Die explosive Kirschtorte (2)

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In Teil 2 muss ich auf dem heißen Stuhl Platz nehmen, und Kalle lässt uns wissen, dass er mit Schwarzwälder Kirschtorte und abends ner Pulle Bier kein Problem hat.

Typen wie Kalle tauchten alle Nase lang in unserer Gruppe auf. Quatschten viel belangloses Zeug, jammerten über die Ungerechtigkeit der Welt, vor allem wenn diese sich gegen ihre eigene Person richtete, führten hundert Gründe für ihr momentanes Trinkverhalten an; suchten die Ursache ihrer Sucht jedoch nie bei sich selbst, sondern stets bei anderen. Die Mutter hatte ihnen in der Kindheit zu wenig Liebe geschenkt, die Frau war fremdgegangen, die Kollegen am Arbeitsplatz mobbten und so weiter und so fort. Auf die eigentlich naheliegende Idee, dass sie in ihrer Jugend mit dem Saufen angefangen, den Konsum von Jahr zu Jahr gesteigert und irgendwann unweigerlich die Schwelle zur körperlichen und emotionalen Abhängigkeit überschritten hatten, kamen sie gar nicht. Diese Sorte von Teilnehmern blieb erfahrungsgemäß nicht lange bei der Stange. Nach einigen Wochen wurde ihnen das Spiel zu blöde, niemand von uns verstand sie, wir behandelten sie entweder zu streng oder mit zu wenig Fingerspitzengefühl, und von einem auf den anderen Tag verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen.

»Sobald der mit seinem Zwangsprogramm durch ist, schluckt er eh wieder«, raunte ich Rolf zu.
»Wenn er das bis zum Ende durchhält. Allmählich werden die Fragen an seine Adresse unangenehmer. Glaube nicht, dass Kalle das noch lange mitmacht«, grinste mein Bekannter und öffnete die vierte Flasche Cola, weil es die heute Abend umsonst gab.

Jetzt muss ich auf den heißen Stuhl

»Hey Waldorf und Statler, getuschelt wird nicht! … Was hast du auf Lager, Henning?« Regina blickte mich mit strengen, dunkelgrünen Katzenaugen an.

Als du noch getrunken hast, warst du charmanter im Umgang mit deinen Mitmenschen, ging es mir durch den Kopf. Ich verscheuchte jedoch sofort den unangemessenen Gedanken, denn ich wusste, dass Reginas nächster Schluck mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr letzter werden würde.

»Bei mir gibt es nichts Besonderes zu berichten«, begann ich meinen Vortrag. »Ich schlage mich mit Gelegenheitsjobs und Hilfsarbeiten durch und verdiene damit so viel, dass ich ein bescheidenes Leben führen kann. Sind natürlich alles sogenannte freiberufliche Tätigkeiten. Ich darf also nie fehlen oder gar länger krank werden. Weil die Blutsauger in diesen Fällen nicht zahlen. Hin und wieder schlafe ich schlecht, wenn ich an die mangelhafte Absicherung im Alter denke. Dann male ich mir aus, ich werde demnächst einen 6-er im Lotto erzielen, drehe mich beruhigt auf die andere Seite und penne wieder ein.«

»Der gute Henning verfügte schon immer über ein sonniges Gemüt«, grinste Rolf, während er eine alte Mandarine, die hier seit der letzten Weihnachtsfeier auf einem bunten Plastikteller vor sich hingammelte, in ihre Einzelteile filetierte. Für ihn, der zehn Jahre mehr als ich auf dem Buckel hatte, stellte sich das Problem der Armutsrente viel drängender dar als für mich. Da er aber früher – bevor er Kanzlei, Haus und Familie versoff – als renommierter Wirtschaftsanwalt sein Geld verdiente, war er heute zu stolz, seine Probleme offen in der Gruppe anzusprechen. Mir hatte er bei unseren gemeinsamen Klinikaufenthalten ab und an sein Leid geklagt, weshalb ich über die stets klammen Finanzen bei ihm im Bilde war.

»Du spielst doch gar kein Lotto, wenn ich mich richtig erinnere, Henning.« Der stille Lars hörte seit Jahren geduldig zu, beobachtete mit seinen wieselflinken Augen jede Bewegung im Raum und verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Ich werde ja manchmal noch träumen dürfen«, grinste ich. »Du hast aber vollkommen recht. Auf die neunundvierzig Kugeln setze ich nicht. Die Chance, damit auch nur hundert Euro zu gewinnen, ist einfach zu klein. Dann lasse ich es lieber ganz bleiben.«
»Aber Fußballwetten schließt du ab?« Lars vergaß wirklich nichts. Das hatte ich ihm vor Jahren mal im Raucherzimmer der Klinik erzählt, als wir dort gemeinsam entgifteten.
»Korrekt. Hin und wieder. Ist letzten Endes ein Nullsummenspiel. Das, was du ausbezahlt bekommst, investierst man wieder. Mehr ein Zeitvertreib als eine seriöse Investition.«
»Und Backgammon zockst du weiterhin?« So langsam entwickelte sich die Unterhaltung zu einem nervigen Frage-Antwort-Spiel.
»Tue ich«, erwiderte ich deshalb einsilbig.

»Um Geld?« Lothar, ein Endvierziger mit tausend Schuppen auf den Schultern und gelben Zähnen, der nach dem zwanzigsten Rückfall seit nunmehr fünf Wochen trocken war – allerdings die Gruppe seit vielen Jahren besuchte – wollte sich ebenfalls an dem Kreuzverhör beteiligen. Denn es war natürlich angenehmer, einen anderen ins Gebet zu nehmen, als sich selbst zu offenbaren.
»Natürlich um Kohle. Sonst macht mir die Sache keinen Spaß.«
»Spielsüchtig bist du aber nicht, Henning?«
»Nein!! Noch nie gewesen.«
»Bleib cool«, murmelte Rolf, stand kurz auf, um zum Fensterbrett zu spazieren und kehrte von dort mit einer angebrochenen Tüte billiger Paprikachips zurück.

»Was ist mit Saufdruck?«

»Was ist mit Saufdruck, Henning?«, wollte Angelika von mir wissen, die wie viele Rothaarige über einen ultrablassen Hautton verfügte und in den Sommermonaten aus Angst vor einem an jeder Ecke lauernden Melanom das Haus nicht verließ, weshalb sie von Mitte Juni bis Ende August nicht an unseren Treffen teilnahm.
»Hin und wieder abends. Aber nicht mehr so stark wie früher. Auch an das Nicht-Trinken kann man sich gewöhnen.«
»Und was tust du, wenn dich der Zwang überkommt?«
»Ich setze mich in mein Arbeitszimmer und schreibe.«
»Du rufst keinen von uns an oder hältst dich an die Regeln des Notfallkoffers?« Lothar schüttelte fassungslos den Kopf.
»Nein, ich bringe Texte zu Papier, und das reicht mir.«
»Ich habe das Gefühl, dass du die Sache nicht ernst nimmst, Henning.« Damit hatte Lothar, den ich ohnehin nicht leiden konnte, den Bogen überspannt.
»Kümmere dich um deine eigene Abstinenz und geh mir nicht auf den Zeiger mit solch bescheuerten Moralpredigten! Soll jeder auf sich selbst aufpassen. Damit hast du genug zu tun. Wie ich es schaffe, trocken zu bleiben, ist meine Sache. Hauptsache, es funktioniert«, blaffte ich zurück.

Ich hatte mir im Laufe meiner Säuferkarriere eine etwas ruppige Art angewöhnt. Hinter der rauen Fassade verbarg sich jedoch ein empfindsamer Kern, von dem ich aber nicht wollte, dass ihn jeder zu sehen bekam. Ich befand mich nun im dritten Jahr der alkoholischen Enthaltsamkeit , die ich mir nach dutzenden Klinikaufenthalten jeden Tag aufs Neue mühsam erkämpfte. Seit dem Aufwachen aus meinem letzten Totalabsturz, der mich um Haaresbreite ins Jenseits befördert hatte, mied ich Bier, Wein und Schnaps wie der Teufel das Weihwasser zu und verspürte Null Lust, mir von selbsternannten Pharisäern erklären zu lassen, wie ich es ihrer Meinung nach besser bewerkstelligen könnte. Lothar schnappte beleidigt nach Luft, schwieg aber.

Regina lächelte katzenartig, weil sie mir insgeheim recht gab, tadelte mich allerdings trotzdem: »Henning, sei nett zu Lothar! Er meint es nur gut mit dir.«

Ewiges Reizthema: Alkohol in Lebensmitteln

»Lothar ist ein stadtbekannter Trinker. Der kann einem sicher die weisesten Ratschläge erteilen, wie man einen Rückfall vermeidet«, ergänzte Rolf trocken. Er war der Erfahrenste von uns. Ihm konnte in Punkto Saufen keiner ein X für ein U vormachen. All seine Klugheit, die er anderen gegenüber mitunter gerne demonstrierte, bewahrte ihn jedoch nicht davor, im Rhythmus von sechs Monaten heftig zuzuschlagen und sich im Anschluss auf der Intensivstation wiederzufinden. Manchmal mutmaßte ich, dass es gerade seine Intelligenz war, die ihm immer wieder ein Bein stellte. Denn er glaubte nach wie vor daran, dass er die Sucht überlisten konnte. Und so experimentierte er heimlich in seinen vier Wänden weiterhin mit Schnaps, denn mit Bier gab er sich gar nicht erst ab. »Da kann ich auch Limonade saufen«, pflegte er zu sagen, wenn wir über unsere unterschiedlichen Trinkgewohnheiten nachdachten. Das würde er garantiert niemals in unserem Zirkel diskutieren wollen. So schlau war er dann doch. Als altgedienter Fahrensmann wusste er natürlich, dass er in diesem Fall ordentlich Contra von der Gruppe bekommen würde. So sportlich wie er sich nach außen hin generierte, war Rolf bei weitem nicht. Er würde sich niemals freiwillig auf den heißen Stuhl setzen und dort Rede und Antwort stehen. Diese unangenehme Aufgabe überließ er bereitwillig den anderen.

»Lasst uns zügig weitermachen«, Regina klatschte in die Hände. »Ich will das heute Abend nicht wie ein Kaffeekränzchen in die Länge ziehen.«
»Apropos Kaffeekränzchen – ich habe mir gestern ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte gegönnt.«

In Teil 3 kommt’s zu einer Explosion von Kalle und ich falle aus allen Wolken, als ich sehe, was sich Rolf in der Bahnhofskneipe bestellt.

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Bild von ernie auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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