Ich sitze Karnevalsfreitagabend im Red Diamond, zocke mit dem Legionär, der regt sich maßlos darüber auf, dass er ständig verliert und schlägt deshalb eine letzte Partie „The winner takes it all“ vor.
In dieser Saison lief es besser für die Geißböcke, die Mitte Februar auf Platz 5 der Tabelle standen und mit einem Unentschieden gegen Dortmund in die Karnevalspause gingen. Auch im Pokal war noch alles drin für den FC.
An Weiberfastnacht wurde es plötzlich lausig kalt im Rheinland.
Wahrscheinlichkeitsrechnung ist alles beim Zocken
Die Würfel glitten über den grünen Filz, überschlugen sich ein weiteres Mal, bevor sie an der gegenüberliegenden Wand des Boards zum Stillstand kamen.
»Fuck«, fluchte Jürgen anerkennend.
»Das war’s dann«, sagte Veronika.
»Der Kerl hat so ein gottverdammtes Glück«, schrie der Legionär.
»Bleib ruhig, Schatz«, flüsterte Angelika, während sie ihrem wütenden Freund mit der Linken den Unterleib massierte.
Ich blieb stumm, betrachtete bloß die zwei Ziffern: 5 und 3. Die passten, um meine beiden letzten Steine nach draußen zu befördern und die Partie zu beenden. Mir hätte sogar ein 4-2 ausgereicht. Meine Chance hatte 28 Prozent betragen. Nicht gerade wenig. Das Gerede vom Legionär waren die üblichen Worte des Verlierers, der die Gesetzmäßigkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht begriff. Der Doppler lag auf seiner Seite. Mit unglaublichen 16. Nur ein Idiot wie mein heutiger Gegner akzeptierte solch eine Höhe. Und das bei einem Heiermann Grundeinsatz. Mit diesen achtzig schuldete mir der Legionär heute Abend bereits drei Riesen.
Er war kein übler Kerl. Seinen Spitznamen hatte er weg, weil er behauptete, früher in der Fremdenlegion gedient zu haben. Auf jedem Kriegsschauplatz der 70-er hatte er mitgemischt. Überprüft hatte es keiner von uns. Ob’s nun stimmte oder nicht, war uns egal. Die Geschichten über Afrika und Südostasien waren spannend, und wenn Ronnie – so hieß er mit Vornamen – genug trank, dann würzte er die Stories mit jeder Menge Blut und Pathos. Manchmal sang er sogar die Marseillaise, was für uns Zuhörer anstrengend war, denn er besaß keine schöne Singstimme.
Trotz vieler Versuche blieben seine Backgammon-Künste bescheiden. Obwohl wir ihn also mühelos um seine Kohle erleichtern konnten, riss sich niemand darum, mit ihm zu zocken. Denn seine gelegentlichen Wutausbrüche waren gefürchtet. Heute hatte er bloß die Würfel ins Spirituosenregal gepfeffert; war aber auch schon vorgekommen, dass er seinem Gegenüber das Brett um die Ohren schlug. Ein impulsiver Charakter, der seine Emotionen nicht ständig unter Kontrolle hielt. Er sei auf Valium, wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert; würde aber hin und wieder vergessen, die Pillen einzunehmen. An solchen Tagen genügte ein falsches Wort, um ihn in Zorn zu versetzen.
Ich hatte ihm im vergangenen Jahr die Grundzüge des Spiels erklärt und mein schlaues Strategiebuch ausgeliehen. Seitdem betrachtete er sich als meinen Freund. Als mich vor vier Wochen zwei Bergheimer Asis auf der Pfeilstraße attackierten, der eine mir ohne Vorwarnung die Spitze seines Cowboystiefels gegen das Schienenbein rammte, sodass ich mit einem lauten Schmerzensschrei auf die Knie sank, kam Ronnie aus dem Le Grand herbei gesprintet. Dem Kleineren schlug er die Faust in den Magen, woraufhin der im Gesicht blau anlief. Den Größeren, der sich gerade über mich beugte, nahm er von hinten in den Schwitzkasten. «Ein Wort, ein blödes Wort von dir, und ich breche dir das Genick.» Eingeklemmt zwischen Bizeps und Unterarm des Legionärs, der den Kopf meines Angreifers gleichzeitig mit der linken Hand bedrohlich zur Seite drückte, blieb dem Kerl nichts anders übrig, als «Ich gebe auf», zu winseln.
Ronnie rettet mir den Arsch
«Willst du ihm noch Manieren beibringen?», fragte Ronnie.
«Nein, ist okay so», sagte ich.
»Seid froh, dass mein Kumpel Henning so friedfertig ist. Wenn’s nach mir ginge, würde ich euch jetzt die Finger brechen. Setzt euch in euren Haufen Schrott, denn anders kann ich euer hässliches Auto beim besten Willen nicht bezeichnen und lasst euch nie mehr in diesem Viertel blicken.»
Die beiden stiegen in einen gelben Ford Capri mit Kennzeichen BM und jagten auf quietschenden Reifen Richtung Ehrenstraße davon. Beim Vorbeifahren spuckte die Blonde, mit der ich mich noch vor ein paar Minuten freundlich im Red Diamond unterhalten hatte, aus dem geöffneten Seitenfenster vor meine Füße.
«Kanntest du die?» Ronnie zog mich nach oben. Das linke Schienbein schmerzte höllisch. Ich konnte nur mit Mühe stehen.
«Keine Ahnung.»
«Den Größeren hattest du vor 14 Tagen um vierhundert Mark erleichtert. Ich saß daneben und habe dir zugeschaut. Schon vergessen?»
«Ich spiele mit so vielen. Kann mir unmöglich alle Gesichter merken.»
«Solltest du aber. Und vorsichtiger werden. Damit dir sowas hier nicht wieder passiert.»
Und nun saß ich am Abend des Karnevalsfreitags – leicht erschöpft nach einer bis ins Morgengrauen andauernden Party vom Vortag – im Le Grand und spielte mit Ronnie.
»Ja, ich habe Dusel gehabt«, log ich, weil ich meinen Kumpel nicht zusätzlich reizen wollte.
»Dusel? … So viel Schwein, wie du es hattest, habe ich noch nie gesehen. Ich möchte eine weitere Partie», rief er. «Und zwar um alles. Volles Risiko. The winner takes it all.«
»Warum sollte ich sowas Schwachsinniges tun?«
»Kneifst du etwa, du Ratte?«
Ich schaute zu Jürgen, der hinter dem Tresen die Tageseinnahmen des Red Diamond kontrollierte. Seine Lieblingsbeschäftigung.
»Noch Geld im Topf?«, fragte ich.
»Nein, der Legionär müsste Kohle nachschießen. Sein Budget ist aufgebraucht.«
»Was … bekomme ich als Stammgast hier keinen Kredit?«
»Nicht fürs Zocken. Du kennst die Regeln.« Jürgen blieb äußerlich cool, beobachtete jedoch mit wieselflinken Geschäftsführeraugen die Szene. Ihm entging nichts, was in seinem Laden passierte.
Letzte Partie: The winner takes it all
»Das könnt ihr Wichser nicht mit mir machen!« Ronnie sprang hoch und plusterte sich mit seinen gerade mal einssiebzig vor der Theke auf. Jürgen trat vorsichtshalber zwei Schritte zurück.
»Wir sind jetzt bei dreihundert«, sagte ich. »Nach der letzten Partie gehe entweder ich mit sechshundert oder du schuldenfrei hier raus: ist das der Deal?«
»Ja«, bellte der Legionär.
»In Ordnung«, antwortete ich.
»Ohne Hinterlegung der Summe?«, fragte Jürgen.
»Ist schon okay so.«
»Ist dein Risiko, Henning. Nicht meins.«
»Noch was zu trinken, die Herren?«, erkundigte sich Veronika.
»Whiskey Sour«, bestellte Jürgen.
»Für mich eine Coke.«
Ab gewissen Uhrzeiten und Spielständen war es ratsam, nüchtern zu bleiben oder es schnell wieder zu werden. Obwohl ich auf Partys gerne alles querbeet durcheinander soff, blieb ich beim Backgammon eisern bei Cola, Limo und Wasser. Hin und wieder ein Kölsch, wenn ich von meinem Gegenüber dazu eingeladen wurde. Beim Zocken um Kohle war es wichtig, stets hellwach zu bleiben. Der klare Kopf machte sicher dreißig Prozent der Überlegenheit von Profis gegenüber den Amateuren aus.
Den Dopplerwürfel benötigten wir dieses Mal nicht. Das Spiel ging fix um drei Riesen. Ich eröffnete mit 6 und 1. Der Legionär zog mit 3 und 4 hinterher.
»Schon der Beginn ist Scheiße«, fluchte er. »Gib uns neue Becher!«
»Du misstraust den Bechern?«
»Vorsicht hat mir oft den Arsch gerettet. Wie 1974 in Mauretanien, als ich …«
»Wir alle kennen die Geschichte, Ronnie. Lass uns auf das Match konzentrieren. Dreihundert ist schon eine Hausnummer. Jetzt bloß kein Gelaber.«
»Wer von uns beiden labert zu viel?«
»Bleib ruhig, Schatz.« Angelika kraulte ihm wieder die Eier. Er grunzte zufrieden, woraufhin sie verschwörerisch in meine Richtung blinzelte.
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Hier geht es morgen zur Fortsetzung.
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