Junge vor Freude grinsen, weil er mir einen solchen Schrecken eingejagt hat. Er bleibt liegen. Der Zug braust über ihn hinweg. Ich haste nach oben. Er kauert mit links und rechts herausbaumelnden Eingeweiden auf den Knien, richtet sich langsam auf. Sein Körper ist dichtbehaart wie der eines Pavians. Der Kopf ähnelt einer alten Echse.
Die Frau, die plötzlich durch die Wolken wächst
Ich spaziere durch eine fremde Stadt. Auf einer Straße ohne Anfang und ohne Ende. Zu beiden Seiten gläserne, bis in den Himmel ragende Bürotürme. Keine Menschenseele außer mir unterwegs. Die Sonne strahlt gleißend hell von einem strahlendblauen Firmament herab. Ich überquere eine breite Chaussee mit zwanzig Fahrspuren. Auf der anderen Seite herrscht tiefdunkle Nacht. Ich kann die Hand vor Augen nicht mehr erkennen. Mich an einer Wand entlang tastend taumele ich langsam weiter. Vor mir erspähe ich mühsam die Silhouette einer in Silber gekleideten Frau.
»Können Sie mich nach Hause bringen?«, bettele ich sie an .
Sie fixiert mich mit feuerroten Augen, wächst vom Boden bis hinauf zu den Wolken. Es ist sie!
»Was hast du mit meinem Mann gemacht?«, brülle ich zornig.
Sie öffnet höhnisch ihren riesigen Mund und heraus fallen hunderte gläserner Murmeln, die alle aussehen wie er mit fünfzehn, zwanzig, dreißig, heute. So als ob sie ihn mir nicht erst gestern, sondern schon vor langer Zeit gestohlen hat.
Weinend vor der Tür der Eltern
Entkräftet klopfe ich an die Tür meines Elternhauses. Meine Mutter öffnet.
»Lass mich herein«, weine ich.
»Es geht gerade nicht, wir haben Besuch«, antwortet sie. »Komm morgen wieder.« Ich will meinen Vater sehen. Er ist der einzige, der mich versteht. Sie schlägt mir das Hoftor vor der Nase zu. Drinnen lärmt eine fröhliche Partygesellschaft.
Beim Aufwachen steht der Notarzt am Bett
Hoch über mir entdecke ich ein helles Licht. Wie ein Stern, der mich magisch in seinen Bann zieht. In meinen Lungen spüre ich frische Luft. In den Adern pulsiert das Blut von neuem. Meine Arme und Beine zucken so, als würden sie von Stromstößen durchlaufen. Ich erbreche mich mehrmals.
»Können Sie mich erkennen? Schauen Sie mich mal an!«
…
»Schwester, leuchten Sie der Frau bitte in die Augen hinein, um zu überprüfen, ob die Pupillen reagieren!«
»Tun sie. Wir haben die Patientin zurückgeholt.«
»Gottseidank, dann ist das gut ausgegangen. Bereits der vierte Notfall in dieser nicht endenden Nacht. Ich bin todmüde. Fühle mich wie gerädert.«
»Das glaube ich Ihnen. Ich organisiere uns einen Kaffee. Der Fahrer hat eine Thermoskanne im Wagen dabei.«
»Wir sind ja nicht zum ersten Mal hier. Wer hat die Frau heute gefunden?«
»Die kleine Tochter.«
»Und hat dann von sich aus den Notarzt alarmiert?«
»Die hat zuerst den getrenntlebenden Vater angerufen, und der hat daraufhin die 112 gewählt.«
»Keine Sekunde zu spät. Das war ein Ritt auf des Messers Schneide.«
…
»Herr Doktor Fischer, könnten Sie bitte kurz ans Telefon kommen?«
»Wer ist es?«
»Die Mutter der Frau. Die meldet sich aus Barcelona. Ist da im Moment im Urlaub.«
Telefonat um Mitternacht
»Ja, das war haarscharf.
…
»Die Sanitäter haben eine leere Packung Valium neben dem Bett gefunden. Kombiniert mit einer erheblichen Menge Alkohol. Was nahezu einen völligen Atemstillstand verursachte.«
…
»Natürlich ist das schrecklich. Sehe ich auch so.«
…
»Wir nehmen Ihre Tochter jetzt mit, um sie im Krankenhaus komplett durchzuchecken. Länger als einen Tag können wir sie gegen ihren Willen aber nicht bei uns behalten. Sie möchte ja nach jedem Suizidversuch sofort wieder nach Hause. Da fehlt uns dann die rechtliche Handhabe. Es sei denn, Sie als Eltern bewirken eine zwangsweise Unterbringung in der Psychiatrie.«
…
»Das tut jetzt nichts zur Sache, ob aus Ihrer Familie noch nie jemand psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat. Irgendwann ist immer das erste Mal.«
…
»Das glaube ich Ihnen, dass Ihre Tochter früher eine lebenslustige Person war. Das nützt aber in dieser akuten Krisensituation herzlich wenig.«
…
»Dann bereden Sie das in aller Ruhe mit Ihrem Mann. Wenn der als Vater einen beruhigenden Einfluss auf sie hat, sollte er vielleicht morgen hier im Krankenhaus vorbeikommen.«
…
»Das regt den zu sehr auf? Das müssen Sie entscheiden, wie Sie weiter vorgehen möchten. Lange wird es nicht mehr gut gehen.«
Die Frage der Schuld
»Danke für den Kaffee, Schwester.«
»Was hat die Mutter Ihnen gesagt? Die wirkte sehr aufgebracht.«
»Das Übliche eben. Die Mutter geht davon aus, dass ihre Tochter erst während ihrer Ehe in eine emotionale Schieflage gekommen ist. Sie gibt dem ausgezogenen Mann die Schuld an der Veränderung ihrer Tochter. Er soll angeblich vollkommen gefühlskalt sein. Kennst das ja, irgendeiner muss ja an der Trennung Schuld sein. Ist ja klar, dass sie als Mutter ihre Tochter da in Schutz nimmt.«
»Der sitzt unten im Wohnzimmer und döst. Soll ich ihn wecken?«
»Gute Idee. Dann soll er die Einweisung ins Landeskrankenhaus beantragen.«
»Der Arme. Danach wird sie ihn noch mehr hassen.«
»Wahrscheinlich. Ist aber trotzdem die vernünftigste Lösung. Nochmal wird die Frau das Höllenexperiment nicht überstehen.«
Bild von Stefan Keller auf Pixabay