Auf der Suche nach dem Urknall (5)

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Im Raucherzimmer doziert Rolf über Haute Cuisine. Als er mir in der Kantine eine Wurstscheibe vom Teller nehmen will, droht Lila, ihm die Gabel in den Handrücken zu bohren, wenn er die Scheibe nicht augenblicklich zurückgibt. 

»Bist du auch wieder hier reingeschneit«, begrüßte er mich freundlich. »Man kann beinahe die Uhr nach dir stellen, so regelmäßig kreuzt du in der Station auf.« Du natürlich nicht, dachte ich; behielt den Gedanken jedoch für mich.
»Henning gefällt es halt in diesem Scheißladen«, krächzte Rene, der im Schneidersitz auf dem Linoleumboden hockte und in einer hellgrünen Plastikschüssel einen Brei aus Haferflocken, Puddingpulver und Himbeersirup zusammenrührte. Neben ihm dudelte ein uraltes Transistorradio, auf dem er SWR4 – den Sender mit den deutschen Schlagern – eingestellt hatte, in voller Lautstärke.

Selbstgedrehte Kippen, laute Musik und Essenswünsche

»Mach den Kasten leiser, oder ich trete dagegen«, zischte ich, denn am zweiten Tag der Entgiftung geriet ich schnell in Erregung, wenn man mich allzu sehr nervte.

»Der gute Henning verliert hin und wieder die Contenance. Leider. Das kann mir aufgrund der für Freiberufler notwendigen Ruhe und Gelassenheit nicht passieren. Andenfalls hätte ich in diesem hochkomplizierten Metier nicht erfolgreich arbeiten können«, steuerte Rolf seinen Senf bei. Lila beachtete ihn nicht, sondern musterte immer noch Petra. Als Rolf ihr momentanes Desinteresse an seiner Person bemerkte, stand er auf und sagte: »Dann werde ich in der Küche mal nach dem rechten schauen, ob sie dort alles gemäß meinen Wünschen zubereiten. Denn ich bin es gewohnt, frische Qualitätsprodukte zu mir zu nehmen. Ich esse nämlich nicht aus der Mülltonne wie einige andere hier.« Daraufhin verschwand er durch die Tür.

»Er ist so ein elender Klugscheißer«, schimpfte Petra und spuckte angewidert einen ausgelutschten Kaugummi an die Wand. Rolf hatte bei ihr aufgrund einer unbedachten Äußerung für immer und ewig verkackt, als er sie im vergangenen Winter hinter vorgehaltener Hand eine abgetakelte Puffmutter nannte. Da in der geschlossenen Abteilung keine Nachricht länger als maximal zehn Minuten geheim blieb, wurde sein herabwürdigender Kommentar Petra in Windeseile zugetragen. Zornbebend stellte sie ihn damals im Essensraum zur Rede, und als er spöttisch lächelnd versuchte, sich in gewundenem Steuerberaterdeutsch aus der Sache herauszumanövrieren, geriet sie in immer größere Wut und drosch ihm schließlich ein mit Brotscheiben, Jägerwurst und Hagebuttentee bestücktes Tablett vor die Stirn. Seit diesem Vorfall mied Rolf die Gegenwart Petras und passte höllisch darauf auf, was er sagte, sobald sie sich in der Nähe befand. Wenn er sich auch gerne den Anschein gab, dass er seit dem Tod seiner Verlobten – der allerdings dreißig Jahre zurücklag – mit den Reizen der Weiblichkeit abgeschlossen hatte, mutmaßte ich hin und wieder, dass er mich insgeheim um meine Unbekümmertheit beneidete. Im Gegensatz zu ihm konnte ich ohne falsche Scheu und spätere Gewissensbisse meinen Kopf zwischen die dicken Brüste Petras stecken und dort die ersten Stunden des Entzugs vor mich hindösen. In ihr weckte es mütterliche Instinkte, und ich überbrückte an ihrer nach Nivea und Patschuli riechenden Haut die schier endlose Zeitspanne des Abkochens auf einskommafünf Promille, bis ich die erste Ration Valium verabreicht bekam. Danach hielt ich körperlichen Abstand zu Petra, weshalb sie mich oft als undankbar und arrogant bezeichnete. Ich jedoch vertrat die Auffassung, dass ihr mein Kinn auf dem Bauchnabel genauso gut gefiel wie mir das Schnarchen an ihrem Busen, weshalb ich mir keiner Schuld bewusst war.

Ich muss gefüttert werden

Lila nahm meine Hand und schleifte mich hinter sich her an ihren Sechsertisch im Essensraum. »Neben mir ist noch ein Platz frei. Setz dich hin und warte«, flüsterte sie.

Nach zwei Minuten kehrte sie zurück und stellte einen Teller mit gummiartigem Graubrot, in Dreiecken konfektioniertem Schmierkäse und einem Klecks in Mayonnaise schwimmendem Kartoffelsalat vor mich hin. Mein Magen, der zwei Wochen lang keine andere Nahrung als Bier und Wodka gesehen hatte, zog sich beim Anblick der ungewohnten festen Kost zusammen. Ein spontanes Würgegefühl schüttelte mich, und es fehlte nicht viel, dass ich Galle unter den Stuhl erbrochen hätte.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Lila zärtlich.
»Schon gut; ich kann alleine essen«, brummte ich.
»Spiel jetzt hier bloß nicht den Helden, alter Mann«, ermahnte sie mich. »Du zitterst wie eine Vogelscheuche und wirst es garantiert nicht schaffen, den Löffel unfallfrei bis zum Mund zu führen.«
»Henning wird gefüttert wie ein Baby«, grinste Rene, der sich gerade die Reste des Puddings von den Fingern leckte. Mit seinem, von einem schütteren Zehntagebart eingerahmten, Gesicht, in dem zwei stets unruhige Pupillen flackerten, erinnerte er mich an die gierigen Frettchen, die die alten Römer zur Mäusejagd abgerichtet hatten.

»Lass mich bloß in Ruhe, ansonsten quetsche ich deinen gottverdammten Schädel in die Plastikschüssel«, erwiderte ich ungehalten.
»Der gute Henning vergreift sich ab und an im Ton und vergisst seine gute Kinderstube«, grinste Rolf, während er aufmerksam die Wurstscheiben durchzählte. »Gestern waren es fünf, heute nur noch vier. Wie soll ein erwachsener Mann von so wenig Kalorien satt werden?«
»Kannst meine nehmen. Ich habe überhaupt keinen Hunger.« In diesem Moment ekelte ich mich vor jeglichem fetten Aufschnitt und der aufgrund der Hitze leicht ranzigen Butter.
»Gerne.« Bevor Rolf es allerdings schaffte, mit seiner Gabel meinen Teller zu erreichen, schlug ihm Lila das Besteck aus der Hand. »Frag in der Küche, ob sie dir dort einen Nachschlag geben. Henning muss essen, damit er zu Kräften kommt.« Rolf schaute verdutzt, sagte aber nichts, sondern hob stumm die Gabel vom Boden auf.

Lila mal wieder auf 180

»Henning hat eine neue Mama. Eine Schokoprinzessin. Wie kann es aber sein, dass du selber so blass aussiehst?«, wieherte Rene und zeigte dabei sein schadhaftes Gebiss.
»Henning hat dir erklärt, was gleich passiert«, fauchte Lila, während sie Blitze aus ihren grünen Augen in Richtung Rene schleuderte. Der fühlte sich sofort unwohl in seiner Haut und senkte unterwürfig den Blick, weil er mit dem Instinkt eines häufig geprügelten Straßenköters spürte, dass Lila es nicht bei einer Drohung belassen würde. Sie war imstande – und darin wesensgleich mit Petra – ihre Worte blitzschnell in drastische Taten umzufunktionieren. Während Lila mir die Brote in kleine Stücke schnitt und zum Mund führte, aßen Rolf und Rene schweigend ihre Teller leer. Rene rülpste, wischte die Lippen am Hemdärmel ab, griff das Transistorradio und schlurfte zurück ins Raucherzimmer, wo er sich aus den Kippen im Aschenbecher eine neue Zigarette drehen würde.
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Und hier morgen zur Fortsetzung.

Bild von ruhbastard auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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