Sauf nicht auf Antabus!

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Weshalb mein Kumpel Rolf besser nicht mit Antabus experimentiert hätte. 

Ich war seit einer Woche in der Klinik. Mit dem Programm nahezu durch. Noch ein paar Tabletten und dann konnte ich in zwei Tagen entlassen werden. Mein unbeherrschbarer Freiheitsdrang machte sich seit gestern bemerkbar. Ich wollte raus und mich wieder unter normale Menschen mischen. Dieses Mal waren zahlreiche neue Patienten in der Station. Viele davon aus Russland. Einige davon sprachen kein einziges Wort in unserer Sprache. Hatten aber interessanterweise alle deutsch klingende Nachnamen. Wenn ich sie fragte, woher sie stammten, antworteten sie unisono: »Kasachstan«. Wie auch immer die hierher gelangt waren. Vielleicht ein Partnerkrankenhaus, das die besonders schweren Fälle in unsere Abteilung schickte. So lange ich nicht im Austausch nach Almaty musste, sollte es mir gleich sein.

»Du hast mitbekommen, dass dein Kumpel Rolf seit heute Morgen wieder hier ist?«
»Ja, habe ich.«
»Sah klapprig aus, der Gute.«
»War wohl vorher drei Tage auf der Intensivstation.«
»Wenn er auf Antabus säuft: selbst schuld.«
»Hier bleibt auch nichts länger als zwei Minuten geheim.«
»Rolf hatte uns darüber Vorträge gehalten. Warst du doch dabei, Henning.«
»Ja, er redet manchmal ein bisschen viel.«
»Ist wie oraler Durchfall. Ich steh überhaupt nicht auf das neunmalkluge Gelaber von dem.«
»Du bist halt ein anderer Charakter, Petra
»Du meinst, als Bordellbesitzerin bin ich zu blöde, um seine Ergüsse zu verstehen?«
»Habe ich so nicht gesagt.«
»Du windest dich mal wieder raus. Typisch. Wie ist das eigentlich: wirst du mich dieses Mal besuchen kommen?«
»Bis in die Eifel? Das ist echt weit.«
»Erzähl mir jetzt nicht so einen Schwachsinn. Das sind läppische siebzig Kilometer.«
»Petra, ich bin eher der urbane Typ. Sobald ich die Stadtgrenze überquere, fühle ich mich schlagartig unwohl.«
»Was man nicht alles so für Gründe erfindet, um nicht zu mir fahren zu müssen. Du hast einfach keinen Bock darauf. Gib’s zu und gut ist es.«
»Ich überleg’s mir.«
»Du wirst es nie tun. Hier drinnen bist du super freundlich zu mir. Schläfst deinen Rausch an meiner Schulter aus, schnarchst mir ins Dekolleté hinein; und draußen vergisst du mich innerhalb von fünf Minuten. So bist du eben: flatterhaft und unstet. Wie ein Fisch. Man bekommt dich einfach nicht zu packen. Zu glitschig.«

Rolfs Experimente mit Antabus

12.05. Mittagessen.
»Soll ich dir das Tablett tragen, Rolf? Es wird dir sonst runterfallen.«
»Gerne. Bin noch ziemlich schwach beieinander. Ist ein Platz an deinem Tisch frei?«
»Extra für dich freigehalten.«
»Wer’s glaubt, wird selig. In dieser Station sind die Betten und Stühle heiß umkämpft. Länger als zehn Minuten bleibt hier nichts unbelegt.«

14.25. Raucherzimmer.
»War eine üble Angelegenheit dieses Mal, Henning. Haarscharf am Tod vorbei geschrammt.«
»Ist natürlich auch ein Wahnsinnsexperiment, auf Antabus zu saufen.«
»Wem sagst du das? Wäre beinahe dabei draufgegangen. Kompletter Kreislaufzusammenbruch. Re-Animation. Hing stundenlang alles am seidenen Faden.«
»Rolf, ich will jetzt hier nicht als Klugscheißer daherkommen. Das ist ja eher deine Rolle. Aber das weißt du doch vorher.«
»Was?«
»Wie gefährlich es ist, auf das Dreckszeug zu trinken. Du musst es Minimum eine Woche vorher absetzen, um halbwegs sicher sein zu können. «
»So schlau bin ich auch, du Halbmediziner. Ich hatte aber großen Durst. Was sollte ich tun? Sieben Tage warten?«

»Und dann direkt eine komplette Flasche Doppelkorn. Das ist nahezu ein Selbstmordkommando. Michael hatte es im Sommer mit einem halben Glas Bier probiert. Der hat es nicht mehr von der Küche bis aufs Klo geschafft. Sich komplett vollgeschissen. Hatte er damals auch dir erzählt. Du warst also vorgewarnt.« Rolfs Ader an der linken Schläfe schwoll gefährlich an. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er verärgert war.
»Wie sollen wir es sonst jemals packen, trocken zu werden? Sag du es mir Henning. Der du hier im Vierwochenrhythmus ein- und ausgehst.«
»Ich halte nichts von all diesen Wundermitteln.«
»Weil du Manschetten hast, die zu schlucken?«
»Bin mir unsicher, ob es was mit Feigheit zu tun hat. So lange ich aber den Schalter im Kopf nicht klar in Richtung Abstinenz umlege, werden dir all die Tabletten nichts helfen. Weder Antabus noch Nemexin und Campral oder gar Baclofen. Ich kenne niemanden, der davon dauerhaft clean geworden ist. Von dem Dutzend Teilnehmern am letzten Antabusprogramm mussten elf mit Rettungswagen in die Klinik. Der Zwölfte war so schlau, das Zeug vorher abzusetzen und einige Tage verstreichen zu lassen, bevor er die erste Flasche gekippt hat.«

Antabus: ja oder nein?

»Du willst einfach nichts an deinem Lebenswandel ändern, Henning.«
»Schon, aber nicht mit Medizin, die letztlich nichts bewirkt. Ich hoffe mehr auf eine mentale Veränderung. «
»Henning, du wirst noch als Penner enden.«
»Sind wir das nicht alle bereits, Rolf? Zumindest aus Sicht der Gesellschaft. Viele Freunde und Verwandte von früher sind bei mir nicht übriggeblieben. Die Krankheit macht einsam.«
»Tu, was du willst. Ich werde mir – sobald ich hier raus bin – Antabus sofort wieder verschreiben lassen.«
»Hört sich für mich nach einem Freifahrtschein ins Jenseits an. Rolf, du bist alt genug. Du musst selbst wissen, was das Beste für dich ist.«

Rolf hatte, hierin seelenverwandt mit Dante, seinen sozialen Absturz nie richtig verarbeitet. Obwohl er seit Jahren auf Sozialhilfe angewiesen war, tat er nach außen hin immer noch so, als würde er eine gut florierende Anwaltskanzlei leiten. Wenn er sauer auf mich war – was bei unseren Diskussionen hin und wieder vorkam -, dann warf er mir vor, dass ich mich zu schnell mit meinem Schicksal abgefunden hatte. Er hingegen würde alles Menschenmögliche unternehmen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und bemerkte bisweilen gar nicht, dass diese sich immer enger um seinen Hals zusammenzog.

Mein Weg war ein anderer. Ich wollte gegen den Alkohol gar nicht erst kämpfen. Wozu auch? Das war ein Krieg, der nicht zu gewinnen war. Ich konnte die Krankheit allenfalls stoppen, nicht jedoch besiegen. Mir fiel es auch einfacher als ihm, mich mit den traurigen Gegebenheiten zu arrangieren. Mein Motto lautete: Es werden auch wieder bessere Zeiten folgen. Ich hatte kein Problem damit, an der Schulter einer Puffmutter einzuschlafen, die Rolf auf dem Flur noch nicht einmal gegrüßt hätte. In seinen Augen war das Fatalismus. Mir half meine Philosophie, mich irgendwie durch diese schwierigen Jahre durchzuhangeln ohne dabei in Resignation zu verfallen. Denn das verschwieg Rolf bei all seiner schlauen Argumentation gerne: dass er nämlich ohne eine starke Dosis Antidepressiva gar nicht mehr leben konnte. Ich brauchte diese Tabletten nicht.

Statt Antabus nun der Rollstuhl

16.55. Vor der Blutdruckmessung.
»Ich habe mit der zuständigen Ärztin telefoniert. Sie werden mich nächste Woche wieder ins Programm aufnehmen.«
»Ob das tatsächlich so eine gute Idee ist, Rolf? Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Du erfüllst nur mit äußerster Mühe die körperlichen Minimumvoraussetzungen für Antabus. Ich verstehe überhaupt nicht, dass sie dir das Zeug verschreiben. Lass die Finger weg davon.«
»Du hast dich aufgegeben, Henning. Ich mich noch lange nicht.«
»Rolf, wir sind alle nicht als Alkoholiker geboren worden. Viele von uns haben erfolgreichere Jahre erlebt, bevor sie hier landeten. Du bist nicht der Einzige, der wieder auf die Beine kommen möchte. Die Frage ist aber, ob dieses gefährliche Medikament das richtige für dich ist.«
»Du kannst mich nicht umstimmen.«
»Okay, dann viel Glück bei deinem zweiten Höllenritt!«

Vier Wochen später landete Rolf erneut in der Intensivstation. Seitdem sitzt er im Rollstuhl.

Bild von Steve Buissinne auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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