Die Tochter des Mondes

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Ich besuche abends den Zentralfriedhof, treffe dort unverhofft eine alte Freundin, die mich überreden will, ihr in ihre Welt zu zu folgen, bevor mich im letzten Moment zwei Sanitäter mit Ohrfeigen und Defi zurück in die Realität holen.

Meine Hände und Beine wurden mit kräftigen Seilen festgehalten, von denen ich vermutete, dass sie als Tentakel zu einem lebenden Organismus gehörten. Ein Krake, der in einer unterirdischen Höhle hauste und seine Fangarme durch die Erdkrume hindurch nach oben ausgestreckt hatte, um mich zu fesseln.

Ich versinke langsam im Schlamm

Der stetig auffrischende Westwind trieb eine mächtige, regenschwere Wolke rasch vor sich her, die den anämischen Mond, der seit einer Weile senkrecht über mir stand, bereits zur Hälfte verdunkelte. In dieser Stunde der spätsommerlichen Dämmerung war der Gesang der Vögel verstummt. Die feuchte Luft und das laute Rascheln der Blätter in den Bäumen kündigten ein Gewitter an. Blitze durchzuckten den purpurnen Äther. In der Ferne ließ sich leises Donnergrollen vernehmen, das jedoch unaufhörlich näher heranrückte. Die Blumen neben mir rochen faulig. Das kurzgeschorene Gras um mich herum fühlte sich wie ein samtener Teppich an. Ich lag angeschnallt auf dem Rücken und betrachtete fasziniert das Schauspiel der wild wechselnden Farben.

Der Himmel öffnete mit einem Mal seine Schleusen. Dicke Tropfen prasselten auf mein Gesicht und zerplatzten auf Stirn und Kinn. Der Regen verwandelte sich jäh in einen Sturzbach. Der Grund um mich herum weichte auf, wurde schlammig. Mein Körper schien wie in einem Sumpf immer tiefer in dem schwarzen Morast zu versinken. Gleich wird mich das Ungeheuer vollends zu sich hinunterziehen und mit seinem papageienähnlichen Schnabel erst in kleine Stücke zerreißen und dann genüsslich verschlingen, ging es mir durch den Kopf. Ich spürte in diesem Moment jedoch keine Angst. Mich beherrschte eher der Gedanke: Nun wird es in einigen Sekunden vorbei sein. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn ich als Kot vom Monster ausgeschieden, mich in einen Bestandteil der nassen Erde verwandeln würde.

Vom Mond klettert jemand zu mir herab

Die Wolkendecke riss einen Spalt weit auf und gab den Blick frei auf den aschfahlen Trabanten. Eine endlos lange Strickleiter wurde aus einem Krater am südlichen Pol des Mondes herausgeschleudert und fiel, sich rasend schnell auseinanderfaltend, zu mir auf den aufgeweichten Boden herab. In großer Entfernung entdeckte ich einen kleinen Menschen, kaum größer als der Kopf einer Stecknadel, der sich auf den Weg zu mir machte. Ein Gefühl von Wärme und Zärtlichkeit durchflutete mich. Die Person bewegte sich wieselflink von Sprosse zu Sprosse, schien mitunter an den nahezu durchsichtigen Seilen nach unten zu gleiten. Langsam konnte ich Konturen erkennen. Der Körper nahm weibliche Formen an: Lange Beine, schlanke Fesseln, schmales Becken, ein dunkelgelockter Kopf, der auf einem wohlgeformten Rücken saß.
Das gläserne Wesen, in dessen klopfendem Herzen sich die weißen Strahlen des Mondlichts brachen, sprang von der letzten Stufe auf das Gras zu meiner Linken, baute sich breitbeinig vor mir auf und tadelte mich mit kehligen Lauten, die ich jedoch verstand:

»Weshalb suhlst du dich wie ein Schwein im Dreck?«
»Weil ich mich nicht bewegen kann.« Weshalb schimpfte sie mit mir? Was hatte ich ihr getan?
»Warum nicht? Bist du krank?« Ihre Stimme klang weiterhin streng.
»Eine Bestie hält mich gefangen.«
»Plappere keinen Unsinn. Dämonen gibt es nicht. Die existieren einzig in deiner überreizten Fantasie. Steh auf! Meinst du, ich habe mich auf die lange Reise begeben, um dich faul im Matsch rumliegen zu sehen?« Ihre Laune schien im Moment nicht die allerheiterste zu sein.

Die gallertartigen Schlingen, die mich wie in einem Schraubstock eingezwängt hielten, lockerten sich unverhofft und mir gelang es, mich von ihnen zu befreien. Auf wackligen Beinen und mit brausendem Schwindel in den Ohren trat ich vis-à-vis der schönen Tochter des Mondes, deren Züge mich seltsam vertraut anmuteten.

Unverhofftes Wiedersehen nach drei Jahren

»Woher kenne ich dich?«, fragte ich matt.
»Kaum bin ich drei Jahre fort, hast du mich bereits vergessen«, fauchte sie katzenartig.
»Wie kann es sein, dass ich dich verstehe, obwohl du in dieser merkwürdigen Sprache redest?«
»Das ist die Melodie der Toten.«
»Also lebe ich nicht mehr?«
»Noch ein bisschen. Bald wird es vorüber sein.« Sie klopfte ungeduldig mit den Fingern auf den anderen Handrücken.
»Hervorragend, das funktionierte schmerzloser, als ich es vermutet hatte.«
»Hör auf zu jammern. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann.« Die schöne Unbekannte funkelte mich mit zornigen Augen an.
»Ich klage doch überhaupt nicht.« Ich kam mir allerdings schwach und jämmerlich vor.
»Aber du widersprichst mir. Das ist auch nicht besser.«

Die Lichtgestalt ergriff meine Hand und führte mich schweigend durch die dunklen Flure des alten Parks. Vorbei an verwitterten Statuen aus Granit und Sandsteinputten, die mich mit spöttischer Miene belächelten. Zwei bronzene Engel hoben die Hand zum Gruß, so als ob sie mich wie einen neuen Freund in ihren Reihen willkommen heißen wollten. Vor einer frischpolierten, schwarzglänzenden Säule aus Marmor hielten wir an.

Die Inschrift auf dem Grab

»Lies, was in die Stele eingemeißelt wurde.«
»Mir ist diese Schrift völlig fremd.«
»Streng dich an! Sei bloß nicht immer so bequem.«

Ich war zu Lebzeiten eine Hure und schenkte Zuneigung all denen, die darum baten. Saskia lautete mein Name. Gezeichnet vom Gram der Liebe, hat Henning diese Inschrift auf mein Grab gesetzt und den Schmerz gezeigt, der in seiner Seele wohnte. Sein Herz schmolz und wurde weich wie Wachs, entzifferte ich.

»Küss mich und quatsch nicht immer so viel.« Über ihr Gesicht huschte nun ein kleines Lächeln.

Ich tat, wie mir geheißen und berührte mit meinen Lippen den kalten Mund der geheimnisvollen Erscheinung. Es fühlte sich an wie der Funkenflug, wenn glühend heiße Magma an den Zacken eines Eisberg zerstiebt. Sie antwortete auf mein sachtes Streicheln ihrer Schultern mit einer Mischung aus Liebe und Gier. Obwohl ich mit jedem Kuss schwächer wurde, genoss ich die gefährliche Umarmung der Fremden. Unversehens stieß sie mich von ihr weg, und ich stürzte vor den Sockel der Steinsäule.

»Weißt du, wo du dich befindest?«, herrschte sie mich an.
»Was meinst du?«
»Das ist der Grabstein, den du für mich errichtet und vor dem du häufig bittere Tränen vergossen hast.«
»Wirklich?« Vor Erstaunen fiel mir die Kinnlade herunter.
»Glotz mich nicht an wie ein Fisch, der im Netz zappelt!«
»Wer bist du?«
»Saskia. Und du hattest mir so oft versprochen, dass du mir in den Tod folgen würdest. Seit drei langen Jahren warte ich vergebens und muss stattdessen mitansehen, wie du dich mit anderen Frauen vergnügst.«

»Wer? Ich?« Ein leichter Schauer kroch meinen Rücken entlang.
»Ja, du.« Saskia riss mich aus dem Schlamm hoch und umklammerte mit eisernem Griff meinen Hals.
»Lass los! Ich bekomme keine Luft mehr.« Mir wurde schwarz vor den Augen.
» Gut, dann sind wir in einigen Sekunden wieder vereint.«

Mit Ohrfeigen & Defi zurück in die Realität

Auf meine Wangen hagelte eine Kaskade von Ohrfeigen. Unbekannte Stimmen schrien auf mich ein. »Können Sie uns hören? Schmieren Sie uns bloß nicht ab. Gebt mir den Defibrillator; rasch! Es scheint noch ein Rest Leben in ihm zu sein.«
Schmerzhafte Impulse durchfuhren meine Brust. Noch stand Saskia vor mir; allerdings wurden ihre Umrisse mit jedem Stromstoß undeutlicher.

»Verlass mich nicht, Geliebter«, hauchte sie.
»Ich will bei dir bleiben«, flüsterte ich.
»Los, dreht den Saft auf! Gleich haben wir ihn zurückgeholt.«

Während sich mein Körper unter einem neuen Elektroschlag aufbäumte, wandte sich Saskia von mir ab und verschwand in der Dunkelheit der mit uralten Bäumen gesäumten Allee , an deren Ende ich einen schwachen Lichtschein erspähte. Sie drehte sich ein letztes Mal um und winkte mir wehmütig zum Abschied zu. Ihre katzengrünen Augen schimmerten feucht, als sie die unterste Sprosse der Leiter erklomm und behände nach oben stieg, bis sie hinter den Wolken aus meinem Blickfeld entschwand. Ihre Tränen verwandelten sich in warmen Regen, der erneut auf mich herabprasselte.

»Da hat der Typ aber über einen Glücksengel verfügt. Wir hätten keine Sekunde später hier eintreffen dürfen, dann wäre er tatsächlich über den Jordan gewandert.«
»Das hat er vermutlich auch vorgehabt. Weiß gar nicht, ob der sich darüber freuen wird, dass wir ihm geholfen haben.«
»Mir total schnurz. Ist halt unser Job, ebenfalls Selbstmörder zu retten. Wobei ich es noch nie auf einem Friedhof getan habe.«
»Hattest du auch das Gefühl, dass noch jemand anderes anwesend war? Der ihn nicht loslassen wollte?«

»Du arbeitest zu viel und bist überspannt. Siehst schon Gespenster. Wer soll das gewesen sein?«
»Vielleicht diese Saskia, auf deren Grab er liegt.«
»Ist eventuell eine ehemalige Freundin von ihm. Seit drei Jahren tot. Lang ist das noch nicht her.«
»Sind dir eigentlich die Würgemale am Hals aufgefallen? Ob er versucht hat, sich selber zu strangulieren?«
»Keine Ahnung. Lasst uns den Kerl endlich abtransportieren. Ich will in einer Viertelstunde Feierabend machen.«

Bild von Enrique Meseguer auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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