Auf der Suche nach dem Urknall (3)

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Auf dem Flur läuft mir Lila über den Weg. Ich erinnere mich daran, dass sie mir bei unserem letzten Treffen das Nasenbein gebrochen hatte und freue mich trotzdem, sie wiederzusehen.

Lila kannte ich seit Anfang des Jahres. An einem bitterkalten Januarmorgen war sie barfuß und mit zerzauster Frisur in die Klinik hereingeschneit. Bis in die Haarspitzen zugedröhnt mit Pilzen und irgendeiner geheimnisvollen chemischen Substanz. Es dauerte damals ungelogen achtundvierzig Stunden, bis wir sie vernünftig ansprechen konnten. »Ich rühre Drogen aus Prinzip nicht an. Du siehst, was das Dreckszeug aus dem armen Mädchen gemacht hat«, erklärte mir Rene. »Aber eine Gallone Schnaps, die du pro Woche in dich reinschüttest, ist normal?«, fragte ich ihn mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen.

Nicht ganz ne Lolita-Nummer

Lila und ich freundeten uns in diesem tristen Wintermonat an, und wir verbrachten viel Zeit miteinander in Aufenthaltsraum und Raucherzimmer. Sie besaß eine atemberaubende Figur, wies väterlicherseits äthiopische Wurzeln auf, und wenn sie lächelte, blitzten ihre Zähne wie blankgeputzte weiße Perlen im neonbeleuchteten Januargrau des Krankenhauses. Da wir zumeist im Doppelpack anzutreffen waren, hatten wir nach einigen Tagen unsere Spitznamen weg: Bowie und Imam.

Draußen in Freiheit hatten wir uns einige Male getroffen. Bei ihr oder mir zu Hause. Manchmal am Bahnhof, wo wir planlos herumlungerten, anderen Patienten begegneten und mit denen Informationen und Rotweinflaschen austauschten. Ab und an schliefen wir miteinander. Obwohl mir der Sex mit Lila große Freude bereitete, nervte mich ihr anschließendes Gerede über Liebe und Zusammenziehen, und ich verließ deshalb oft mitten in der Nacht ihr Bett, um in meine kleine, unaufgeräumte Wohnung zurückzukehren und dort in Ruhe ein paar Flachmänner hinunterzuspülen, bis mich der viele Alkohol besinnungslos bis zum nächsten Nachmittag einpennen ließ. Sie verfasste lustige Kindergedichte und zeichnete monströse Comicfiguren: vierschrötige Männer mit kantigen Gesichtern und laszive Frauen mit Schmollmund und Atomtitten, denen sie obszöne Sprechblasen in den Mund legte. Wir lasen uns gegenseitig englische Kurzgeschichten und russische Novellen vor, tranken und küssten uns.

Gelegentlich saß Lila unbekleidet neben mir auf dem rechten Rand des Schreibtisches und beobachtete mich dabei, wie ich Text in die alte Tastatur hämmerte, auf der das A und K fehlten. Ich hatte sie wegen ihrer unbekümmerten Art schnell ins Herz geschlossen, ergötzte mich an ihrer Nacktheit, den vollen Lippen und ihrer kühn geschwungenen Nase, umgab mein Innerstes jedoch mit einer dicken Eisschicht, weil ich mich auf keinen Fall verlieben wollte. Ich betrachtete sie eher wie eine Muse denn als gleichberechtigte Partnerin, was sie als einfühlsame Psychopathin natürlich registrierte. Sie schwieg jedoch, und ich sprach das Thema vorsichtshalber nicht an. In ihren Augen entdeckte ich aber einen traurigen Ausdruck.

Eigentlich bin ich auch recht gerne alleine

So gerne ich meine Zeit gemeinsam mit ihr verbrachte, so sehr schätzte ich ebenfalls die Stunden, die ich alleine blieb. Je älter ich wurde, und umso ausschweifender ich zechte, desto mehr floh ich die Menschen und deren Gesellschaft. Die Lektüre eines spannenden Romans und das Beobachten der Schiffe auf dem Strom, der unsere Stadt in zwei etwa gleichgroße Hälften durchschnitt, waren mir oft genauso lieb wie die Umarmungen und das heitere Geplapper Lilas. Es gab Wochen, in denen ich dermaßen gierig Buch um Buch verschlang, indessen die Welt um mich herum vergaß und meine Körperpflege vernachlässigte, dass ich im Stillen befürchtete, ebenfalls beim Lesen ins Extreme abzugleiten. Wodka und Belletristik als kombinierte Drogen, um der ungeliebten Realität zu entfliehen.

Lila, die erheblich jünger war als ich, verstand diesen Wesenszug nicht und schalt mich scherzhaft einen alten Mann, der mit seinen amerikanischen Sportschuhen und der zerlöcherten Jeans eine längst verflossene Jugend nur vortäuschen würde. Ihretwegen könnte ich auch in Anzug und Krawatte aus dem Haus gehen, denn diese Kleidungsstücke seien ihr an mir ebenso sympathisch wie T-Shirt und Denim. Wenn sie Pilze eingeworfen hatte, wurde sie anfangs albern, kicherte und gackerte wie ein kleines Mädchen, bis nach spätestens einer Stunde ihre Stimmung umschlug, und sie Morddrohungen gegen Gott und die Welt – zumeist allerdings auf ihre Mutter zielend – aussprach. In dieser angeblich bewusstseinserweiternden Phase liebte sie es, mich bis aufs Blut zu reizen, indem sie mir wüste Beleidigungen zurief, mich einen nymphomanen Penner nannte und in die tiefste Hölle wünschte. Was sie nicht daran hinderte, zehn Minuten später auf offener Straße ihre wohlgeformten Brüste zu entblößen und mich aufzufordern, an Ort und Stelle mit ihr zu schlafen.

Aus diesem an und für sich harmlosen Zeitvertreib ergaben sich jedoch hin und wieder brenzlige Situationen, wenn sie zornentbrannt auf die Gleise lief, sich in der Form eines Kreuzes zwischen die Schienen warf und erst im letzten Augenblick aufsprang, wenn der Zug heranbrauste. Im Mai hatte sie es auf die Spitze getrieben und war liegengeblieben, wenngleich die S6, die von Norden in die Stadt pendelte, einhundert Meter entfernt von ihr bereits schrille Warnsignale ausstieß und im Zweifelsfall nicht mehr hätte rechtzeitig bremsen können. Trotz einer Pulle Jägermeister im Bauch hechtete ich die Böschung hinab, riss sie in der allerletzten Sekunde aus dem Kiesbett heraus, verabreichte ihr erschrocken eine Ohrfeige und brüllte: »Bist du völlig durchgedreht? Wenn du dich unbedingt umbringen möchtest, dann tu es alleine.« Nach einer stummen Schreckminute, in der ich mir unsicher war, ob Lila nun weinen oder hysterisch lachen würde, knallte sie mir ihre Faust auf die Nase, die hässlich knirschte und sofort blutete, befreite sich aus meinem Griff, rannte ohne nach links und rechts zu sehen auf die vierspurige Straße, wo ein schwarzer BMW-Kombi mit quietschenden Reifen vor ihr stoppte. Bevor der verblüffte Mann das Fenster runterkurbeln konnte, öffnete Lila die Beifahrertür und schrie den überrumpelten Fahrer an: »Nimm mich bis ins Westend mit!« Während sie einstieg, spuckte sie wutbebend in meine Richtung, streckte mir den erhobenen rechten Zeigefinger entgegen und kreischte: »Fick dich, du elender Pisser. Ich will dir nie mehr begegnen. Das war’s mit uns beiden. Für immer und ewig.« Seit diesem Erlebnis hatte Funkstille zwischen uns geherrscht.

Und sei der Ort noch so traurig

Und nun traf ich sie acht Wochen später in der geschlossenen Abteilung. Wiewohl der Anlass eigentlich ein trauriger war, freute ich mich ehrlich darüber, Lila wiederzusehen. In ihren Augen entdeckte ich ebenfalls Zärtlichkeit und Verständnis. Wir umarmten uns innig. Ungeachtet der Tatsache, dass das Thermometer an diesem schwülheißen Nachmittag weit über dreißig Grad kletterte und die Pfleger alle Hände voll damit zu tun hatten, halbnackte Patienten einzufangen und energisch auf die Kleiderordnung aufmerksam zu machen, trug Lila lange Hosen und ein Hemd, dessen Ärmel bis zu den Handknöcheln reichten. Als Grenzgängerin fügte sie sich mit Küchenmessern tiefe Schnitte in Unterarme und Oberschenkel zu und drückte brennende Zigaretten auf ihrer Haut aus.
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Und hier morgen zur Fortsetzung.

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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