Unser Nachbar erzählt, dass er Menstruation riechen kann, sagt, dass ich keine 60 Jahre alt werde und bietet mir einen Job in seinem Betrieb auf dem Kölner Schlachthof an.
In diesem Jahr schloss der FC die Saison als Achter ab. Im Pokal bereits in der zweiten Runde rausgeflogen. Zumindest auf europäischer Ebene das Halbfinale erreicht, wo man dann gegen Ipswich die Segel streichen musste. Alles in allem recht mager für eine Mannschaft, in der Schumacher, Cullmann, Engels, Dieter Müller, Bonhof, Woodcock und die blutjungen Littbarski und Bernd Schuster spielten. Ich hatte die vorletzte Partie von der Südkurve aus angeschaut. 1:2 verkackt. Und das ausgerechnet gegen Düsseldorf. Zwei Mal die Allofs-Brüder, bevor Willmer kurz vor Schluss noch der Ehrentreffer gelang. Ich war restlos bedient und schwor mir, das Müngersdorfer Stadion nie mehr zu betreten.
Unser Nachbar kann Menstruation riechen und gibt mir maximal 60 Lebensjahre
Und nun stand ich drei Wochen später an einem subtropisch schwülen Donnerstagnachmittag Ende Juni im Wohnzimmer unseres Nachbarn.
„Ich kann es riechen, wenn Frauen ihre Tage haben.“ Der Nachbar saß in mausgrauer Jogginghose breitbeinig auf seinem roten Ledersofa und nahm einen tiefen Zug aus einer Flasche Küppers.
„Sie merken das wirklich?“ Mich interessierte das Thema nicht allzu sehr, aber ich wollte freundlich sein, weil er mir vor zehn Minuten einen lukrativen Job angeboten hatte.
„Ich arbeite seit dreißig Jahren im Fleischgeschäft. Schlachte jeden Tag hunderte Schweine. Glaub mir, Kleiner: falls einer hier im Viertel weiß, wie Blut riecht, dann bin ich das … und sag nicht Sie zu mir. Ich bin Karl-Heinz.“
„Wozu soll das gut sein?“ Das Thermometer zeigte am frühen Abend noch 30 Grad; ich war müde und geistig träge.
„Wozu das gut sein soll? Will ich dir gerne erklären.“ Karl-Heinz rülpste, sein Bieratem kroch über den Wohnzimmertisch und stieg mir in die Nase. „Frauen sind in den Tagen ihrer Menstruation besonders empfindsam und willig.“ Er schnalzte genießerisch mit der Zunge, so als ob er in Gedanken gerade in einem Porno mitspielte.
„Ist das nicht ein bisschen eklig?“
„Du bist zwar jung. Trotzdem hätte ich bei dir mehr Erfahrung in Bezug auf Weiber vermutet. Na ja, lassen wir das Thema. Bringt nichts, sich mit einem Grünschnabel über Sex zu unterhalten.“
Bei Karl-Heinz war ich mir oft unsicher, ob er bereits als Arschloch auf die Welt gekommen war oder sich im Lauf einer verkorksten Kindheit und Jugend erst zu einem entwickelt hatte. Er schien sich aber darüber im Klaren zu sein, dass alle Welt ihn hasste und ging mit dieser Tatsache recht souverän um. Dafür bewunderte ich ihn; obwohl ich ihn eigentlich zum Kotzen fand. Schizophrenie eines 19-Jährigen.
„Wann kann ich anfangen?“
„Am besten heute Nacht.“
„Heute schon?“
„Du bist völlig abgebrannt; brauchst dringend Kohle. Was also spricht gegen heute Nacht?“
„Nichts“, antwortete ich und dachte Scheiße, weil ich mich mit Caroline verabredet hatte, der ich vorher noch absagen musste.
„Dann gehe ich jetzt nach Hause und lege mich zwei Stunden aufs Ohr, damit ich nachher fit bin.“
„Tu das und komm an deinem ersten Arbeitstag bloß nicht zu spät. Sonst schmeiße ich dich sofort wieder raus. Völlig egal, ob du der Sohn vom Nachbarn bist. Ich bevorzuge niemanden.“
„Klar; ich werde pünktlich sein.“ Ich stand auf. Als ich die Türklinke berührte, rief Karl-Heinz in meinem Rücken: „Du wirst nicht alt werden.“
„Wie meinst du das?“
„Ich kann nicht nur den Geruch von Blut unterscheiden, sondern sehe Tieren und Menschen an, wann sie sterben werden … du mit circa 60.“
„Lass mich in Ruhe mit dem Unsinn! Sonst suche ich mir was anderes.“
„Du wirst exakt um Mitternacht hier sein“, sagte der Nachbar, ließ seinen Kopf nach rechts fallen und schlief mit geöffnetem Mund auf dem roten Sofa ein.
„Versoffenes Arschloch“, murmelte ich, während ich über den Gartenzaun stieg. Obwohl ich noch keine zwanzig war und mich kerngesund fühlte, betrübte mich die Aussicht auf meinen frühen Tod. Spontan beschloss ich, ab sofort jeden Tag so zu genießen, als ob es der letzte wäre. Aber zuerst mal wartete der Job im Kölner Schlachthof auf mich.
Nächtlicher Weg zum Schlachthof
Um halb zwölf schlich ich leise aus dem Haus. Meine Eltern hatten zwar kein Problem damit, dass ich mir Geld dazu verdiente, mit der Arbeit im Schlachthaus wären sie jedoch auf keinen Fall einverstanden gewesen. „Zu blutig, unappetitlich … nachts solltest du schlafen“ und solche Sachen hätten sie gesagt. Von daher war es besser, sie gar nicht erst zu informieren. Zwanzig Mark war ein guter Stundenlohn; dafür würde ich auch Toiletten reinigen. Den Weg kannte ich schlafwandlerisch: die Nussbaumer entlang zum Gürtel, nach rechts bis zur Subbelrather, dort links, unter der Bahn durch, und ein paar hundert Meter weiter stand ich vor dem Eingangstor. Eine viertel Stunde zu früh; aber das war okay, denn ich musste nun noch das Büro von Karl-Heinz finden.
»Wo sitzt Herr Profitlich?«
»Im Keller. Bei den Schweinen«, antwortete ein Hüne, einen Kopf größer und doppelt so breit wie ich.
»Wie komme ich dahin?«
»Dahinten die Treppe runter. Wenn du magst, kannst du aber auch mit den Viechern im Lift fahren.« Er wieherte wie ein alter Gaul und entblößte dabei sein Gebiss, in dem jeder zweite Zahn fehlte.
Ich nahm die Stufen. Je tiefer ich nach unten gelangte, desto wärmer wurde es. Süßer Blutgeruch waberte durch die Gänge. In einem großen Raum, der mit hundert Neonlampen taghell erleuchtet war, entdeckte ich Profitlich. Er stand an einem Gatter und betrachtete ein paar Dutzend verängstigte Schweine.
«Du bist pünktlich. Schon Mal ein guter Anfang … das ist Henning, Sohn meiner Nachbarn», stellte er mich zwei Typen vor, die von Physiognomie und Körperbau her die Brüder des Pferds von oben zu sein schienen. Beide steckten in blutbesudelten Kitteln und trugen Gummistiefel.
«Horst und Vitalij. Die werden dir zeigen, wie du dich nützlich machen kannst.»
«Komm mit und schau einfach zu.»
«Eigentlich müssten wir ihn erstmal mit Blut taufen», brummte Vitalij.
«Das hat bis morgen Zeit. Sonst haut der Kleine sofort wieder ab.» Horst schien über größere Menschenkenntnis als sein Arbeitskumpel zu verfügen.
«Welche Klamottengröße hast du?», fragte er.
«Normalerweise 50.»
«Das ist ungefähr Medium … komm mit. Lass uns nachsehen, ob wir was Passendes für dich hier haben.»
Ich begleitete ihn zu einem Spind, aus dem er Hose und lange Schürze hervorholte. Ich legte meine Jeans auf einen klapprigen Holzstuhl und schlüpfte in die Arbeitskleidung hinein.
In die Arbeitsklamotten muss ich noch reinwachsen
«In Ordnung?»
«Kneift ein bisschen. Wenn ich zwei Kilo abnehme, dann ist’s okay.»
«Also passt’s. Schuhgröße?»
«Zwischen 42 und 43.»
«Sonderanfertigungen haben wir nicht. Probier die mal.»
«Das ist 44.»
«Kleinere sind im Moment ausgegangen. Zieh morgen dicke Wintersocken an.»
«Klar.»
«Kopf?»
«Was meinst du?»
«Na, wie groß ist dein Schädel?»
«Keine Ahnung.»
«Sieht groß aus. Hier eine Mütze für dich.»
Ausstaffiert mit gebrauchter – aber immerhin frisch gewaschener – Arbeitskleidung stiefelte ich in den zu großen Gummischuhen zurück zu Vitalij und Profitlich. Der Nachbar wählte gerade mit Kennerblick dreißig Tiere aus und gab mit Handzeichen zu verstehen, dass wir uns nun um alles Weitere kümmern sollten. Wir trieben die kleine Herde in den Nachbarraum, wo die Schweine mit einer Elektrozange, die ihnen hinter die Ohren geklemmt wurde, betäubt wurden. Sie sanken mit weit aufgerissenen Augen, quiekend und seufzend zuerst in die Knie, bevor sie bewusstlos zur Seite rollten. Ich spürte ein schlechtes Gewissen, beruhigte mich jedoch mit dem Gedanken an die Kohle, die ich hier verdienen konnte.
«Na Kleiner, hält dein Magen das aus? Es wird gleich noch spannender.» Der Russe war ein Sadist.
«Du freust dich bestimmt, wenn ich dir über die Schuhe kotze.» Mein Magen rumorte. Horst grinste. Der mochte den Russen also auch nicht.
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Hier geht’s morgen zur Fortsetzung.