Geschichte vom Rotweintrinker, der im Raucherraum gerne aus der Göttlichen Komödie zitierte und als einziger von uns Patienten wusste, dass die Klinik noch eine Geheimstation unterhielt, zu der nur Milliardäre Zutritt hatten.
»Hast du gesehen, dass Dante wieder bei uns ist, Henning?«
»Den haben sie vorhin mehr tot als lebendig hier reingeschleppt. Hab’s mitbekommen, Rolf.«
»Er lag betrunken im Eingangsbereich der Klinik.«
»So was kommt schon mal vor.«
»Hoffe, dass er rasch auf die Beine kommt. Er sah gar nicht gut aus dieses Mal.«
»Wir berappeln uns doch alle spätestens am dritten Tag.«
»Er hatte dreieinhalb Promille.«
»Da hat er Schwein gehabt. Ab vier schicken sie dich erst Mal in die Intensivstation.«
Dante war einer aus der Rotweinfraktion. Nicht so ein elender Wodka-, Doppelkorn- oder Biersäufer wie wir anderen. Nein, er trank ausschließlich Merlot, Cabernet Sauvignon oder Pinot Noir. Notfalls auch einen Dornfelder. Er war angeblich ein Genussmensch. Wenn ich ihn in seinen elenden Zuständen bei den Einlieferungen sah, dann wurde mir bewusst, dass die Grenze zwischen Vergnügen und Sucht fließend war. Ob ich mir nun wie Rolf zwei Pullen Schnaps vom Aldi durch die Gurgel jagte, oder mir stattdessen sechs Flaschen Valpolicella genehmigte; es lief nach spätestens zwei Wochen auf dasselbe Ergebnis hinaus: nämlich den klinischen Entzug. Seinen Spitznamen hatte Dante schon vor langer Zeit erhalten, weil er gerne aus der Göttlichen Komödie rezitierte. Zudem war er Liebhaber italienischer Opern. Früher hatte er mit dem Verkauf und der Restaurierung alter Möbel gutes Geld verdient. Louis XVI, Biedermeier, schelllackpolierte Kommoden, Kirschbaumstühle und all so ein Zeug.
Unnötig zu sagen, dass er und Rolf dicke Kumpels waren. Zumindest, wenn sie sich in der geschlossenen Abteilung trafen. Da gab’s dann jedes Mal neapolitanische Begrüßungsszenen. Sobald die beiden wieder halbwegs klar in der Birne wurden und die Sprachzentren Fahrt aufnahmen, jagte ein geistreiches Bonmot das andere. Ich verzog mich bisweilen in die Leseecke und studierte den Kicker.
Rolf sorgt sich um seinen Kumpel Dante
»Dante sah ziemlich runtergekommen aus, Henning.«
»Die besten Zeiten hat er halt hinter sich, Rolf.«
»René hat erzählt, dass er ihn beim Durchstöbern von Papierkörben gesehen hat. Auf der Suche nach Pfandflaschen.«
»Rotwein ist teuer. Da wird seine Rente nicht für ausreichen.«
»Mach du nur blöde Witze. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn.«
»Tja, ist nicht einfach, geeignete Gesprächspartner in dieser Umgebung zu finden.«
Am Tag darauf. 13.25. Nach dem Mittagessen.
»Hallo Henning. Lange nicht mehr gesehen.«
»Ist circa vier Wochen her das letzte Mal, Dante.«
»So elend wie bei dieser Entgiftung habe ich mich noch nie gefühlt.«
»Das ist am zweiten Tag nichts Besonderes. Morgen wird es dir besser gehen.«
»Das ist einfach nicht das richtige Krankenhaus für mich. Ich weiß nicht, weshalb sie mich immer wieder hierher bringen.«
Dante hatte seinen gesellschaftlichen Absturz nie so richtig verdaut. Sein Geschäft mit den billig bei Hausauflösungen und in Osteuropa eingesammelten Tischen und Schränken, die er in seiner Schreinerei renovierte und dann sündhaft teuer im Ladenlokal seiner Freundin verkaufte, war in den Achtzigern hervorragend gelaufen. Die Frauen aus den sogenannten besseren Kreisen rannten ihm die Bude ein. Zeitweilig beschäftigte er bis zu zehn Restauratoren, die aus vier verrotteten einen neuen Sekretär zusammenbastelten. Sobald ein Möbelstück dreißig Prozent alte Teile aufwies, wurde es als antik deklariert. Da seine Kundschaft aus Laien bestand, fragte auch niemand nach, wie diese wundersame Vermehrung von Rokokomöbeln zustande kam.
Dante lebte auf großem Fuß. Dicke Villa, schöne Autos, Schmuck, teure Reisen. Alles vom Feinsten. Als Ende der Neunziger das große Sparen begann, verringerte sich sein Umsatz innerhalb eines Jahres schlagartig um achtzig Prozent. Dann folgte das Übliche: Geschäft schließen, Insolvenz, Haus weg, Bentley gegen Golf2 eintauschen, Schmuck verpfänden. Steuernachforderungen im sechsstelligen Bereich zwangen ihn endgültig in die Knie. Aus zwei Flaschen teurem Wein wurden nach einiger Zeit sechs Pullen billiger Fusel. Zwar noch kein Tetra Pack, aber preiswerte Marken von Lidl und Netto.
Dantes Traum von der Privatklinik mit Turbo-Entgiftung
»Wo möchtest du denn stattdessen hin, Dante?«
»Es gibt hervorragende Privatkliniken in Bayern und in der Schweiz.«
»Und was machen die dort anders?«
»Die versetzen dich in ein künstliches Koma und wechseln dein Blut aus.«
»Das ist aber eine kostspielige Sache; oder?«
»Das würde ich mir den Spaß kosten lassen. Aber ich werde ja immer wieder hier eingeliefert.«
»Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.«
»Hast du gehört, dass sie in diesem Krankenhaus eine Geheimstation unterhalten, Henning?«
»Höre ich zum ersten Mal. Wo soll die sein?«
»Im sechsten Stock.«
»Hier gibt’s nur fünf Etagen.«
»So wird es nach außen hin dargestellt. Weil sie es eben streng vertraulich handhaben. Ist eine strikt abgetrennte Abteilung, die nur für VIPs offensteht. Die verfügen über einen extra Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.«
»Aha. Und da bieten sie die Bluttransfusionen und all den Schnickschnack an?«
»Du hast es erfasst, Henning. Dort wollte ich dieses Mal auch hin. Hatte aber meine Kreditkarte zu Hause vergessen. Deshalb musste ich notgedrungen in die Geschlossene.«
»Manchmal läuft’s halt dumm, Dante. Aber hier entgiften sie uns ja auch.«
17.35. Im Raucherzimmer.
»Was für einen Eindruck macht Dante auf dich, Henning?«
»Scheint noch etwas verwirrt zu sein, Rolf.«
»Den hat’s anscheinend übel erwischt.«
»Er betreibt das Rein-Rausspiel in der Klinik jetzt aber auch schon seit vielen Jahren. Irgendwann, wenn du Pech hast, sind halt die Gehirnzellen dran. Ist doch vor kurzem Joe, dem pensionierten Hells Angel passiert.«
»Der Terminator mit der Skorpiontätowierung am Hals?«
»Exakt der. Konnte von einem Entzug zum nächsten nicht mehr laufen und sprechen. Sitzt mit fünfzig im Rollstuhl, sabbert und muss gefüttert werden.«
»Ich höre auf mit der Sauferei. Melde mich morgen fürs Antabusprogramm.«
»Tu das, Rolf. Erzählst du mir zum Minimum zwanzigsten Mal.«
19.05. Nach dem Abendessen.
»Hallo Henning. Bist du auch wieder hier?«
»Roswitha, hast du deinen Mann besucht?«
»Ja, habe ihm was zum Essen gebracht: Antipasti vom Italiener, Cannelloni mit Spinatfüllung und ein Stück Apfeltorte. Du weißt doch, dass er die Krankenhausküche ablehnt.«
»Vornehm geht die Welt zugrunde. Fehlt noch eine Flasche Montepulciano fürs rundum gelungene Dinner.«
Die treusorgende Lebenspartnerin
Roswitha war Dantes Lebenspartnerin. Seit knapp dreißig Jahren. Nicht seine Ehefrau. Auf diese Unterscheidung legte er stets großen Wert. Die hatte mit ihm viel mitgemacht. Ihm auch nach dem Bankrott weiterhin die Stange gehalten. Nicht die Nummer abgezogen: »Du bist ein netter Kerl. Aber ich bin jetzt mal weg.« Sie war stets die Vernünftige in der Beziehung gewesen: Lebensversicherung, Bausparverträge, Konten in der Schweiz und in Luxemburg. War alles futsch. Die Gerichtsvollzieher hatten hart zugeschlagen. Und selbst in diesen schweren Jahren der Alkoholexzesse blieb sie bei ihm. In meinen Augen war das Liebe.
»Das ist Dantes letzter Aufenthalt in dieser Station.«
»Habt ihr endlich eine Schweizer Kurklinik ausfindig gemacht?«
»Mach keine Witze, Henning. Sie werden ihn nach der Entgiftung direkt von hier aus in ein Pflegeheim überstellen. Es geht so nicht mehr weiter. Er kann kaum noch laufen. Vergisst alles. Vor einigen Tagen hat er vom Kiosk nicht mehr nach Hause zurückgefunden.«»Weiß er das schon?«
»Ja, seit zwei Wochen. Er will es aber partout nicht wahrhaben. Er tut mir auch furchtbar leid. Aber, was soll ich machen? Seine Bauchspeicheldrüse ist auch schon im Eimer. Alleine packe ich das nicht mehr.«
»Roswitha, du hast alles richtig gemacht. Dante hat mit dir echt Glück gehabt.«
So langsam dezimierte sich die Hardcorefraktion. Die einen wurden zu irreparablen Pflegefällen, die anderen starben auf Parkbänken oder in den Intensivstationen. Übrig waren noch Rolf, René und ich.
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