Endstation Sehnsucht

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Der Schulkumpel, der es auf die harte Tour lernen musste.

Der Schotterweg schlängelte sich in vielen Serpentinen den steilen Berg hinauf. Mein altersschwacher Golf ächzte, bei jedem Schlagloch hörte ich die Federung bedrohlich quietschen. »Gleich fliegen mir die Reifen weg«, überlegte ich missmutig. Was wollte ich hier überhaupt an einem neblig-trüben Novembernachmittag? Ich hatte morgens zwei Interviews in einer mir unbekannten Region durchgeführt und war auf der Rückreise durch ein trostloses Kaff gefahren, dessen Name mir seltsamerweise bekannt vorkam. Ich stoppte an einer Tankstelle, kaufte dort eine Sportzeitung, schaute nach, was mein geliebter FC in Liga 2 momentan veranstaltete und nippte an einem brühheißen Kaffee, der nach Teer schmeckte. Die solariumgegerbte Frau an der Kasse war in jungen Jahren sicher hübsch gewesen. Jetzt ähnelte sie einem Krokodil mit dicken Brüsten. Sie betrachtete mich neugierig. Vermutlich schlugen nicht viele Fremde in diesem öden Nest auf.

»Noch eine Tasse?«, fragte sie, und ich entdeckte auf ihrer Zungenspitze eine kleine, silberne Kugel.
»Nein danke, das Zeug ist zu stark für mich.«
»Soll ich Ihnen einen Cognac reinschütten, um den Sud zu verdünnen?«
»Das ist nett; aber ich habe mir das Trinken gerade abgewöhnt.«
»Schade«, lächelte sie. »Ich hätte Ihnen einen ausgegeben.«
»Was gibt es für Sehenswürdigkeiten in Ihrer Stadt?«, erkundigte ich mich, während ich mir eine Cola Zero aus dem Kühlregal fischte.
»Eigentlich nichts. Eine kleine Kirche, drei Fischteiche und den Swinger Club im Wald. Wahrscheinlich suchen Sie den.«
»Das ist es alles nicht. Vielleicht irre ich mich und verwechsele zwei Orte miteinander.«
Ich legte einen Fünfer auf die Theke und wandte mich zum Gehen.
»Warten Sie kurz. Da fällt mir noch was ein. Oben auf dem Bergrücken liegt St. Marien. Aber das wird Sie sicher nicht interessieren; oder?«
»Doch! Das ist der Name, der mir entfallen war. Wie finde ich dahin?«
»Das ist einfach. Am Ausgangsschild nach rechts abbiegen und dann ein paar Kilometer immer
geradeaus. Können Sie nicht verfehlen.« Sie wischte die Kaffeeflecken vom Stehtisch und starrte mir nach. Während ich darüber nachdachte, ob sich der schlechtbezahlte Job als ambulanter Interviewer für meinen ausbeuterischen Arbeitgeber überhaupt rechnete, versank der Wagen bis zum Kotflügel in einer Kuhle. Einen Augenblick lang befürchtete ich, dass die Karre in der Mitte auseinanderbrechen würde. »Was für eine Bullenscheiße«, fluchte ich leise. Ich zerlegte gerade meinen einzigen Vermögensgegenstand in tausend Teile, nur um zu überprüfen, ob meine Vermutung zutraf. Als ob mich der ADAC hier jemals rausschleppen würde. Ich war ohnehin kein Mitglied. Das ist die Strafe für zu viel Neugier, ging es mir durch den Kopf.

Wie im Knast

Nach zwanzig Minuten stand ich endlich vor einem hässlichen Betongebäude aus den Siebzigern. Drei Stockwerke, vergitterte Fenster, eine Eingangstür, die auch als Safe in einer Schweizer Bank dienen konnte. Ich stellte das Auto auf dem kleinen Parkplatz ab, überquerte den Innenhof und läutete. »Ja bitte«, meldete sich eine männliche Stimme.
»Ich bin auf der Suche nach Herrn Kwiatkowski«, schrie ich in die Sprechanlage hinein. Über mir
summte eine Videokamera. »Sie sind ein Verwandter?«
»Ja, ein Cousin.«
»Warten Sie einen Moment. Ich werde Ihnen öffnen.« Das Metalltor glitt auseinander, und ich tauchte in einen dunklen Korridor ein. Vom anderen Ende kam mir ein Hüne entgegen. Er musterte mich stumm und fragte dann: »Erwartet er Sie?«
»Nein, ich bin zufällig in der Gegend und will ihn überraschen.«
»Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich Sie kurz untersuche?«
Ich lehnte mich breitbeinig gegen die Wand, und er tastete mich professionell ab.
»Sie sind sauber, Herzlich willkommen in St. Marien! Ihr Vetter wird sich sehr freuen, Sie zu sehen.
Seitdem er bei uns ist, sind Sie der Erste, der ihn besucht.«

Ich folgte ihm durch langgesteckte Gänge, an deren Decken nervöse Neonlampen flackerten. Zwei Schwestern im Ornat kreuzten unseren Weg, verneigten sich und grüßten freundlich. »Sie wundern sich, weshalb es so still bei uns zugeht?« Er schaute mich lauernd von der Seite an.
»Habe ich mir gar keine Gedanken drüber gemacht.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Zwischen 15 und 16 Uhr ruhen die Bewohner in ihren Zimmern oder geben sich meditativen Tätigkeiten hin.«, klärte er mich auf.
»Aha, gut zu wissen.«
Wir erreichten eine Holztür, die mit »Aufenthaltsbereich IIIB« beschriftet war. Der bullige Kerl klopfte, steckte seinen Kopf in das Zimmer hinein und bellte: »Besuch für Sie, Herr Kwiatkowski.« Dann wandte er sich mir zu: »Ich lasse Sie eine Stunde alleine mit ihm. Es gibt sicher eine Menge zu erzählen.« Er verschwand, und ich betrat einen gelbgestrichenen Raum, in dem es nach kaltem Tabak roch. In der linken Ecke vor dem Fenster saß er , starrte hinaus in das bleiche Tageslicht und auf die kahlen Bäume des riesigen Gartens.
»Hi Jupp, erkennst du mich noch?«
»Hol mich der Teufel! Du bist Henning. Was treibt dich in diese gottverlassene Gegend? Oder bist du heute hier eingefahren?«
»Nein, nein … ich wurde nicht eingeliefert. Bin nur auf der Durchreise«, grinste ich.
»Was willst du in diesem Rattenloch?«
»Schau’n, wie es dir geht.«
»Scheiße. Siehst du doch. Woher wusstest du von meinem neuen Aufenthaltsort?«
»Rolf hatte es mir vor zwei Wochen gesteckt. War aber nicht zu hundert Prozent sicher. Du kennst ja die Gerüchte, die in der Klinik rumschwirren. Manche stimmen, andere sind frei erfunden.«
»Der alte Klugscheißer. Lebt der noch?«
»Er hält sich wacker. Säuft zehn Tage, dann entgiftet er wieder für eine Woche. Immer dasselbe elende Spiel. «
»Ja. Wird sich nie ändern.«
»Behandeln sie dich gut in diesem Laden?«
»So lange ich das tue, was sie sagen, sind sie okay.«
»Klar. Brauchst du Geld?«
»Immer.« Jupp feixte. »Kann hier damit aber nichts anfangen. Sie nehmen mir alles weg. Ein Jahr lang Null Euro als Erziehungsmaßnahme.«
»Das ist hart.«
»So will man verhindern, dass ich mir Nachschub besorge.«
»Darfst du denn raus?«
»Nein. Nur in Begleitung.«
»Also eine doppelte Vorsichtsmaßnahme.«
»Die übertreiben maßlos. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann …«
»Dann was?«
»Hätte ich mich lieber totgesoffen.«
»Ob das eine gute Lösung gewesen wäre? Weiß nicht. Du bist noch jung, Jupp.«
»Zwei Jahre älter als du.«

Der lebenslang weggesperrte Radrennfahrer

Jupp war in seiner Jugend ein begnadeter Linksaußen gewesen. Stand auf dem Sprung in die erste Mannschaft des FC. Hundert Meter in 11.7. Tausend unter drei Minuten. Im Schulsport spielte er alleine sechs von uns anderen schwindelig. Hatte zu früh mit dem Trinken angefangen. Deshalb wurde es nichts mit der Profikarriere. Er schlug sich nach dem verbockten Abitur in zahlreichen Jobs durch. Zwischendurch strampelte er auf dem Rad in Amateurrennen. Ich hatte ihn zwei Jahrzehnte aus den Augen verloren, bevor ich ihn vor fünf Jahren in der Geschlossenen wiedertraf. Blass um die Nase, sehr hager, nahezu asketisch wirkend. Seitdem hatten wir zahlreiche Entgiftungen gemeinsam absolviert. Ihm waren vor sechs Monaten zwei Bypässe eingesetzt worden, und er hatte sich freiwillig unter Betreuung stellen lassen. Per richterlichem Beschluss wurde er nach der Herz-OP nach St. Marien überwiesen. Von uns Alkis als »Endstation Sehnsucht« bezeichnet. Wer hier strandete, war so gut wie verloren. Ein Jahr kaserniert, keine Kohle in der Tasche, totale Überwachung. Danach ging es weiter mit harmloseren Pflegeeinrichtungen; allerdings immerfort unter ständiger Beobachtung. In Freiheit wurde so gut wie niemand entlassen. Das zukünftige Leben spielte sich von nun an in geschützten Räumen ab. Eine grauenhafte Aussicht für Menschen, die gerade mal 50 waren.

»Du bist trocken, Henning?«
»Jap.«
»Wie lange?«
»Drei Jahre.«
»Gratulation! Dass du alter Spritkopf das geschafft hast. Da hätte niemand von uns zehn Cent drauf gesetzt.«
»Ich hatte Glück.«
»???« Jupp rollte mit den Augen.
»Beim letzten Rückfall war ich so gut wie tot. Fünf Tage auf der Intensivstation. Davon 72 Stunden im künstlichen Koma. Danach hatte ich binnen weniger Minuten keine Lust mehr auf die Sauferei.«
»So einfach?«, Jupp kratzte sich ungläubig an der
Stirn. »Sonst war da nichts?«

»Nun ja«, ich räusperte mich.
»Spucks‘ aus!« Er rückte mit seinem Stuhl näher an mich heran.
»Ich hatte so was wie ein Nahtoderlebnis.«
»Du meinst, ein helles Licht am Ende eines Tunnels? Leise Musik? Engelsgleiche Wesen?«
»Ähnlich. Habe aber wenig Laune darüber zu sprechen. Sonst lande ich wahrscheinlich als Bekloppter in dem Schuppen hier. Reicht mir, wenn ich alleine weiß, was ich gesehen habe.«
»Erzählen ja einige, die an der Schwelle des Grabs standen, dass sie das erlebt haben. Und es hilft?
Also, um abstinent zu werden?«
»Ich habe mir überlegt, dass es einen Grund geben wird, dass Gott mich noch nicht im Jenseits begrüßen möchte.«
»Bist du auf deine alten Tage etwa religiös geworden? Ausgerechnet du? Mein Kumpel Henning, der nie an etwas anderes geglaubt hat als an die Sachen, die man mit beiden Händen anfassen kann?«
»Es existieren vermutlich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir sie mit unserem begrenzten Verstand begreifen.«
»Du bist jetzt aber nicht so ein verrückter Prediger
geworden, oder?«
»Keine Sorge. Außer dir und Rolf habe ich niemanden davon berichtet.«
»Behalt’s besser für dich. Sonst setzen Sie dich noch auf Psychopillen. Das Zeug ist schlimmer als Wodka.«

Endstation Sehnsucht?

Zwei Minuten lang schwiegen wir. Ich betrachtete derweil verstohlen Jupp. Sein Erscheinungsbild war weiterhin hager; allerdings spannte sein schwarzes Hemd am Bauch. »Sie werden ihn hier ordentlich füttern«, überlegte ich. »Vollgefressene Patienten verhalten sich zumeist friedlich.«
»Wie wird es weitergehen?«, unterbrach ich die Stille.
»Blöde Frage. Das weißt du genau so gut wie ich, Henning. Ich werde mich nie mehr als freier Mann unter der Sonne bewegen.«
»Stimmt. Ich hatte nicht nachgedacht. Sorry!«
»Kein Thema. Freue mich, dass du hier vor mir sitzt. Du bist der Erste, der bei mir aufkreuzt.«
»Gar keine Familie?«
»Will seit Jahren nichts mehr mit mir zu tun haben. Und ich möchte die Bande auch nicht sehen. Kennst du doch, Henning?«
»Jap. Das Säuferleben macht einsam.«

Jupp griff in seine Hosentasche, fingerte eine Packung Van Nelle heraus und drehte sich mit geübten Fingern eine Zigarette. »Du rauchst immer noch nicht, Henning?«
»Nein.«
»Sei froh. Ist ein blödes Laster. Sie rationieren hier sogar den Tabak. Was für ein elendes Saupack.«
»Du hast ein Dach über dem Kopf, erhältst drei Mahlzeiten am Tag und lebst. Es gibt schlimmere Schicksale.«
»Als ob du darauf Bock hättest, Henning. Erzähl mir jetzt keinen vom Pferd, bloß um mich aufzuheitern.«
»Sie hatten mir beim letzten Mal mit St. Marien gedroht. War vielleicht ein weiterer Grund, weshalb ich aufgehört habe.« Ich strich mir verlegen über die Haare.
»Klug von dir. Warst ja immer schon ein cleveres Bürschchen. Im Unterschied zu mir hast du das Abitur geschafft.« Jupp spuckte ein paar Krümel auf den Linoleumboden.
»Dafür konntest du besser Fußball spielen. Die Talente sind unterschiedlich verteilt.«
»Laber nicht so schlau rum. Das konnte ich noch nie an dir leiden.«

Es klopfte und der Schwerathlet trat ein. »Die Besuchszeit ist leider abgelaufen. Mehr als eine Stunde sind am Anfang zu viel für Herrn Kwiatkowski. Sie können aber gerne in vierzehn Tagen wiederkommen. Ihr Cousin freut sich bestimmt darüber.«
Ich stand auf und drückte meinem Schulfreund die Hand. Plötzlich zog er mich eng an sich heran und umarmte mich. »Kleiner Mistkerl, war schön, dass du hier warst«, flüsterte er mir ins Ohr.
Als ich im Begriff stand, durch die Tür zu gehen, legte Jupp mir drei Finger auf die Schulter.
»Alter, möchtest du mein Rennrad haben? Bei dir weiß ich es in guter Verwahrung.«
Das war ein echter Vertrauensbeweis. Jupp liebte sein gelblackiertes Pinarello über alles und nahm es abends mit ins Bett.
»Das ist nett von dir. Aber was soll ich damit? Noch dazu im Spätherbst?«
»Ordentlich in die Pedale treten. Ein bisschen Bewegung kann nicht schaden. Bevor du eventuell Winterspeck ansetzt.«
»Ich überleg’s mir bis zum Frühjahr. Wenn die neue Straßensaison beginnt.«
»Tu das. Und immer drauf aufpassen! Das Teil ist unbezahlbar.«
»Das sagst du ausgerechnet mir, der ich abends oft vergesse, mein Auto abzuschließen.«

»Schön, dass Sie innerhalb Ihrer Familie endlich Kontakt zu Herrn Kwiatkowski aufnehmen«, erklärte der Pfleger, während wir die langen Korridore zurück zum Ausgang spazierten. »Er leidet sehr unter seiner Isolation. Sie sollten von nun an alle zwei Wochen vorbeischauen. Vielleicht bringen Sie weitere Verwandte mit, damit er langsam wieder integriert wird.«
»Ich denke drüber nach.«.

Bloß weg von diesem traurigen Ort!

Im Schritttempo zuckelte ich den Berg hinunter. Vor den grell aufgeblendeten Scheinwerfern huschte ein Reh von links nach rechts. Die fahle Sichel des Mondes tauchte den Wald in ein gespenstisches Licht. Als ich im Tal einen Bach überquerte, krochen Nebelschwaden an den Seitentüren empor. In der Ferne kläfften Hunde. Jupp hockt hier genau so sicher wie in Alcatraz, ging es mir durch den Kopf. Ich hielt ein weiteres Mal an der Tankstation, um mich mit Vorrat für die Rückfahrt einzudecken. Das Krokodilgesicht hatte Feierabend gemacht. Jetzt stand ein dicker junger Mann mit starker Akne an der Kasse. »Wie war es da oben?«, wollte er wissen.
»Was geht Sie das an?«
»Man wird doch noch höflich fragen dürfen?«
»Scheren Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!«
Ich warf zwei Flaschen Apfelschorle und eine Tüte Weingummi auf den Beifahrersitz und verließ den trostlosen Ort. »Da wäre ich ebenfalls eingesperrt, wenn ich den Absprung nicht in letzter Minute selbst geschafft hätte«, überlegte ich. Ums Verrecken hätte ich nicht mit Jupp tauschen wollen. Beim nächsten Treffen würde ich eine Knarre reinschmuggeln. Dann konnte er sich mit Anstand erschießen. Ob ich ihn ein weiteres Mal besuchen würde? Keine Ahnung. Ich war schließlich kein naher Verwandter. Sollte seine Familie sich um ihn kümmern. Ich hatte mit mir selbst genug zu tun.

Bild von: 1778011 auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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