Letzte Ausfahrt Salzwüste

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Als H. aufwachte, fühlte er sich stark verkatert. Obwohl er ein geübter Trinker war und einen ordentlichen Schluck vertragen konnte, hatte er gestern mehr gesoffen, als er es normalerweise an einem Freitagabend tat.

Irgendwo an der Grenze zwischen Nevada und Utah.

Als H. aufwachte, fühlte er sich stark verkatert. Obwohl er ein geübter Trinker war und einen ordentlichen Schluck vertragen konnte, hatte er gestern mehr gesoffen, als er es normalerweise an einem Freitagabend tat. Er entsann sich dunkel an eine Flasche Bourbon und sechs bis acht große Michelob. Vielleicht waren aber auch noch einige Tequila dabei gewesen. Seine Nachbarin Tracy hatte im White Pine Club zwei Barhocker von ihm entfernt zu seiner Linken gesessen, ihn hin und wieder angelächelt und dabei ihren kurzen magentafarbenen Minirock nach oben rutschen lassen, so dass er erkennen konnte, dass sie keinen Slip trug. H. sah von der Seite auf ihre rasierte Scham mit dem ringförmigen Intimpiercing und wusste, dass sie es an diesem Abend darauf anlegte, ihn geil zu machen.

Es ist heiß in H.s Wohnung

Anfangs war er auf ihr Spiel nicht eingegangen. Seine Gedanken weilten woanders. Beim Auftrag, den er an diesem Morgen ausgeführt hatte. Das war kein schöner Job gewesen. Da brauchte auch ein Profi wie er im Nachgang viele Unzen Bier, um sich von diesem Anblick zu erholen. Im Laufe des Abends verspürte H. immer stärker den Drang, sich volllaufen zu lassen, um vollkommen zu vergessen. Es war der Start ins Wochenende. Am Samstag hatte er frei und konnte bis in die Puppen schlafen. Er lebte alleine. Wen juckte es, ob er im Wohnzimmer auf den Boden kotzte oder im Bad versehentlich in die Dusche pinkelte? Niemanden.

Nun lag er in seinen viel zu engen und grellbunten Shorts auf dem Bett und konnte sich nicht daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Matt wie ein zu Boden gesunkener Boxer betrachtete er aus der Rückenlage seinen fußballgroßen Bauch mit dem ausgeleierten Nabel. Schwarze Haare, die sich zu kleinen Spiralen kringelten, sprossen überall aus seinem Körper. Nicht gleichmäßig verteilt wie auf einem satten englischen Rasen, sondern eher an eine gerupfte Wiese erinnernd. Seine Brust war zwar breit, weil er früher regelmäßig Kraftsport betrieben hatte. Aber mittlerweile hing sie ihm links und rechts herunter wie zwei altersschwache Busen, denen man vergangene Woche das Silikon abgesaugt hatte.

Es war heiß in H.s kleinem Appartement. Die Unterhose klebte in seiner Arschritze. Auf den Armen und Beinen hatte sich ein leichter Schweißfilm gebildet. Als er sich im Zeitlupentempo erhob, sah er, dass er die gelblichen Zehennägel dringend schneiden musste. Früher hätte ihn Jane darauf aufmerksam gemacht. Seine zweite Ehefrau. Aber auch die war schon seit vielen Jahren fort.

H. stolperte in das versiffte Badezimmer. Stellte sich breitbeinig vor das Waschbecken, hustete schwer und spuckte einen Klumpen braungrünen Schleim neben den Wasserhahn. Scheißraucherei, dachte er. Ich sollte damit aufhören. Das Zeug bringt mich noch um. Er quetschte einen Tropfen trockener Zahnpasta auf seinen rechten Zeigefinger und fuhr sich damit durch den Mund. Anstatt zu spülen, schluckte er die klebrige Flüssigkeit danach einfach runter. Fürs Duschen war er noch zu müde. Das konnte er auch noch am Abend tun. Daraufhin schlurfte er zurück in sein Schlafzimmer. Dort lag eine Frau auf dem Bauch, die er vorhin beim Aufstehen anscheinend übersehen hatte. Sie schien tief zu schlafen. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie nicht mehr atmete. In ihrer linken Armbeuge steckte eine Spritze.

Die tote Ex sitzt am Küchentisch

War das Tracy? Hatte sie ihn gestern Nacht vielleicht doch nach Hause begleitet? Ihm fehlten die letzten Stunden des vorherigen Abends. Kompletter Filmriss. Was suchte die Nadel in ihrer Vene? War seine Nachbarin eventuell ein Junkie? Wohin mit ihrer Leiche? Gar nicht so einfach, fünfundfünfzig Kilogramm unbemerkt zu entsorgen.

H. machte kehrt und wankte Richtung Fernsehgerät. Ich muss hier dringend aufräumen und putzen. Sieht scheußlich aus die Bude. Aber nicht heute. Morgen ist auch noch ein Tag. Er ließ sich erschöpft auf das alte Sofa fallen. Die Federn ächzten unter seinem Gewicht. Am wackligen Esstisch saß Jane und beobachtete ihn.

»Wo kommst du auf einmal her, nach all den Jahren?«
»Die Tür stand sperrangelweit offen. Du warst wahrscheinlich zu besoffen, um sie richtig zuzumachen.«
»Was willst du von mir? Geld habe ich keines im Haus.«
»Nichts Neues bei dir. Du verzockst die Kohle lieber in Vegas, als damit was Vernünftiges anzustellen.«
»Bist du gekommen, um dich mit mir zu zanken?«
»Unser Streit liegt in ferner Vergangenheit. Heute empfinde ich nichts mehr für dich. Weder im Guten noch im Bösen.«
»Warum bist du dann hier?«
»Ich wollte mir mal wieder unsere frühere Wohnung anschauen. Die mittlerweile aussieht wie ein dreckiges Rattenloch.«
»Möchtest du ein Glas Whiskey, Jane?«
»Nein, ich trinke nicht mehr.«

H. stemmte seinen korpulenten Körper in die Höhe, schleppte sich zum Kühlschrank und suchte dort nach einem Budweiser. Er war sich sicher, dass er gestern einen Sixpack hinter den übriggebliebenen Enchiladas deponiert hatte. Aus dem Gefrierfach grinste ihn ein halb verwester Schädel an. Er rieb sich verwundert über die Augen. Hatte er üble Halluzinationen wegen seines gestrigen Saufgelages? Die Fratze blieb. Obwohl das linke Auge fehlte und die rechte Gesichtshälfte von Haut und Fleisch entblößt war, meinte er, den Kopf schon mal gesehen zu haben.

»Jane, da liegt ein Totenschädel im Kühlschrank.«
»Ich weiß.«
»Wer ist das? Ich glaube, ich kenne den Kerl.«
»Das ist Joe Conrad. An den wirst du dich doch erinnern; oder?«
»Der ist seit vier Jahren tot. Was macht der hier?«
»Dasselbe wie ich. Dich besuchen.«
»Warum nach all der langen Zeit?«
»Weil du uns alle auf dem Gewissen hast.«

»Ich habe nur meinen Auftrag ausgeführt. Gehört halt zu meinem Job dazu
»Du bist ein elender Lügner. Anfangs wurdest du dafür ausgelost. Später hast du dich freiwillig gemeldet. Weil es dafür eine Extraprämie gibt.«
»Das Leben ist teuer. Wenn nicht ich, dann hätte es eben ein anderer an meiner Stelle getan.«
»Du bist ein gewissenloses Monster geworden. Wo ist der Mann, den ich einst geliebt habe?«
»Beschwer dich nicht. Dich hat die viele Kohle angetörnt. Hast dir teure Klamotten gekauft und einen jungen Liebhaber geleistet. Den du fürstlich dafür bezahlt hast, dass er einmal die Woche über dich drüberstieg.«
»Weil ich mit dir nicht mehr vögeln konnte, du Mörder.«
»Hättest mich ja verlassen können.«
»Das habe ich getan.«
»Ja, indem du dich ausgerechnet an Weihnachten im Schlafzimmer an der Heizung strangulieren musstest. Mit drei Promille Alkohol in der Blutbahn. War kein schöner Anblick. Hättest du das nicht irgendwo draußen veranstalten können?«
»Du bist immer noch dasselbe gefühllose Dreckschwein wie früher.«

H. suchte unter dem Stapel Pornos, die wild verstreut auf dem Couchtisch herum lagen, nach einer Lucky Strike. Hinter ihm baute sich plötzlich ein schwarzer Hüne auf. In hellblauer Gefängniskleidung. Mit kreisförmigen Verbrennungsmalen am glattrasierten Kopf und den Unterschenkeln. Der Riese fletschte ihm ein zahnloses Grinsen entgegen und sagte: »Sehen wir uns endlich wieder. Heute aber mit vertauschten Rollen.« H.s Kreislauf spielte auf einmal verrückt. Ihm wurde schwarz vor den Augen. Seine Beine versagten den Dienst.

Ne Tote im Bett und ein toter Henker auf dem Sofa

Als der Sheriff von Ely County mitsamt Deputy zwei Stunden später die Wohnungstür aufbrechen ließ, fand er die als vermisst gemeldete Tracy W. leblos im Schlafzimmer. Von ihrem Nachbarn im sexuellen Wahn mit einer Injektion Kaliumchlorid hingerichtet . Der Justizvollzugsbeamte und Executioner H. saß im Nachbarraum mit blau verfärbtem Gesicht auf dem Linoleumboden vor dem verschlissenen Sofa. Die Shorts eingenässt. Als Todesursache wurde bei der Obduktion in der Gerichtsmedizin ein Aneurysma festgestellt. Ausgelöst wahrscheinlich durch chronischen Bluthochdruck in Verbindung mit einer Überdosis Alkohol. In der Küche entdeckten die Polizisten einen halbgefrorenen Salatkopf vor dem Kühlschrank. An der Heizung im Bad baumelte ein Ledergürtel. Auf einem Stuhl im Esszimmer räkelte sich H.s alte Katze. Hinter der Couch war eine Stehlampe umgefallen.

Gemäß Hank C.s letztem Willen wurde sein Leichnam verbrannt und die Asche fünfzig Meilen östlich von Wendower entlang der Interstate 80 in der Großen Salzwüste verstreut. An der Trauerfeier nahmen außer drei altgedienten Kollegen vom Zuchthauspersonal keinerlei weitere Gäste teil.

Bild von mcmurryjulie auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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