Margots Albtraum

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Wenn im Wohnzimmer der Buchhalterin nachts plötzlich ne Leiche liegt.

Das Telefon klingelte Sturm. Zehn, zwölf Mal ohne Unterbrechung. Am heiligen Samstagabend; zweiundzwanzig Uhr. Ich wollte mir in Ruhe das Sportstudio ansehen. Schauen, wie sich der FC in Bremen geschlagen hatte. Es ging um Alles oder Nichts für die Kölner. Mal wieder. Und an jedem Wochenende beschleunigte sich mein Pulsschlag, wenn es hieß, wertvolle Punkte im Kampf gegen drohenden Abstieg einzusammeln. Eigentlich verrückt, dass ich mir nach all den Jahren immer noch einen Kopf darüber mache, wie dieser Verein herum gurkt. Der Anrufer ließ nicht locker. Wer mag das um diese Uhrzeit bloß sein? Schlechtgelaunt hob ich den Hörer ab.

»Ja!«
»Bist du das, Henning?«
»Wer will das wissen?«
»Ich bin’s, Margot. Kannst du dich an mich erinnern?«
»Klar, kann ich. Was gibt’s?«
»Henning, ich … brauche deine Hilfe.«
»Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?«
»Es ist dringend. Ansonsten würde ich dich nicht beim Fußball stören. Den guckst du doch gerade; oder?«
»Hat Holger dich verprügelt?«
»Nein. Das ist es nicht.«
»Weshalb soll ich dann kommen?«
»Wirst du gleich sehen. Machst du dich auf den Weg?«
»Okay, bin in circa dreißig Minuten bei dir.«
»Soll ich dir ein Bier kaltstellen?«
»Nein, bloß nicht. Ich bin seit Februar sauber. Setz lieber einen Kaffee auf.«

Die trinkende Buchhalterin

Margot war eine ältere Buchhalterin, die genau wie ich als Dauergast in der Suchtklinik aufschlug. Die Aufnahmeärzte ersparten ihr zumeist den Umweg über die geschlossene Abteilung, so dass ich sie immer in der offenen Station traf. Eine nette Frau, zurückhaltend, höflich, nahezu schüchtern. Schütteres dunkles Haar, das ihr bis zur Schulter reichten. Dicke Hornbrille. Zumeist versteckte sie sich hinter Rätselheften und Sudokumagazinen. Halt eine völlig unscheinbare Dame, die man kaum bemerkte, sogar wenn sie im selben Raum ein paar Meter entfernt von einem saß. Ich konnte sie gut leiden. Sie war ruhig, machte nie großes Aufsehen um sich. Eine wirklich angenehme Mitpatientin.

Was mag passiert sein? ging es mir durch den Kopf, während ich meinen alten Golf durch die dunklen Straßen unserer Stadt bewegte. Wo Margot wohnte, wusste ich, denn ich hatte sie vor einigen Monaten von der Klinik zu ihrem Haus gefahren. Ein Vorort mit hunderten von kleinen Reihenhäusern im Norden in der Nähe des Flusses. Ob ihr schwachsinniger Lebensgefährte sie wieder verprügelt hatte? Ich hasste den Typen. Hatte ihn im vergangenen Herbst auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus zur Rede gestellt. War ein hitziges Wortgefecht gewesen. Ich hatte ihn übel beschimpft, Hurensohn, Missgeburt und Frauenschänder waren das Harmloseste. Fast wäre ich dem Psychopathen an die Gurgel gegangen.

Pfleger Martin, der zufälligerweise vorbeikam, zerrte mich von ihm weg. Sagte zu mir: Es lohnt sich nicht mit einem Irren wie dem. Seien Sie vernünftig. Sie werden sich nur Ärger einhandeln. Missmutig begleitete ich ihn damals zurück in die Station, in der Margot in der hintersten Ecke des Aufenthaltsraums kauerte. Grün und blau geschlagen. Nicht zum ersten Mal. Ein Häufchen Elend, den Blick starr nach unten auf den Linoleumboden gerichtet. Wenn man sie fragte, was sich zugetragen habe, wiederholte sie mit leiser Stimme: Ich bin die Treppe runtergefallen. Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter beknieten sie, den Kerl anzuzeigen, zumindest für einige Wochen in ein Frauenhaus umzuziehen. Vergebliche Liebesmühe. Margot blieb bei ihrem Holger.

Ne blauschwarz angelaufene Leiche im Wohnzimmer

Kurz vor Mitternacht. Margots Reihenhaus.
Ich war angekommen und parkte direkt vor ihrer Garage. Margot öffnete die Türe. Sie war im Bademantel, sah ungepflegt aus. Hat sich wahrscheinlich seit einigen Tagen nicht gewaschen, mutmaßte ich.
»Henning, schön, dass du so schnell gekommen bist.«
»Du klangst sehr aufgeregt am Telefon.«
»Ja, mir geht es nicht so gut.« Margot sprach mit schwerer Zunge. Hatte Schwierigkeiten, sich zu artikulieren.
»Das sehe ich. Hast du getrunken?«
»Ein bisschen.«
»So wie du redest, Minimum eine halbe Flasche Wodka. Eher mehr.«
»Ist doch jetzt egal, Henning.«
»Margot, hier riecht es komisch. Wie ein faulender Mülleimer.«
»Komm mit. Ich muss dir was zeigen.«

Ich begleitete Margot ins Wohnzimmer. Dort lag Holger auf dem Boden. Mit aufgedunsenem Gesicht. Blauschwarz angelaufen. Mausetot.
»Hast du das Dreckschwein vergiftet?«, lautete mein erster Gedanke.
»Nein, ich habe ihn so gefunden.«
»Wann?«
»Am Mittwoch.« Margot kaute nervös an ihren Fingernägeln.
»Vor drei Tagen?« Ich riss meine Augen weit auf.
»Da hatten wir uns gestritten.«
»Nichts Neues. Und dann?«
»Er hat mich gewürgt. Bis ich kaum noch Luft bekam.«
»Der elende Mistkerl. Würde ihm am liebsten in diesem Moment noch eine verpassen.«
»Ich habe mich von ihm losgerissen und im Badezimmer eingesperrt.«
»Verständlich.«
»Nach sechzig Minuten habe ich mich wieder raus gewagt. Wollte nachschauen, ob er sich beruhigt hatte.«
»Der jähzornige Schwachkopf.«
»Und da lag er auf dem Teppich. An der Stelle, wo du ihn jetzt siehst. Ich habe nichts verändert.«
»Hast du kontrolliert, ob er noch lebte?«
»Nicht so richtig. Ich glaube aber, dass er bereits tot war.«
»So ganz sicher bist du dir aber nicht?«
»Nein.« Margots alte Augen bekamen einen feuchten Glanz.

Mein Abstinenzwunsch löst sich in Luft auf

Ich angelte mir ein Tuborg aus ihrem Kühlschrank. Mein Abstinenzwunsch löste sich damit in Luft auf.
»Was hast du dann unternommen, Margot?«
»Nichts. Ich war so froh, dass endlich Ruhe im Haus war. Nach all der Schreierei vorher.«
»Kann ich nachvollziehen. Aber nach einer Stunde musst du doch aktiv geworden sein; oder?«
»Ich habe mir eine Flasche Wodka geholt und die auf den Schreck geleert.«
»Und bist daraufhin komatös eingepennt.«
»Ja.«
»Und als du wieder wach wurdest, was war dann? Er lag ja immer noch dort. Ist schließlich nicht zu übersehen die Leiche.«
»Ich habe ferngeschaut.«
»Du hast was? TV geglotzt? Und neben dir moderte Holger vor sich hin?«
»Ich war wie gelähmt. Wusste nicht, was ich tun sollte. Habe weiter getrunken.«
»Bis heute. Und dann hast du mich angerufen.«
»Ich wusste niemanden, an den ich mich sonst hätte wenden können. Henning hilfst du mir?« Margot krallte sich mit letzter Kraft an meinem Arm fest.
»Notarzt und Rettungstransport wären natürlich nicht verkehrt gewesen. Ist nun eh zu spät. Dem Typen ist nicht mehr zu helfen. Können wir direkt den Bestatter kommen lassen.«
Margots Gesicht wurde aschfahl.
»Was sollen wir nun tun, Henning?«
»Ich werde 112 anrufen. Die werden sicherlich direkt die Bullen im Schlepptau haben. Hier liegt ja nun seit drei Tagen ein übel riechender Kadaver rum. Die werden dir schon ein paar unangenehme Fragen stellen.«
»Henning, ich habe solche Angst. Muss ich ins Gefängnis?«
»Erst mal nicht. Die Polizei wird dich halt in die Mangel nehmen. Dich wahrscheinlich für Montag aufs Revier zum Verhör zitieren.«
»Und was kann mir da passieren?«
»Weiß nicht. Bin kein Jurist. Umgebracht hast du ihn nicht. Vielleicht gibt’s Stress wegen unterlassener Hilfeleistung. Hängt davon ab, woran und wie schnell er gestorben ist. Keine Ahnung.«
»Kannst du mir einen Anwalt besorgen?«
»Ich werde nachher bei Rolf vorbeifahren. Der kennt sich mit solchen Sachen aus. Hoffe, dass der ansprechbar ist.«

Margot konnte von Glück reden. Die Obduktion ergab, dass in Holgers Kopf eine Ader geplatzt war, und er binnen Sekunden seinen letzten Atem ausgehaucht hatte. Gegen die Zusicherung, dass sie eine mehrmonatige Therapie antreten würde, verzichtete die Staatsanwaltschaft auf die Erhebung einer Anklage und stellte das Verfahren ein. Im Anschluss an die Rehabilitationsmaßnahme verkaufte Margot ihr Haus und zog in ein Seniorenheim, in dem sie seitdem ein ruhiges und zurückgezogenes Leben führt. Hin und wieder besuchen Rolf und ich sie und bringen ihr ein neues Sudokuheft mit.

Bild: von Reimund Bertrams auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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