Am Stadtrand

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Ich kannte Manu aus der Therapiegruppe, die jeden Donnerstag im Westflügel der Klinik stattfand

| Am Stadtrand
Ich kannte Manu aus der Therapiegruppe
die jeden Donnerstag
im Westflügel der Klinik stattfand
eine zierliche Person
mit lebhaften Augen
die jeden Satz mit einem Lachen beendete
obwohl ich damals
nicht so super drauf war
denn ich verbrachte
meine 15te oder 20ste Entgiftung in dem Laden
ließ ich mich gerne
von ihrer guten Laune anstecken

sie sei seit sechs Monaten Abstinenzlerin
das Nicht-Trinken eröffne ihr
völlig neue Perspektiven
und ein positives Lebensgefühl
erzählte sie
Rolf und ich gähnten
denn diese Stories hatten wir schon tausend Mal
gehört

ich fragte Manu nach ihrer Telefonnummer
und als ich nach drei Wochen
endlich rauskam
rief ich sie an
bring Soave und Bier mit sagte sie
vorsichtshalber packte ich am Bahnhofskiosk
zusätzlich eine Flasche Wodka ein

Manu wohnte weit draußen
in einem Stadtteil
den ich bisher nicht kannte
Reihenhaus an Reihenhaus
10qm-Vorgarten neben 10qm-Vorgarten
Jägerzäune, Kiesbeete, Kirschlorbeer-Hecken akkurat gestutzt
ich wollte schon umkehren
als Manu vom Balkon rief
da bist du ja endlich, komm hoch

ich verdurste, empfing sie mich
steckte ihre Zunge in meinen Mund
zog mich in ihre Wohnung rein
schenk mir ein Glas ein, randvoll
Eis ist im Kühlschrank, sagte sie
und verschwand im Bad
ich trank eine Dose Bier
um in Stimmung zu geraten
Manu kam zurück: nackt
trug nur noch ihre oberschenkelhohen Stiefel
das gefiel mir

wir vögelten ein paar Stunden in einem Riesenbett
und ich vermutete
dass ich an diesem Tag nicht der erste war
der darin lag
zwischendurch tankten wir und erzählten uns belanglose Klinikgeschichten
Manu warf Pillen ein
willst du welche?
nein danke; der Wodka reicht

sie wurde nun zügellos
verlangte Sex ohne Atempause
ich keuchte und ächzte schwitzte aus allen Poren
mein Unterleib schmerzte
die Bandscheiben meldeten sich
was ist los, fragte ich
warum bekomme ich dich nicht befriedigt?

gib mir den Wein!
sie leerte die halbe Flasche in einem Schluck
und jetzt schlag mich
was soll ich tun?
mich schlagen
ist das so schwer zu verstehen?
egal wohin?
auf die Augen, in den Bauch, auf den Mund völlig wurscht
es muss wehtun
das kann ich nicht
wie: du kannst das nicht? Jeder Mann kann das

obwohl betrunken und müde begriff ich
dass ich nicht der richtige Kerl war
um Manu heute glücklich zu machen
ich stand auf
und suchte meine Klamotten zusammen
was tust du?
ich gehe
es ist Mitten in der Nacht
bin nicht ängstlich

scher dich zum Teufel du Schlappschwanz
wenn ich geahnt hätte, was für eine Nullnummer du bist
wärst du hier nie reingekommen
in der Küche standen noch zwei Dosen Bier
die nahm ich als Proviant mit
denn der Weg zurück war lang
und um diese Uhrzeit fuhren weder Busse noch Bahnen
vielleicht entdeckte ich ein Nachtlokal wo ich ein paar Kurze kippen konnte
aber so viel Glück hat man selten
(c) H.H.

Bild von Gabriele Prade

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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