Ein unbekanntes Virus

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„Du wirst zurückkommen. Immer wieder“, sagte sie …

| Ein unbekanntes Virus

Ulla war so alt wie ich
vielleicht ein Jahr jünger oder älter
wir kannten uns aus der Tanzstunde
hatten in der Pfarrdisco
zu Rod Stewarts „Sailing“
wild gefummelt
dann verlor ich Ulla aus den Augen
hörte, dass sie die Schule geschmissen hatte
mit Freiern rumzog, in Clubs tanzte
trank und Linien zog
eine Welt, die mir Milchbubi fremd war

In einer warmen Sommernacht
traf ich sie vor dem Coconut
Ulla balancierte auf roten Pumps
hatte eine riesige Designertasche umgehängt
„du hier?“, sagte sie
fischte mich aus der langen Schlange heraus
und hakte sich bei mir ein
„das ist mein kleiner Bruder“, erzählte sie dem Hünen
von Türsteher
„blamier mich bloß nicht“, flüsterte sie mir ins Ohr
an der Theke bestellte ich ein Bier
„so was ist für Kleinkinder“, kicherte Ulla
sie schob mir einen Whiskey Sour zu
„auf ex!“
ich gehorchte. Mir wurde es warm im Bauch
und heiß ums Herz
eine halbe Stunde später knutschten wir auf dem
Männerklo
„wo hast du gesteckt?“, fragte Ulla
„Schule, Fußball, Partys mit den Kumpels“
„wie langweilig“
wir tranken abwechselnd Wodka, Gin und bunte
Cocktails

Um drei Uhr nahm sie mich mit
in ihre Wohnung
„du weißt, wie es funktioniert?“
„klar!“
ich versagte komplett
wusste nicht, wohin mit meinem Schwanz
spritzte nach drei Minuten ab
„du bist ein elender Lügner. Es war deine allererste
Nummer, und die war das Schlechteste, was ich
bisher erlebt habe“
danach schlief sie an meiner Schulter ein
während ich stundenlang, regungslos wach lag

Wir vögelten nun ein- oder zweimal in der Woche
meistens Dienstag- und Mittwochnachmittag
wenn Ulla frei hatte
ich erkundigte mich nicht nach ihrem Job
ahnte, womit sie ihre Kohle verdiente
wollte es aber nicht so genau wissen
abends lernte ich für die nächste Klassenarbeit
Ulla tanzte in den Clubs der Stadt
sie kannte viele Männer
ließ mich gerne zappeln
versetzte mich
ging nicht ans Telefon
öffnete nicht, wenn ich zornig klingelte
„du bist süß, aber zu jung für mich“, hauchte sie im
Bett
und fuhr mit der Zunge durch mein Ohr
„leck mich!“, schrie ich
sprang auf und rannte zur Tür
„du wirst zurückkommen. Immer wieder“, lächelte sie
„nein!“

Ein paar Monate später war Ulla tot
„irgendein neues Virus. Eventuell ansteckend“
erklärte mir eine gemeinsame Freundin
ich schwitzte, ging zum Urologen und ließ mich
durchchecken

Große Beerdigung
zig hundert Menschen, etliche weinten
hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Leute Ulla
kannte
die nächsten Monate rührte ich keine Frau an
döste in der Schule, wurde beim Fußball auf die
Ersatzbank gesetzt
konnte mich beim Lernen fürs Abitur nicht
konzentrieren
wurde ständiger Gast im Coconut
trank alleine Whiskey Sour
bekam Herzstiche am Urinal
während ich ihren Namen an die Kacheln pisste

Hin und wieder besuche ich ihr Grab
Ulla D. … † 1983
steht dort in schlichten weißen Buchstaben
auf schwarzem Stein geschrieben
manchmal bringe ich Blumen mit
aber nicht immer

(c) H.H.

Bild von pixel2013 auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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