Die letzte Runde

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Mein Kumpel Charly steht plötzlich vor der Tür, erzählt mir erst was von Abstinenz, um mich dann nach Wodka zu fragen und mir nach dem zweiten Glas zu eröffnen, dass die Chemo bei ihm nicht angeschlagen hat.

Wer klingelt jetzt? Ich erwarte niemanden. Bloß keiner vom Inkassobüro oder gar ein Gerichtsvollzieher!
Vorsichtig näherte ich mich der Tür. Leicht angenervt. Man wusste ja nie, welche unangenehme Überraschung einen draußen im Flur erwartete. Vielleicht war es aber auch mein Nachbar Marko, der nach einem Kaffee fragen wollte. Ich öffnete.

»Hi Henning, lange nicht mehr gesehen. Erkennst du mich noch?«
Ich musste zweimal hinschauen, um den Typen richtig einzusortieren. Dann fiel bei mir endlich der Groschen.
»Natürlich, Charly. Was treibt dich in meine Gegend?«
»Ich kam zufällig vorbei und da wollte ich einfach hallo sagen. Habe vor ein paar Stunden schon mal geläutet. Aber da hast du nicht aufgemacht.«
»Du bist zum zweiten Mal heute in meinem Stadtviertel? Ich war vorhin beim Sport. Sorry.« Mein in dutzenden von Klinikaufenthalten gewachsenes Misstrauen war sofort geweckt. Was wollte Charly von mir?
»Kann ich mich bei dir aufwärmen?«
»Gerne.«
»Siehst gut aus, Henning. Hast zugenommen. Beim letzten Mal ähneltest du ja mehr einem Zombie als einem Menschen.«
»Da ging’s mir auch nicht super. Kam gerade von der Intensivstation.«
»Und konntest nur mit einem von diesen Rollwagen durch die Gänge kurven.«
»Erinnere mich nur nicht dran. Habe ich alles verdrängt.«
»Ist manchmal besser.«

Unerwarteter Besuch vom heiteren Mitpatienten

Ich kannte Charly von früheren Aufenthalten in der Entzugsklinik. Wir waren in etwa ein Alter. Da wir uns gut verstanden, legten uns die Pfleger zumeist in ein Zimmer. Er war einer von der heiteren Fraktion. Jammerte nicht großartig über sein Schicksal, erzählte keine Geschichten über eine verkorkste Kindheit oder die boshafte Ehefrau, die ihn durch ihre Herzenskälte in den Suff getrieben hatte. All diese verlogenen und stinklangweiligen Stories, die man sich im Raucherzimmer anhören musste. Charly erklärte: »Ich saufe und kiffe seit meiner Jugend. Zwischendurch war ich auf Schore. Damit habe ich im Alter aufgehört. Mit dem Alkohol leider nicht. Deshalb bin ich hier.« Seine schnörkellose Argumentation gefiel mir. Im Lauf der Monate, in denen wir uns immer mal wieder in derselben Station trafen, freundeten wir uns ein wenig miteinander an.

Charly war – sobald er den schlimmsten Entzug hinter sich gebracht hatte – einer von der besonders quirligen Sorte. Wäre er später auf die Welt gekommen, hätte man bei ihm vermutlich ADHS diagnostiziert. In den Sechzigern war das noch kein Thema gewesen. Da schickten einen die Eltern in einen Sportverein, damit man sich dort ordentlich verausgabte und abreagierte. Charly war auch sehr durchtrainiert. Sehniger Körper. Kein Gramm Fett. Lief Marathon. Konnte an einem Tag mit dem Rennrad quer durch die Republik fahren. Praktizierte Free Climbing und hatte den zweiten oder dritten Dan in Taekwondo. Er hätte es in der Vergangenheit sicherlich zu der ein oder anderen Medaille bei einer Meisterschaft gebracht, wenn ihm nicht die Drogen immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten.

Er war überzeugter Frühaufsteher. Um sechs Uhr dreißig, wenn ich gerade mal schlaftrunken nach der ersten Tasse Kaffee fahndete, lief er bereits splitternackt durch unseren Schlafraum, hatte WDR4 auf volle Lautstärke geschaltet und nahm aktiv an einem Aerobicprogramm teil. Und sang die Lieder aus voller Brust lautstark mit. Ab und an beschlich mich die Vermutung, dass sie uns beide deshalb in ein Zimmer steckten, weil ich als einziger mit Charlys überdrehter Art halbwegs klar kam. Er revanchierte sich mit Süßigkeiten, oder indem er mich im Rollstuhl durch die Klinik fuhr. Eine Hand wusch die andere. Diese überlebenswichtige Lektion hatten wir Suchtpatienten alle verstanden. Als ich Charly das letzte Mal gesehen hatte, war er gerade von seiner Freundin verlassen worden. Das musste ihm nahegegangen sein. Er ließ sich aber nichts anmerken und sagte trotzig: »Sobald ich hier rauskomme, suche ich mir die Nächste.« So, wie er in diesem Moment aussah, war das eine gewagte Behauptung. Ich nickte und antwortete: »Neues Spiel
… neues Glück.«

Aus der Suchtklinik direkt in die Chemo

Und nun saß Charly mir gegenüber an meinem Küchentisch und sah elend aus. Blass, Fünftagesbart, schwarze Ringe um die Augen, glasige Pupillen. Eines von diesen Inka-Häkelteilen tief über die Ohren ins Gesicht gezogen.
»Kann ich einen Kaffee haben? Wenn’s geht sehr stark. Ich kann mir das Pulver aber auch nachträglich reinrühren.«
»Mache ich dir. Milch und Zucker?«
»Beides. Und viel Zucker. Ich mag es süß.«
»Ist dir kalt? Soll ich die Heizung weiter aufdrehen? Dann kannst du dir Mütze und Handschuhe ausziehen.«
»Henning, bist du im Moment stabil?«
»Ich hoffe. Warum fragst du?«

Charly nahm die Strickhaube ab. Dort, wo ich beim letzten Treffen noch schulterlange Haare, die er häufig zu einem Zopf zusammengeknotete, erblickt hatte, starrte ich nun erschrocken auf winzige schwarze Stoppeln, die über seine weiße Kopfhaut verstreut lagen.
»Hast du eine Chemo hinter dir?«
»Ja.«
»Was für ein Krebs?«
»Begann mit einem Hirntumor.«
»Wie hast du den bemerkt?«
»Ich hatte wochenlang Druck auf dem rechten Ohr, und mein Gleichgewichtssinn war gestört. Daraufhin bin ich zum Arzt, um mich durchchecken zu lassen. Der hat das Geschwür hinten links in meinem Schädel entdeckt.«
»Hat die Behandlung geholfen?«
»Nicht richtig. Es hatten sich bereits Metastasen gebildet.«
»Klingt übel. Und nun?«
»Morgen gehe ich wieder ins Krankenhaus. Sie werden mich noch einmal operieren.«

Wir schwiegen für eine Weile, versteckt hinter unseren Kaffeetassen.
»Henning, kann ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Nur zu.«
»Hast du was zu trinken im Haus?«
»Ne. Ich bin seit dem letzten Entzug sauber. Aber du brauchst was; oder?«
»Ja. Seit zwei Wochen konsumiere ich wieder. Vorhin schon eine Flasche Cognac. Hast du gar nicht bemerkt.«
»Ein bisschen schon. Du redest langsam und hast komische Augen.«
»Aber sonst halte ich mich doch wacker?«
»Du bist halt ein geübter Alki. So schnell haut dich der Stoff nicht um. Ich werd‘ dir was besorgen. Warte hier.«
»Das ist nett von Dir, Henning. Willst du mal so ein Geschwür sehen? Ich habe eins in der Leistengegend.«
»Untersteh dich. Sonst brauche ich nachher auch noch Schnaps. Habe ich keinen Bock drauf.«

Im Laden an der Ecke kaufte ich zwei Flaschen Wodka. Die mussten für heute reichen. Mehr würde auch Charly nicht packen. Als ich zurückkam, hatte er die Küche geputzt und die Spülmaschine ausgeräumt. Er war ein feiner Kerl.
»Macht dir das was aus, wenn ich vor deinen Augen saufe, Henning?«
»Ist okay. Bei Schnaps kann ich zusehen. Ist nicht so meins.«
»Stimmt, du bist ja so ein verdammter Bierjunkie . Ich erinnere mich.«
»Wann gehst du in die Klinik? «
»Morgen. «
»Dann trink, so viel du möchtest, Charly. Würde ich an deiner Stelle genauso machen. «

Einsamer Tod eines noch gar nicht so alten Säufers

Fünf Tage später. Christophorus Krankenhaus.
Neurochirurgische Abteilung. Ein Dreibettzimmer.
»Schwester, können Sie mir sagen, wo ich Herrn Kutschera finden kann? Das ist doch sein Zimmer; oder?«
»Sie sind mit ihm verwandt?«
»Ein Bekannter von ihm.«
»Ihren Freund können Sie leider nicht mehr besuchen.«
»Warum nicht?«
»Er hat die gestrige Nacht nicht überlebt.«
»Oh verdammt.«
»Kennen Sie seine Angehörigen?«
»Keine Ahnung. In der Stadt leben wohl Geschwister von ihm.«
»Wir können seit Tagen niemanden erreichen.«
»Ist er zum Schluss alleine gewesen?«
»Ja. Es war niemand bei ihm.«
»Der Ärmste. Na dann, auf Wiedersehen.«

Und so war Charly den einsamen Tod eines noch gar nicht so alten Säufers gestorben. Manchmal besser, als es in schlechter Gesellschaft zu tun.

Bild von Hans Braxmeier auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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