Spinnen unter der Haut

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Als Hank morgens auf dem Rücksitz seines Wagens erwacht, stellt er fest, dass ihm drei Finger fehlen, und er deshalb wahrscheinlich seinen Job als Henker im Staatsgefängnis von Ely an den Nagel hängen muss.

Das Licht am Ende des langen Flurs schimmerte bläulich. Um mich herum herrschte Dunkelheit. Vorsichtig erhob ich mich von den Knien und tastete blind mit meinen Armen in alle Richtungen, um Widerstand und Halt zu finden. Die Wände fühlten sich an, als seien sie mit einem weichen Teppich bespannt. Gemächlich wanderte ich vorwärts in Richtung des Scheinwerfers. Obwohl ich im Schneckentempo spazierte, schlug das Herz rasend schnell. Schweiß brach mir aus allen Poren und durchtränkte im Nu Hemd und Hose. Der Stoffbehang der Mauern verwandelte sich jäh in moosüberwuchertes Gestein. Von der Decke perlten kalte Tropfen in mein Genick, von wo aus sie mir in kleinen Bächen den Rücken herunterliefen. Der Boden unter meinen Füßen gab überraschend nach, und ich glitt wie auf einer endlosen Rutschbahn kilometerweit nach unten, bis ich in einem weißgekachelten Raum anlangte.

Die dreifache Venusfalle

Drei attraktive Frauen warteten dort bereits auf mich. Eine in schwarzes Leder gekleidete Domina, die sich als Mary vorstellte; Vanessa mit der enormen Oberweite im Kostüm à la sexy Krankenschwester und die rotgelockte Jane in einer Militäruniform, die mich an die Guerilla in Nicaragua erinnerte.
»Bist du endlich hier. Das hat aber gedauert.«
»Wo bin ich?«
»Wir haben jetzt keinen Nerv für Mätzchen. Es wurde bereits zu viel wertvolle Zeit verplempert, weil du derart getrödelt hast.«

Mary riss an meinen Haaren und drängte mich zu einem Operationsstuhl, an dem mich Jane mit geübten Griffen fixierte. Vanessa drückte mir die Lider auseinander, träufelte Belladonna hinein, sodass sich die Pupillen weiteten und die Bindehaut gefühllos wurde. Daraufhin nestelte Jane eine kleine Metalldose aus ihrem Koppel, öffnete den silbernen Deckel und fingerte vier große, pelzige Spinnen heraus. Diese setzte sie mir paarweise links und rechts auf die Wangen, befahl: »Los jetzt!«;
woraufhin sich die Achtfüßer ruckartig in Bewegung setzten. Nahezu gleichzeitig tauchten sie in meine vor Schreck weit aufgerissenen Augen ein. Ich versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Ton über die Lippen. Mary verabreichte mir trotzdem zwei kräftige Ohrfeigen. »Jammere nicht!«, zischte sie.

Zwei Tiere krochen rasch körperabwärts, durchquerten Luftröhre und Lunge, um binnen Kurzem die Herzgegend zu erreichen. Mir war, als ob Zangen den Muskel umspannten und die Lebensnerven zerquetschten. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir haben alles unter Kontrolle«, Lächelte mich Vanessa mit perlweißen Zähnen an. Die beiden anderen Spinnen krabbelten indessen durch den Gehörgang weiter zum Rückenmark und ließen mich vor Panik erzittern.

»Ich fühle mich komisch«, lallte ich.
»Das ist völlig normal. Kein Grund zur Sorge.« Jane zog eine pinkfarbene Flüssigkeit in eine Spritze und drückte mir diese in die linke Armbeuge.

Die Augen plötzlich vom restlichen Körper getrennt

Meine Augen verließen jetzt die Höhlen und wanderten empor zur Decke, von wo aus ich das Geschehen unten im Raum beobachten konnte. Mary griff eine lange Schere und zerschnitt mir das Hemd vom Nabel beginnend in zwei Teile. Daraufhin stach sie mit der Spitze tief in ihren Hals hinein und ließ das wie aus einer frisch angezapften Ölquelle hervorsprudelnde Blut auf meinem Bauch zerstäuben. Jane entblößte ihre Brüste, fing den Schwall mit den zu einem Kelch geformten Händen auf und verteilte die klebrige Flüssigkeit lachend auf ihrem Busen.

Vanessa fotografierte die Szene, legte den Apparat auf die Kommode und zog sich nackt aus. An ihrem hoch aufgerichteten Glied erkannte ich, dass sie früher ein Mann gewesen war. Jane setzte sich nun breitbeinig auf meinen Schoß und begann, am Reißverschluss der Hose zu fummeln, während Vanessa ihr liebevoll durchs Haar strich. Obwohl meine Augen vom restlichen Organismus getrennt waren, durchflutete eine große Erregung meine Sinne.

Mary verformte sich unversehens in eine Katze, die auf flinken Pfoten die Wand herauflief und mit ausgefahrenen Krallen um meine Augen herumschlich. Vor Schreck war ich wie gelähmt und unfähig, mich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu rühren. Ich erwartete schicksalsergeben ihren Schlag, als sie mit einem Mal röchelte und rücklings auf die harten Fliesen stürzte, auf denen sie wie ein prallgefüllter Sack zerplatzte, und ihre Eingeweide als feuchten Schleim an die Kacheln verspritzte. Ihre beiden Gefährtinnen hatten das sich anbahnende Unglück anfangs nicht mitbekommen und erst aufgrund des dumpfen Knalls bemerkt, da sie durch ihr Liebesspiel zu sehr abgelenkt waren.

»Komm schleunigst wieder runter!«, herrschte Vanessa mich an. »Wer von uns hat dir erlaubt, dich von deinem Körper zu entfernen?«

Meine Augen segelten langsam nach unten und glitten in die leerstehenden Höhlen hinein.

Jane schrie: »Er ist gleich soweit.«

Vanessa öffnete mit der Zunge meine angstbebenden Lippen, und die vier Spinnen marschierten in Reih und Glied aus dem staubtrockenen Rachen heraus. Jane fing sie nacheinander ein, küsste die behaarten Panzer, warf ihnen Koseworte zu und verfrachtete sie zurück in die Metalldose. Zum Abschied versetzte sie mir einen schmerzhaften Kinnhaken.
»Weil du uns nicht gehorcht hast.«

Von der Folterkammer auf die Müllkippe

Meine Wangen brannten. Wo war ich? Wer stand da alles vor mir? Im gleißenden Tageslicht erkannte ich eine blonde Ärztin, die gerade den Platz frei machte für zwei hagere Polizisten, die mich mit sorgenvoller Miene betrachteten. »Sir, können Sie aufstehen?«
»Kann meine Beine kaum spüren. Werd’s versuchen.«
»Ganz behutsam. Lassen Sie sich Zeit. Wir haben es nicht eilig.«
»Was ist denn los, Officer?«

»Ist er vernehmungsfähig?«, hörte ich den älteren Cop die Ärztin fragen.
»Im Augenblick nur stark eingeschränkt. Vermute, dass er mindestens zwölf Stunden bewusstlos auf dem Rücksitz lag.«
»Können wir ihn mit aufs Revier nehmen?«
»Auf keinen Fall. Wir transportieren ihn ins Krankenhaus und führen einige Untersuchungen durch. Der Mann wird frühestens in drei Tagen wieder auf den Beinen sein.«
»Geschlossene Abteilung? Damit er nicht abhaut. Man weiß es ja nie.«
»Natürlich.«

Die Sanitäter hievten mich in die Höhe und befreiten mich vom Klebeband, mit dem meine Arme hinter dem Rücken gefesselt waren. Endlich konnte ich die tauben Hände wieder bewegen und rieb mir die wundgescheuerten Ellbogen.

»Kannst du dir einen Reim auf die Geschichte machen, Bob?«, erkundigte sich der jüngere Kollege.
»Noch nicht so richtig. Der Kerl ist seit vergangener Woche als vermisst gemeldet. Arbeitet als Wächter in einer Spezialeinheit im Staatsgefängnis von Ely.«
»Was bedeutet das?«
»Er führt die Exekutionen durch. Meldet sich sogar freiwillig für den Job.«
»Glaubst du, die drei Ladies wollten ….?«
»… ihm eine Lektion erteilen? Da verwette ich meinen Arsch drauf, Charlie. Er hat die beiden Verlobten der zwei Frauen und den Freund der Transe ins Jenseits befördert.«

»Was ist dann passiert?«
»Sie haben ihn in einem Striplokal, in dem er Dauerkunde ist, abgepasst, vollgefüllt, zu sich nach Hause abgeschleppt und dort gefoltert.
Zwischendurch kam es wohl zu einem Gerangel, in dessen Verlauf er eine der Kidnapperinnen erstochen hat. Zu guter Letzt haben die beiden anderen ihn halbtot hierher auf die stillgelegte Müllkippe gefahren, um ihn auf dem Rücksitz bei lebendigem Leib verfaulen zu lassen.«

»Hat sie da drüben uns das alles erzählt, Bob?«
»Jap; die Transe spürte plötzlich ein schlechtes Gewissen und hat uns den Tipp gegeben. Im letzten Moment, denn ein, zwei Stunden später hätten ihn die Spinnen im Auto sicherlich komplett aufgefressen.«
»Ist ja unappetitlich.«
»Da sag’ste was. Manchmal nicht angenehm, ein Bulle zu sein.«

Krankenschwester Nr. 3 gibt es wirklich

»Hat einer von den beiden Gentlemen vielleicht mal Feuer für mich?« Eine mir wohlvertraute Stimme erklang unvermittelt hinter meinem Rücken. War das etwa? Doch: Vanessa stand überraschend neben dem Polizeiwagen und winkte mir zu. Während ich sie raubtierartig in der Absicht ansprang, ihr die Kehle umzudrehen, hängten sich Bob und Charly gleichzeitig an meine Arme und warfen mich auf den schimmligen Boden.

»Komm zur Vernunft, Hank. Das bringt alles nichts«, sprach Bob in beruhigendem Ton, während er auf meiner Brust thronte.

Vanessa tippelte indessen hüftschwingend heran und setzte mir den rasierklingenscharfen Absatz ihres linken Stilettos ins Genick. »Du bist ein undankbarer, alter Mann«, flötete sie. »Warum habe ich dich eigentlich nicht bereits gestern umgebracht?«
»Weil du eben eine blöde Krankenschwester bist, die noch nicht einmal Gift richtig injizieren kann«, röchelte ich und bemerkte, wie mir einige rote Ameisen unter das zerrissene Hemd huschten.
»Dachte ich mir’s schon, dass ich was falsch gemacht habe. Zu ärgerlich, dass du Fettklops unsere Behandlung überlebt hast. Selbst die Vogelspinnen haben sich vor dir Dreckskerl geekelt. Du warst schlichtweg nicht zu töten. Echt ärgerlich.«

»Miss, besser Sie sagen jetzt nichts mehr. Reden Sie erst weiter, wenn Ihr Anwalt dabei ist. Ansonsten bringen Sie sich mit Ihrem Gequatsche noch ins Teufels Küche.« Der jüngere Bulle hielt dem Miststück die Hand vor den Mund. Der hatte anscheinend einen Narren an dem Luder gefressen.
»Das ist lieb von Ihnen, Officer, dass Sie mich auf meine Rechte aufmerksam machen. Ich würde mich gerne bei Ihnen revanchieren. Hätten Sie Lust, mich nachher auf einen Drink einzuladen?« Charly glotzte verlegen auf Vanessas falsche Brüste. Warte ab, bis du auf ihrem Behandlungsstuhl Platz nehmen darfst, überlegte ich bitter.

Weitere Berufsausübung = ungewiss

»Ob ihm klar ist, dass ihm einige Körperteile fehlen?« Der Hilfssheriff kratzte sich verlegen an der Schläfe.
»Keine Ahnung. Ich möchte es ihm auf jeden Fall nicht heute beibringen müssen. Dafür sind gottseidank die Ärzte zuständig«, antwortete sein Chef und räusperte sich dabei mehrmals.

Mit den zwei übriggebliebenen Fingern der rechten Hand fuhr ich mir reflexartig übers Gesicht. Dort, wo bis vor wenigen Tagen noch mein rechtes Auge gesessen hatte, klaffte jetzt ein blutverkrustetes Loch.

»Auf den ekligen Anblick lade ich dich nach Dienstschluss auf einen Tequila ein, Bob.«
»Hervorragende Idee, Charly. Ne halbe Flasche wird‘s aber werden nach dieser Gruselshow. Hoffe, du hast genügend Kohle dabei.«
»Die nette Lady kommt mit aufs Revier; oder?«
»Natürlich. Was denkst du denn, Charly?«
»Dann lass sie mich am Anfang alleine durch den Wolf drehen, Bob. Könnte mir vorstellen, dass das Vögelchen nach meiner Spezialbehandlung singen wird.«
Vanessa leckte mit der Zungenspitze über ihre aufgespritzten Lippen und signalisierte dem Greenhorn Charly, dass sie an diesem Abend für alles bereit sei. »Fahrt beide zur Hölle!«, fluchte ich.

Ich werde meinen Job nie mehr ausführen können, ging es mir durch den Kopf, während mich die Sanitäter in den Rettungswagen begleiteten. Und ich hätte Vanessa und Jane nur allzu gerne die Giftspritzen in die niveaglänzenden Venen gejagt.

Bild von Jazella auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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