Das Auge

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Gogol findet ein Auge in seinem Frühstückscroissant, macht sich auf, den Eigentümer zu suchen und begegnet auf der Straße einem Pizzaverkäufer, der ihm ein Auge zum Verzehr anbietet. Gogol wird misstrauisch, setzt sich im Park auf eine Bank, um nachzudenken, als er plötzlich einen Hund bemerkt, der laut bellend auf ihn zuläuft. Das Tier hat keine Augen mehr.

Als Gogol nach dem Aufstehen um zehn Uhr herzhaft in das Schokocroissant hineinbiss, das ihm seine Verlobte Praskowja wie jeden Morgen auf den Küchentisch gestellt hatte, spürte er zwischen den Schneidezähnen einen ungewohnten weichen Gegenstand. Verwundert legte er das Plundergebäck zurück auf den Teller, setzte die Brille auf die Nase, pulte mit zwei Fingern und Daumen im lockeren Teig herum und beförderte schließlich ein ovales Ding nach draußen: ein klebriges Etwas in der Dimension eines Taubeneis. Er schlurfte zum Fenster, um dort das Tageslicht besser ausnutzen zu können, rieb mit dem Ärmel seines Bademantels über die gallertartige Kugel und stellte erstaunt fest, dass er einen Augapfel in der Hand hielt. Kein Schweins-, Schafs- oder Rindsauge, sondern mit unumstößlicher Sicherheit ein menschliches Sehorgan. In der Farbe Blau, was den Kreis der potenziellen Eigentümer auf weniger als zehn Prozent der Bewohner der Stadt einschränkte.

Was für eine eklige Sauerei, ging es ihm durch den Kopf. Wie mag das Ding ausgerechnet in mein Frühstück hineingeraten sein? Gehörte es etwa dem Bäcker um die Ecke, wo Praskowja die Hörnchen gegen sieben Uhr kaufte oder vielleicht einem Arbeiter in der Brotfabrik, die die tiefgefrorenen Teiglinge produzierte? War einzig sein Croissant mit einem Auge bestückt worden oder lag hier vielleicht eine verunreinigte Charge vor?

Das Mädchen mit den verschiedenfarbigen Augen

Er entschied sich dafür, Hose und Hemd anzuziehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Das Auge, das bereits ein bisschen wässerte, umwickelte er mit einer dreifachen Lage Hygienepapier, über die er vorsichtshalber eine transparente Zellophanhülle stülpte, die er mit einem gelben Plastikclip verschloss. Den Beutel stopfte er in die Innentasche seines Jacketts. Da er am Abend zuvor eine Flasche Wodka geleert und in der Nacht nur wenige Stunden geschlafen hatte, steckte er die Pilotenbrille mit den extragroßen, getönten Gläsern ein, um darunter die Schatten der Nacht zu verstecken. Er träufelte ein paar Tropfen in seine juckenden Bindehautsäcke, nippte ein letztes Mal am pechschwarzen Kaffee, bevor er halbwegs gestärkt die Tür durchschritt und auf den Flur trat. Es roch deutlich nach Salmiakgeist und Desinfektionsmittel. Die Putzkolonne musste erst vor wenigen Minuten hier durchgekommen sein.

Allerdings war keine Menschenseele in Korridor oder Treppenhaus zu sehen. Die anderen Bewohner arbeiteten vermutlich bereits seit Stunden in ihren Büros oder schliefen noch. In diesem hypermodernen Appartementblock am Nordrand der Innenstadt – nur fünf Gehminuten vom Zentralplatz entfernt – wohnten fünfzig Parteien, die die luxuriös ausgestatteten Wohnungen entweder gekauft oder teuer gemietet hatten. In der überwiegenden Anzahl Singlehaushalte und Pärchen, bei denen beide Partner berufstätig waren. Kinder im Vorschulalter und Tiere – ausgenommen Hunde – waren gemäß Hausordnung verboten. Umso erstaunter schaute er, als er vor dem Aufzug ein etwa vierjähriges Wesen mit braunen Zöpfen entdeckte, das dort mit gesenktem Kopf auf dem Boden hockte und bunte Murmeln hin und her rollen ließ.

Gogol räusperte sich und sprach das Mädchen an: »Zu wem gehörst du, oder hast du dich verlaufen?« Das Kind antwortete ihm nicht und war weiterhin in sein Spiel vertieft. Vorsichtig berührte er es an der Schulter. Die Kleine drehte sich langsam um, und er erschrak, als er in ihre Augen blickte. Denn die funkelten in zwei unterschiedlichen Farben: braun und grün. »Ich bin hier zu Besuch«, gluckste sie.
»Möchtest du dich zu mir setzen und dabei helfen, die Kugeln zu sortieren?«
»Nein, sch.. sch.. schon gut«, stotterte er und betrat den Fahrstuhl, froh das unheimliche Mädchen schnell hinter sich zu lassen. Als er die Lobby erreichte, und die Türen sich mit einem leisen Summen öffneten, dachte er: Wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet. Oder die Kleine hat farbige Linsen eingesetzt. Man sollte Eltern beim Jugendamt anzeigen, die solch einen gefährlichen Unsinn erlauben.

Ein Pizzaverkäufer, der Augen statt Pizza anbietet

Draußen schien die Frühlingssonne von einem strahlendblauen Himmel herab. Einige zerzauste Schäfchenwolken zogen von West nach Ost über die Stadt. Ein warmer Gründonnerstag Mitte April kündigte sich an. Die ohnehin ruhige Straße vor dem Haus war um diese Uhrzeit nahezu menschenleer. Einzig ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift Pizza-Blitz parkte schräg gegenüber unter einer roten Markise. Am Kotflügel lehnte ein junger Kerl mit lässig in den Nacken geschobener Baseballkappe und pickte mit einer Plastikgabel in eine Chipstüte hinein.

Als Gogol näher herankam, bemerkte er, dass der Fahrer glibberige weiße Kugeln, die Litschis ähnelten, aus der Verpackung herausfischte. Lächelnd hielt der Typ ihm ein Bällchen vor die Nase und bot es ihm zum Verzehr an. Als Gogol erkannte, dass es sich um Augen handelte, spürte er ein heftiges Würgegefühl im Hals, vollführte schweigend eine ablehnende Handbewegung und ging rasch an dem Mann vorbei.

Er erreichte nun das Bankenviertel mit den chromblitzenden Wolkenkratzern. Unter gewöhnlichen Umständen spiegelte sich die Sonne in den tausend riesigen Glasfenstern und tauchte den Bürgersteig in ein gleißendes Licht. Heute hingegen erweckte es in Gogol den Eindruck, als wenn die Hochhäuser von links und rechts nach Innen gekippt wären und die Fahrbahn verdunkelten. Mit klopfendem Herzen registrierte er plötzlich, dass versteckt hinter den Scheiben Millionen Augen lauerten, die entseelt auf ihn gerichtet waren. Sie muteten ihn freischwebend an, ohne Körper, der sie umschloss. Meine Sinne sind überreizt. Ich sollte weniger Schnaps trinken, flüsterte er sich selbst Mut zu. Gogol beschleunigte seine Schritte und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung Park ab. Er marschierte durch eine mit gigantischen Pappeln gesäumte Allee. Eine sanfte Brise strich über die Bäume und ließ die Blätter im Wind rauschen. Auf der großen Wiese in der Mitte der Anlage hielt er an, um kurz zu verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, denn das Thermometer kletterte an diesem schönen Vormittag im April bereits über zwanzig Grad. Gogol setzte sich auf eine Bank und schaute sich um. Außer ihm war kein Spaziergänger unterwegs. Die Hunde, die hier um diese Stunde normalerweise herumtollten, schienen heute zu Hause geblieben zu sein. Keine Vögel auf den Ästen, die Luft mittlerweile schwül wie in einem Treibhaus, Grabesstille um ihn herum. Wo mögen die Stadtbewohner und Tiere abgeblieben sein? Träume ich vielleicht und bin noch gar nicht erwacht? überlegte er.

Ein Pudel ohne Augen, der ein Auge im Maul spazieren trägt

Von rechts näherte sich nun eine alte Frau, die einen Pudel spazieren führte. Er freute sich darüber, endlich einem Menschen zu begegnen. Als die Greisin achtlos an ihm vorbeigehen wollte, grüßte er sie: »Guten Morgen, das scheint heute ein heißer Tag zu werden.«

Die Alte wandte ihm den Kopf im Zeitlupentempo zu und Gogol erschauerte, als er in ihr Gesicht ohne Augen starrte. Der ebenfalls blinde Hund trug ein blaues Menschenauge im Maul, ließ es auf den staubigen Weg fallen, bellte Gogol erst laut an, begann daraufhin böse zu knurren und verbiss sich in das ausgestellte Hosenbein von Gogols Jeans. Die Frau zerrte energisch an der Leine, riss das Tier zurück und entfernte sich kichernd. Das vergessene Auge ruhte derweil mit der Rückseite auf dem grauen Ascheboden und fixierte Gogol. Der rieb sich in einer nervösen Bewegung über die nach wie vor gerötete Bindehaut und stellte erstaunt fest, dass an der Stelle, an der er ansonsten den elastischen Augapfel spürte, jetzt ein Loch in der Größe seines halben Daumens klaffte. Voller Entsetzen fingerte er nach seinem Stofftaschentuch, faltete es mit zittrigen Fingern zu einem Dreieck und verdeckte damit wie ein Korsar des 17-ten Jahrhunderts die blutige Höhle. Geistesgegenwärtig sammelte Gogol das vor ihm liegende blaue Auge auf und verstaute es im Plastikbeutel neben dem Zwilling aus dem Schokocroissant.

Dann rannte er los, so schnell ihn die Beine trugen, unter den schattigen Pappeln hindurch aus dem Zentralpark hinaus auf die breite Chaussee, an deren Ende sich das Krankenhaus Der heiligen Lucia von Syrakus befand. Gogol überquerte verwaiste Straßen, auf denen Autos ohne Insassen vor verbogenen Ampeln standen, wich Gesteinsbrocken aus, die von den Dächern der Häuser auf ihn niederprasselten und erreichte nassgeschwitzt und außer Atem die Eingangshalle der Klinik. Schwestern ohne Augen mit Armen, die Küchenmessern glichen, nahmen Gogol in Empfang und begleiteten ihn in einen riesigen Operationssaal an dessen hinterem Ende die Wand fehlte, sodass er von dort bis in sein Wohnzimmer schauen konnte, wo er auf dem Teppich den gekrümmten Körper einer blonden Frau erkannte. Wie durch einen Nebel aus Chloroform und Watte hindurch hörte er aus der Ferne Stimmen, die ihn beim Namen riefen. Zahlreiche Hände zerrten an seinen Armen und Schultern. Er wurde in die Höhe gehoben und auf einem Tisch festgeschnallt. Grelles Licht wie aus Scheinwerfern blendete ihn für einige Sekunden. Danach schwand ihm das Bewusstsein und ihn umfing stockdunkle Nacht.

Auf der Intensiv

Als er aus der Ohnmacht erwachte, war er an die Gitterstäbe eines Metallbetts gefesselt. Seine Augen verbunden mit einer dicken Mullbinde. Zwei Männer – vermutlich Ärzte – unterhielten sich leise zu Gogols Rechten, weil sie ihn irrtümlich noch schlafend wähnten.

»Die Frau sah furchtbar aus. Mit einer Küchenklinge bestialisch zerstückelt. Sogar die Augen hatte er herausgetrennt.«
»Weshalb dieser ganze Irrsinn?«
»Im Wahn. Beide hatten LSD eingeworfen und mit Wodka runtergespült.«
»Wer hat das Paar entdeckt?«
»Der Pizzabote, der eine halbe Stunde später klingelte und die Tür nur angelehnt vorfand. Skurrilerweise trug der junge Typ wegen einer Bindehautentzündung eine Augenklappe wie ein Pirat.«
»Muss kein schöner Anblick für ihn gewesen sein.«
»Sicher nicht. Das war aber noch nicht die ganze Geschichte. Zu allem Unglück rollte der Ball der kleinen Ilona, die bei ihrer Oma zu Besuch war und auf dem Korridor gespielt hatte, in die Wohnung hinein. Als das Kind den wiederholen wollte, stolperte es über den Patienten und fiel mit dem linken Auge in das Messer hinein, das er noch in der Hand hielt.«

»Oh Gott! Was geschah dann?«
»Vom lauten Geschrei der Enkelin alarmiert eilten die Großmutter und deren Pudel herbei. Die Alte erlitt einen Nervenzusammenbruch und kann seitdem nicht mehr sehen. Der Köter kläffte noch wie verrückt als Polizei und Notarzt am Tatort eintrafen. Und hat wahrscheinlich ein Auge der Verlobten gefressen, denn das ist spurlos verschwunden.«
»Was geschieht mit dem Patienten?«
»Sobald der hier genesen ist, wird er in Untersuchungshaft überstellt. Ihm droht ein Prozess wegen Totschlags. Für einen geplanten Mord war er zu vollgedröhnt. Da hat er Glück gehabt.«
»Und seine Augen?«
»Die waren nicht mehr zu retten. Komplett verätzt mit Salmiakgeist, den er sich im Drogenrausch selbst hineingekippt hatte. Schade drum, denn die strahlten früher wohl in einem schönen Blau. Na ja, dort wo er die nächsten zehn Jahre sitzen wird, werden sie ihm schon beibringen, wie man als Blinder zurechtkommt. Zeit genug, sich daran zu gewöhnen, hat er ja.«

Die beiden Ärzte verließen das Krankenzimmer, und Gogol wünschte sich, er wäre in der letzten Nacht gemeinsam mit Praskowja gestorben.

Inspiriert von: Nikolai Wassiljewitsch Gogol

Bild von jette55 auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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